Der Allesfresser – Wie der Kapitalismus seine eigenen Grundlagen verschlingt
28. Oktober 2024
Nancy Frasers Buch „Der Allesfresser“, erschienen im Suhrkamp-Verlag, ist eine fundierte und kritische Auseinandersetzung mit den destruktiven Auswirkungen des Kapitalismus. Der Originaltitel „Cannibal Capitalism“ beschreibt treffend den zentralen Gedanken des Werkes: den Kapitalismus als ein System, das seine eigenen Grundlagen und die Ressourcen, von denen es lebt, zerstört. Der deutsche Titel „Der Allesfresser“ ist dabei durchaus passend, obwohl er die Bildhaftigkeit des Originals nur teilweise widerspiegelt. Der Untertitel „Wie der Kapitalismus seine eigenen Grundlagen verschlingt“ ist erklärend für den Buchtitel. Fraser entwickelt eine vielschichtige Analyse, die weit über wirtschaftliche Zusammenhänge hinausgeht und den Kapitalismus als gesamtgesellschaftliches Phänomen untersucht.
Kannibalistischen Kapitalismus
Das zentrale Argument, das sich wie ein roter Faden durch das Buch zieht, ist die Frage, was passieren würde, wenn das Kapital tatsächlich für all die unentgeltlichen Leistungen, auf denen es aufbaut, bezahlen müsste: die Care-Arbeit, die ökologischen Reparaturen, den entwendeten Reichtum rassifizierter Menschen und die Nutzung öffentlicher Güter. Diese Überlegung bildet den Ausgangspunkt für eine umfassende Kritik an den kapitalistischen Strukturen und legt Frasers Verständnis von einem „kannibalistischen Kapitalismus“ dar, der in seiner Selbstzerstörungstendenz unaufhaltsam scheint.
Fraser fordert, unser Verständnis von Kapitalismus zu erweitern: Er sei nicht nur eine Wirtschaftsform, sondern ein gesellschaftliches System, das die grundlegenden Strukturen unseres Lebens prägt. Damit geht es in ihrem Buch nicht allein um ökonomische Mechanismen, sondern um die grundlegenden Ungerechtigkeiten, die der Kapitalismus in die Gesellschaft einprägt – von Umweltzerstörung bis hin zu sozialer Ungleichheit. Diese Dynamiken symbolisiert das Buch treffend durch das Bild des Ouroboros, der sich selbstverschlingenden Schlange: ein System, das sich letztlich selbst zerstört.
Ein besonders scharfer Blick fällt auf die Rolle des Rassismus und die damit einhergehenden sozialen Hierarchien. Fraser zeigt, dass rassistische Strukturen und gesellschaftliche Ungleichheit dem Kapitalismus nicht nur inhärent sind, sondern aktiv benötigt werden, um sich weiter auszubreiten. Kapitalismus, so Fraser, funktioniert wie ein Paternoster, der Reichtum nach oben transportiert und die sozialen Kosten nach unten verteilt. Dabei differenziert sie zwischen Produktion und Reproduktion: Die unsichtbare, unbezahlte Care-Arbeit – sei es in der Kindererziehung oder in der Pflege – wird dabei als Grundlage kapitalistischer Verwertungslogik offengelegt. Fraser kritisiert, dass gerade diese Strukturen während der Coronapandemie besonders ins Wanken geraten sind.
Ökologische Gerechtigkeit?
Im vierten Kapitel „Die Natur im Rachen: Warum Umweltpolitik transökologisch und antikapitalistisch sein muss“ richtet Fraser den Blick auf die ökologische Krise. Sie argumentiert, dass der Kapitalismus, durch seine unstillbare Profitgier, die natürlichen Grundlagen unseres Lebens kannibalisiert – sei es durch Ausbeutung, Enteignung oder Zerstörung. Diese Kritik an der kapitalistischen Aneignung der Natur lässt nur einen Schluss zu: Eine ernsthafte Umweltpolitik muss anti-kapitalistisch ausgerichtet sein, um tatsächlich nachhaltig zu sein. Fraser gelingt es dabei, die Notwendigkeit einer neuen Form der ökologischen Gerechtigkeit deutlich zu machen.
Die Demokratie wird ausgehöhlt
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Kritik an der Demokratie, die Fraser als eine der „verschlungenen“ Grundlagen des Kapitalismus beschreibt. Der Kapitalismus nutzt demokratische Strukturen, um sich selbst zu legitimieren und seine Macht zu festigen. Dabei, so die Autorin, wird die Demokratie zunehmend ausgehöhlt und ihre Werte zu leeren Hüllen degradiert, hinter denen sich eine prokapitalistische Agenda verbirgt. Besonders sichtbar wird dies bei den großen Tech-Unternehmen, die ihre finanzielle Macht nutzen, um politischen Einfluss auszuüben. Diese Unternehmen operieren inzwischen mit einem jährlichen Finanzvolumen, das manche Industrienationen in den Schatten stellt. Fraser kritisiert, dass die Politik diesen Einfluss oft als „marktbegründet“ darstellt und so die Macht der „unsichtbaren Hand“ des Marktes aufrechterhält – eine Metapher, die sie mit der zunehmenden Automatisierung und den Algorithmen der Künstlichen Intelligenz vergleicht.
Frasers Werk endet mit einem eindringlichen Appell: Die Zeit sei gekommen, „herauszufinden, wie man die Bestie aushungern und dem kannibalistischen Kapitalismus ein für alle Mal ein Ende machen kann.“ Sie plädiert für einen reformierten Sozialismus, bleibt dabei jedoch vage, was die konkrete Umsetzung betrifft. Diese Vision eines neuen Systems wird durch die historische Erfahrung belastet, die zeigt, dass auch der Sozialismus nicht in der Lage war, eine nachhaltige und gerechte Gesellschaft zu schaffen. Hierin liegt eine der größten Herausforderungen des Buches: Während Fraser die Zerstörungskraft des Kapitalismus treffend analysiert, bleibt unklar, wie eine wirklich nachhaltige Alternative aussehen könnte.
Eine radikale Neuorientierung vom Umgang mit der Natur
Besonders spannend ist Frasers Blick auf die Rolle der Natur. Sie hebt hervor, dass sowohl Kapitalismus als auch Sozialismus die Natur lediglich als Ressource betrachten, die für menschliche Zwecke ausgebeutet wird. Der Gedanke, der Natur eigene Rechte zuzugestehen und sie als zentralen Akteur in ein Gesellschaftssystem zu integrieren, könnte eine radikale Neuorientierung bedeuten. Erst wenn die Natur als eigenständige „Akteurin“ anerkannt wird, könnte sie die Macht übernehmen, die bisher von Tech-Konzernen dominiert wird. Diese Vision, in der natürliche Prozesse wieder eine systemrelevante Stellung einnehmen, fordert eine neue Form der gesellschaftlichen Organisation und ist eine der innovativsten Ideen des Buches.
Fazit:
Nancy Frasers *Der Allesfresser* ist ein provokantes und tiefgründiges Werk, das den Kapitalismus in seiner Gesamtheit infrage stellt und dabei auch vor grundlegenden gesellschaftlichen Strukturen nicht Halt macht. Mit klarem Blick analysiert sie die Mechanismen der Ausbeutung und zeigt auf, wie der Kapitalismus sich selbst verschlingt. Ihre Analysen sind präzise, ihre Kritik an den gegenwärtigen Systemen ist scharf. Auch wenn sie mit ihrem reformierten Sozialismus eine mögliche Antwort skizziert, bleibt der Weg in eine gerechtere Zukunft unsicher. Trotzdem liefert dieses Buch wertvolle Denkanstöße und fordert dazu auf, die Strukturen, die unsere Gesellschaft prägen, radikal zu hinterfragen. Wer bereit ist, sich auf diese tiefgehende Analyse einzulassen, wird in *Der Allesfresser* eine ebenso ernüchternde wie inspirierende Lektüre finden.