„Integration muss gelebt werden“
12. August 2024
Der Islamismus missbraucht den Islam. Und dass er in Deutschland erstarkte, ist auch das Ergebnis einer misslungenen Integrationspolitik. Dies behauptet eine türkisch-stämmige Rechtsanwältin, die 2017 in Berlin die liberale Ibn-Rushd-Goethe-Moschee mitgründete und sich dort seither als Deutschlands erste Imamin engagiert.
Interview mit Seyran Ateş
ÖkologiePolitik: Frau Ateş, letztes Jahr schlossen Sie Ihre Moschee. Warum?
Seyran Ateş: Nach dem bestialischen Angriff auf das Musikfestival in Israel durch die Hamas im Oktober 2023 haben wir als liberale Moschee und Gemeinde, deren Hauptinteresse Friedensarbeit ist, ein klares Statement für Israel und Palästina ohne Hamas und radikale Juden abgegeben. Kurz danach erfuhren wir von einem Journalisten, dass eine Gruppe von 7 Männern, die zum „Islamischer Staat Provinz Khorosan“ (ISPK) gehören, im Gefängnis sitzt, weil sie Anschläge gegen jüdische Einrichtungen und auch gegen unsere Moschee geplant hatten. Die negativen Ereignisse haben sich dermaßen überschlagen und die Gefahr kam uns so nah, dass wir uns nicht mehr sicher gefühlt haben. Anfang 2024 haben wir uns dann höhere Sicherheitsvorkehrungen überlegt und wieder geöffnet. Allerdings können uns Menschen, die wir nicht kennen, nur noch mit einer vorherigen Anmeldung besuchen.
Vor 16 Jahren kritisierten Sie in Ihrem Buch „Der Multikulti-Irrtum“ die deutsche Integrationspolitik. Worin lag der Irrtum?
Zunächst müssen wir immer wieder daran erinnern, dass Deutschland sich nicht als Einwanderungsland, sondern nur als vorübergehender Gastgeber für Arbeiter aus Schwellenländern verstanden hat. Daher auch der Begriff „Gastarbeiter“. „Gäste“ verlassen irgendwann das Land. Als die Jahre vergingen, haben konservative Politiker, vorneweg Helmut Kohl, jede Gelegenheit genutzt, um zu erklären, dass Deutschland kein Einwanderungsland sei. Obwohl die Realität bereits in den 1970er-Jahren ein ganz anderes Bild abgab. Deutschland war de facto schon lange ein Einwanderungsland. Linksliberale und sozialdemokratische Politiker hingegen haben die „Gastarbeiter“ wie unmündige Menschen behandelt. Sie vertraten die Auffassung, man solle deren Kultur, Traditionen und Religion einfach so hinnehmen, wie diese es wollen. „Ausländerfreundliche“ Deutsche kümmern sich gerne um Minderheiten und entwickeln gerne eine gewisse Haltung von „Artenschutz“ für Menschen mit Migrationshintergrund. Sie meinen, eine „multikulturelle Gesellschaft“ würde sich gut entwickeln, wenn alle Menschen friedlich nebeneinander leben. Mit dem Ergebnis, dass Parallelgesellschaften entstanden, in denen archaisch-patriarchale Traditionen blühen und gedeihen konnten – zum Nachteil der Mädchen und Frauen.
Hat sich die Situation seither verbessert oder verschlechtert?
Die Situation hat sich definitiv verschlechtert. Lange Zeit wurde das Wort „Parallelgesellschaft“ in der Debatte um Integration schlichtweg abgelehnt. Und während man in Talkshows und Leitartikeln um Begriffe rang und die Existenz von Parallelgesellschaften leugnete, wuchsen überall in Deutschland radikal-muslimische Gegengesellschaften.
Was sollte für eine bessere Integration vor allem getan werden?
Wir benötigen für das gesamte Land eine radikale Bildungsreform. Unsere Kinder sollten sehr früh darauf vorbereitet werden, in einer bestens gestalteten Einwanderungsgesellschaft zu leben. Dazu müssen rechtlich die Voraussetzungen für eine Einwanderungsgesellschaft geschaffen werden. Und alle sollten die ersten zwei Jahre in der Schule nur Lesen, Schreiben, Rechnen und Demokratie lernen.
Ist die Doppel-Staatsbürgerschaft einer besseren Integration dienlich?
Nein, zwei Pässe zu haben, reicht nicht aus, um sich innerlich mit zwei Heimaten zu identifizieren. Aktuell behaupte ich, dass sogar die Mehrzahl der neuen Deutschen nicht die deutsche Staatsangehörigkeit annimmt, sondern sich nur ein zweites Dokument holt, welches ihr Leben in Deutschland und bei Reisen erleichtert. Integration kann nicht nur über Papiere und theoretisch erfolgen. Integration muss gelebt werden. Es gibt Menschen, die nur einen fremden Pass haben und besser integriert sind als solche, die den deutschen Pass angenommen haben.
Frau Ateş, herzlichen Dank für das interessante Gespräch.
Buchtipps
Seyran Ateş
Selam, Frau Imamin
Wie ich in Berlin eine liberale Moschee gründete
Ullstein, Juni 2017
304 Seiten, eBook 16.99 Euro
978-3-8437-1552-2
Seyran Ateş
Der Multikulti-Irrtum
Wie wir in Deutschland besser zusammenleben können
Ullstein, November 2008 / August 2011
288 Seiten, eBook 9.99 Euro
978-3-8437-0175-4
Onlinetipps
Mernissi-de Gouges Bildungs- und Sozialwerk gUG
Das Demokratie-Mobil
www.demokratie-mobil.berlin
Ibn Rushd Goethe Moschee gGmbH
Ibn Rushd Goethe Moschee
www.ibn-rushd-goethe-moschee.de
Interview mit Seyran Ateş
Imamin Ateş lässt sich nicht unterkriegen
ZDF, 26.01.2024
www.t1p.de/t96gi
Anna Reimann
Plädoyer für einen muslimischen Luther
Spiegel, 30.10.2007
www.t1p.de/4bx8p