Rund 2 Mio. Palästinenser wurden im Gaza-Krieg bisher vertrieben. – Foto: hosnysala/pixabay.com

Gesellschaft & Kultur

„Der Konflikt muss von der Wurzel her gelöst werden“

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Am 7. Oktober 2023 töteten palästinensische Hamas-Terroristen bei einem Überfall 1.200 Menschen und verschleppten 250 als Geiseln in den Gazastreifen. Israel antwortete mit einem Krieg, der bis heute andauert. In dem wurden bislang über 40.000 Palästinenser getötet. Und über 20.000 Kinder gelten als vermisst.

Interview mit Johannes Zang

 

ÖkologiePolitik: Herr Zang, im Jahr 2021 schrieben Sie: „Deutschland bezeichnet sich als Freund Israels. Lässt man seinen Freund betrunken Auto fahren oder in den Abgrund rennen? Deutschland muss Israel vor sich selber schützen! Es ist eine Minute vor zwölf.“ Zeichnete sich der im Oktober 2023 ausgebrochene Gazakrieg damals schon ab?

Johannes Zang: Ich habe seit Monaten einen heiligen Zorn. Weil es seit Jahrzehnten Warnungen israelischer und palästinensischer Friedensaktivisten gibt: Wird dieser Konflikt nicht von der Wurzel her gelöst – sprich: kommt es nicht zu einem Ende der Besatzung und zu einem unabhängigen Staat für die Palästinenser –, explodiert Israel/Palästina, ja vielleicht die ganze Region. Ich selbst habe 2002 mitten in der zweiten Intifada mit zwei Deutschen aus dem belagerten Bethlehem einen dringlichen Brief an den damaligen Außenminister Joschka Fischer geschrieben. Darin hieß es: Arbeiten Sie bitte für die Schaffung eines souveränen Palästinenserstaates mit klaren Grenzen. Das ist die einzige Lösung. Nur so kann das Feuer des Fundamentalismus gestoppt und den ständigen Konflikten der Boden entzogen werden.“ Wir wurden nicht gehört. Das Friedens- und Menschenrechtslager in Israel/Palästina auch nicht. Und auch nicht Prof. Jeff Halper vom „Israelischen Komitee gegen Hauszerstörung“, der immerhin im Menschenrechtsausschuss des Deutschen Bundestages sprechen durfte.

Über den Krieg wird seit dem Ausbruch in allen Medien tagtäglich berichtet. Was hat Sie bewogen, trotzdem ein Buch über Gaza zu schreiben?

Am Anfang dieses Jahres war ich so über die deutsche Berichterstattung enttäuscht, dass ich zum Schluss kam: Ich muss das Buch schreiben, auch wenn es harte Arbeit werden wird. Denn erstens wurde und wird die Vorgeschichte – sprich: die israelische Militärbesatzung seit 1967 – in Zeitung, Radio und Fernsehen weitgehend ausgeblendet. Und zweitens haben selbst angeblich seriöse Zeitungen und Magazine das Leid der Palästinenser – seit 7. Oktober 2023 pro Tag 129 Tote im Gazastreifen! – weitgehend ignoriert und stattdessen über deutsch-jüdische Befindlichkeiten und Sorgen, den Boykott israelischer Universitäten oder pro-palästinensische Demos berichtet, die meiner Meinung nach viel zu schnell und unkritisch als „antisemitisch“ abgestempelt und kriminalisiert wurden. Kein Wunder, dass Palästinenser meinen, ihr Blut sei weniger wert und ihr Leben zähle nichts. Die dreieinhalb Monate des Schreibens haben mich dann seelisch an meine Grenzen gebracht. Übrigens: Vor wenigen Tagen hat der NDR die Ergebnisse einer Umfrage zum Vertrauen in die Berichterstattung der deutschen Leitmedien über die Lage im Gazastreifen veröffentlicht: 48 %Prozent der Befragten haben wenig oder gar kein Vertrauen. Ich gehöre dazu.

Nachdem der Konflikt inzwischen völlig eskaliert ist: Ist ein friedliches Zusammenleben überhaupt noch möglich?

Schon nach wenigen Tagen des Krieges dachte ich: Dieses grauenvolle Massaker der Hamas und anderer Milizen und diese verheerenden tagtäglichen Bombardements der israelischen Armee – selbst israelische Journalisten und manche Historiker sprechen von Genozid! – haben alle Bemühungen um Frieden und Versöhnung um 50 Jahre zurückgeworfen. Wobei man ehrlicherweise sagen muss: Seit der Annapolis-Konferenz 2007 kann von einem Friedensprozess keine Rede mehr sein. Die letzten 17 Jahre herrschte Eiszeit zwischen israelischen und palästinensischen Politikern. Doch schon Mitte November 2023 veröffentlichte Co-Chefredakteur Hillel Schenker vom „Palestine-Israel Journal“, den ich mehrfach getroffen habe, seinen Vier-Punkte-Plan hin zu einem Waffenstillstand, Kriegsende und Verhandlungsbeginn. Das gab mir ein wenig Hoffnung. Seitdem sind neue Pläne dazugekommen, auch von palästinensischer Seite, z. B. vom früheren Jerusalemer Domherrn und Theologen Naim Ateek. Und am 1. Juli 2024 versammelten sich 6.000 Friedensaktivisten in Tel Aviv. Etwa 50 Friedensorganisationen hatten dazu eingeladen. „Die Zeit ist reif“, schrieben sie in der Ankündigung, „den Krieg zu beenden, alle nach Hause zu bringen und Frieden zu stiften.“ Das ist zweifellos ein winziger Hoffnungsschimmer.

Wie sollte es nach dem Ende des Krieges in Gaza weitergehen, damit es nicht in einigen Jahren oder Jahrzehnten zu einem neuerlichen Krieg kommt?

Feuerpause und Waffenstillstand sofort! Freilassung aller Geiseln! Der israelische Friedensaktivist Gershon Baskin hat dieser Tage – und er ist nicht der Erste – einen detaillierten Plan für den Austausch vorgelegt. Diesem zufolge kommen für jede israelische Geisel 35 Palästinenser frei. Derzeit sitzen 9.900 Palästinenser – ein Allzeitrekord – in israelischen Haftanstalten, von denen einige laut dem Bericht „Welcome to Hell“ der israelischen Menschenrechtsorganisation „B`Tselems“ zu regelrechten Folterlagern geworden sind, in denen seit Oktober 2023 etwa 60 Palästinenser gestorben sind. In einem späteren Stadium auf dem Weg zu einer grundlegenden Konfliktlösung muss es meiner Meinung nach so etwas wie damals in Südafrika geben: eine Kommission für Wahrheit und Gerechtigkeit. 99 % der Juden in Israel ist das Ausmaß der israelischen Besatzung und Unterdrückung nicht bewusst, nicht einmal ansatzweise. Viele wollen es wohl auch nicht so genau wissen. Und die Palästinenser müssen sich ihrerseits den Folgen ihres Terrors stellen und dafür Verantwortung übernehmen. Am Ende des Prozesses muss Israel sich der „Nakba“ stellen: Vertreibung von rund 750.000 Palästinensern in den Jahren 1947–49 inklusive Massaker durch jüdische Untergrundmilizen und der Entvölkerung von etwa 500 palästinensischen Dörfern und 11 Stadtteilen. Am Ende dieses wohl jahrelangen Prozesses bedarf es starker Gesten des Schuldeingeständnisses, der Bitte um Vergebung und letztlich der Versöhnung. Was es bei alledem braucht: einen klaren Fahrplan mit Zeiten, Fristen und notfalls Sanktionen. Nicht nach dem Motto „ein Palästinenserstaat nach einigen Jahren“, sondern: spätestens am 1. Januar 2027 – um eine konkrete Zahl zu nennen. Damit die Palästinenser endlich ihre Zukunft aufbauen können – in Freiheit und Würde; übrigens eine Forderung des israelischen Friedens- und Menschenrechtslagers seit Jahrzehnten. Der uralte Satz des früheren lateinischen Patriarchen von Jerusalem, Erzbischof Michel Sabbah, stimmt nach wie vor: Erst wenn die Palästinenser frei und unabhängig sind, wird Israel in Sicherheit leben.“

Herr Zang, herzlichen Dank für das interessante Gespräch.

 

Johannes Zang freut sich über Einladungen zum Vorstellen seines Buchs oder zum Halten eines Vortrags.

 


Buchtipps

Johannes Zang
Kein Land in Sicht?
Gaza zwischen Besatzung, Blockade und Krieg
PapyRossa, Juli 2024
279 Seiten, 19.90 Euro
978-3-89438-835-5

Johannes Zang
Erlebnisse im Heiligen Land
77 Geschichten aus Israel und Palästina
Von Ausgangssperre bis Zugvögel
Promedia, September 2021
224 Seiten, 19.90 Euro
978-3-85371-490-4


Onlinetipps

Interview mit Johannes Zang
Nahostpolitik, Israel und Gaza: „Wir verlieren unsere Glaubwürdigkeit“
Telepolis, 06.09.2024
https://telepolis.de/-9857550

Moshe Zuckermann
Faschismus – ein jüdisches Schicksal
Overton, 31.08.2024
www.t1p.de/kelyh

David Neuhaus SJ
Zwei Staaten, ein Staat, kein Staat?
Stimmen der Zeit, 29.08.2024
www.t1p.de/1l5l9

o. V.
NRD ZAPP-Umfrage: Wenig Vertrauen in deutsche Berichterstattung zum Gaza-Israel-Krieg
NDR, 28.08.2024
www.t1p.de/nzzaq

Tamar Nafar
Auch unsere Kinder sind wertvoll
Telepolis, 26.08.2024
https://telepolis.de/-9838522

Oren Ziv
„Verweigerung ist der stärkste Akt angesichts des Krieges“
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o. V.
Gaza: 21.000 tote oder vermisste Kinder befürchtet
Vatican News, 24.06.2024
www.t1p.de/s01s5

Moshe Zuckermann
Ist die deutsche Politik noch ganz bei Trost?
Deutschlandfunk, 28.05.2024
www.t1p.de/z1jho

o. V.
Omri Boehm: Israels Vorgehen in Gaza ist keine Selbstverteidigung
Jüdische Allgemeine, 20.03.2024
www.t1p.de/k9zae


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