Irrwege, die vom Ziel wegführen
23. Juli 2024
Die linksidentitäre Bewegung gewinnt seit Jahren an Einfluss. Der Psychologe Bernhard Hommel, Forscher und Dozent an zwei Universitäten sowie Senator der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina, hat ihre Theorie und Praxis in seinem Buch „Gut gemeint ist nicht gerecht“ gründlich analysiert.
von Günther Hartmann
Vereinfacht ausgedrückt, geht es der linksidentitären Bewegung darum, die Situation von Menschen zu verbessern, die aufgrund ihres Geschlechts, ihrer Hautfarbe oder ihrer sexuellen Neigungen diskriminiert werden. Gegen dieses Ziel hat Hommel auch gar nichts einzuwenden, wohl aber gegen die Methoden, die von ihr zur Erreichung dieses Ziels angewendet werden. Denn in denen entdeckt er sehr viel Willkür und Unsinn. Dadurch bewirken sie auch oft das Gegenteil von dem, was sie eigentlich anstreben.
Plädoyer für Wissenschaftlichkeit und Vernunft
Hommel stellt der linksidentitären Gedankenwelt wissenschaftliche Erkenntnisse und logisches Denken gegenüber: „Um beurteilen zu können, ob eine Therapie nützlich ist, sind dreierlei Dinge wichtig zu wissen: ob das eigentliche Problem gut und vernünftig beschrieben worden ist; ob die Therapie tatsächlich geeignet ist, dieses Problem zu verringern; und ob der dadurch erzielte Zustand tatsächlich besser ist als der vorherige.“ Diese Fragen dienen Hommel als Leitfaden seiner gründlichen Untersuchung.
Zunächst stellt er fest, dass die linksidentitäre Agenda keine politischen Visionen für die gesamte Gesellschaft anbietet, sondern nur Reaktionen auf partikulare Interessen gesellschaftlicher Gruppierungen. Vieles ist dabei nicht zu Ende gedacht. Oft erweist sich ein angeblich zu lösendes Problem bei näherer Analyse als völlig unklar und die vorgeschlagene gesellschaftliche Therapie aus psychologischer Sicht als kontraproduktiv. Zudem werden auffällig oft Korrelation und Kausalität verwechselt.
Doch obwohl die linksidentitäre Gedankenwelt zutiefst unwissenschaftlich ist, wird ihr aufgrund ihrer positiven Ziele oft geglaubt und gefolgt. Doch wie schon Kurt Tucholsky sagte: „Das Gegenteil von gut ist nicht böse, sondern gut gemeint.“ Hommel stellt in seinem Buch eine Fülle wissenschaftlicher Studien vor, die dies klar aufzeigen. Denn er ist der festen Überzeugung, dass sich die Probleme ohne tiefgreifende Kenntnis psychologischer Mechanismen nicht wirklich lösen lassen. Und er zeigt die methodischen Fehler linksidentitären Autoren wie z. B. Alice Hasters.
Hommel fordert: „Problem, Therapiemethode und Zielzustand müssen nachvollziehbar und logisch widerspruchsfrei sein.“ Und plädiert für den kategorischen Imperativ Immanuel Kants als Leitlinie: „Eine Handlung ist dann moralisch, wenn sie einer Maxime folgt, die für alle, jederzeit und ohne Ausnahme anwendbar ist.“
Kritik an Sprachreglementierung und Sprachumbau
Auch der Sprache widmet Hommel ein langes Kapitel. Denn die linksidentitären Aktivisten sehen sie als Ursache vieler gesellschaftlicher Probleme – und als Schlüssel zu deren Lösung. Dabei betrachten sie die Sprache wie ein Mediziner: Sie nehmen an, bestimmte Wörter würden sich wie ein Virus verhalten, das Denken infizieren und infiziertes Denken weiterverbreiten. Deshalb soll die Sprache desinfiziert werden, sollen bestimmte Wörter radikal geächtet und tabuisiert werden. Und das geschieht auch – obwohl diese These nie wissenschaftlich bestätigt wurde und vieles gegen sie spricht.
Doch nicht nur einzelne Wörter sollen aus dem Sprachgebrauch verschwinden, auch die Sprache selbst soll radikal umgebaut und „geschlechtergerecht“ werden. Hier führt Hommel eine interessante Studie an: Versuchspersonen mit einer positiven Einstellung zum „Gendern“ unterschieden beim Lesen und Hören von Texten nicht zwischen dem grammatikalischen und dem biologischen Geschlecht, Versuchspersonen mit einer negativen Einstellung zum „Gendern“ taten dies dagegen schon.
Daraus lässt sich folgern: Eine allgemeine Durchsetzung des „Genderns“ würde gar keine gesellschaftliche Verbesserung bringen, weil die große Mehrheit der Bevölkerung sowieso klar zwischen dem grammatikalischen und dem biologischen Geschlecht unterscheidet und diese nicht verwechselt. Ob allerdings die Versuchspersonen, die das „Gendern“ befürworten, das tun, weil sie sich mit dem Unterscheiden zwischen grammatikalischem und biologischem Geschlecht schwertun, oder ob sie es sich abgewöhnt haben, weil sie die „Gender-Theorien“ für wahr halten, bleibt allerdings offen.
Sehr kritisch sieht Hommel auch, dass im linksidentitären Denken subjektive Gefühle das entscheidende Kriterium sind. Was als rassistisch, diskriminierend oder frauenfeindlich zu gelten hat, entscheiden ausschließlich die Befindlichkeiten der betroffenen Person. Die Intention des Senders einer Botschaft und der Kontext der Situation bleiben völlig ausgeblendet. Für Hommel ist das keine akzeptable Maxime für gesellschaftliches Handeln. Er begründet dies unter anderem mit einem Vergleich aus dem Fußball: Das wäre so, wie wenn grundsätzlich die Verlierer von Zweikämpfen entscheiden dürften, ob ein Foul vorlag und es dafür Freistoß oder Elfmeter gibt.
Plädoyer für Betonung der Gemeinsamkeiten
Nachdem er die linksidentitäre Gedankenwelt gründlich analysiert hat, fragt Hommel am Ende seines Buchs: Was nun? Und fordert einen Bewusstseinswandel: „Menschen haben viel mehr Merkmale als Gruppenzugehörigkeiten, und so ist die Reduzierung einer persönlichen Identität auf die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe eine drastische Unterschätzung des Reichtums der eigenen Identität. Aus diesem Grund führt die Kernidee des identitätspolitischen Ansatzes zu einer Verarmung der Wahrnehmung sowohl von uns selbst als auch von anderen. Und damit zu einer systematischen und folgenreichen Unterschätzung unserer Gemeinsamkeiten mit unseren Mitmenschen.“
Hommels Fazit: „Identitätspolitische Ansätze sind zur Schaffung größerer sozialer Gerechtigkeit völlig ungeeignet, in vielen Fällen sogar kontraproduktiv. Die Heilsversprechungen der Identitätspolitik sind in Wahrheit leer. Der identitätspolitische Kaiser ist nackt, aber niemand im Publikum traut sich etwas zu sagen, weil das den Ruf eines konterrevolutionären ‚Rechten‘, Spießers oder Rassisten einbringen und einen Shitstorm entfachen könnte, der womöglich den Job und Freunde kostet. Wenn wir mehr soziale Gerechtigkeit haben wollen, müssen wir uns neue Strategien dafür ausdenken.“
Wie diese Strategien aussehen könnten, skizziert Hommel im Schlusskapitel grob auf. Er betont dabei, dass es entscheidend sein wird, welches Menschenbild wir zugrunde legen. Es sollte realistischer, psychologisch plausibler und komplexer sein als das linksidentitäre. „Der Zusammenhalt einer Gesellschaft entsteht letztlich durch das Wahrnehmen und Erkennen von Gemeinsamkeiten“, findet Hommel. „Je mehr wir uns auf wenige Merkmale, unter Umständen auf nur ein Merkmal als das für unsere Identität entscheidende reduzieren, desto weniger Merkmalsüberlappungen mit anderen werden sich ergeben.“
Plädoyer für eine bessere Diskussionskultur
Für ein gutes und produktives Zusammenleben sind zudem Respekt und Toleranz wichtig. Und eine „symmetrische Kommunikation“ – womit Hommel eine Kommunikation auf Augenhöhe meint. „Die Symmetrie ist in kaum einem identitätspolitischen Beitrag zu finden“, kritisiert er. „Die Autoren fordern größtmögliche Sensibilität im Umgang mit Angehörigen diskriminierter Gruppen, teilen aber gleichzeitig sehr rustikal aus gegenüber Angehörigen sogenannter privilegierter Gruppen, wie etwa weißen alten Männern. Gleichzeitig wird genau diesen Gruppierungen das Recht an jedwedem Widerwort abgesprochen.“
Das ist undemokratisch und autoritär. „Diskussionen auf Augenhöhe haben zumindest das Potenzial herauszufinden, was für uns alle als gesellschaftliche Gemeinschaft eine richtige Lösung sein könnte“, betont Hommel. „Also etwas, was im Sinne des Kant’schen kategorischen Imperativs eine gute, gerechte Leitlinie für uns alle sein könnte, weil es eben die Perspektiven vieler einigermaßen berücksichtigt.“
Deshalb lehnt Hommel die linksidentitäre Radikalität entschieden ab und stellt fest: „Eine ‚woke‘ Einstellung hat das Potenzial, die Spaltung unserer Gesellschaft voranzutreiben und Befürworter von mehr sozialer Gerechtigkeit abzuschrecken, statt die gesamte Bevölkerung so gut wie möglich einzubinden.“ Und auch viele Befürworter einer ökologischen Transformation, sollte man hinzufügen.
Bernhard Hommel
Gut gemeint ist nicht gerecht
Die leeren Versprechen der Identitätspolitik
Westend, März 2023
224 Seiten, 22.00 Euro
978-3-86489-393-3
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www.t1p.de/gdezi