Kehrtwende - Justin Luebke/Unsplash

ÖDP-Politik

Wir brauchen eine umfassende Kehrtwende und eine neue, resiliente Gesellschaftsordnung!

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Wachstumskritik war für mich bereits in der Schule ein Begriff. Bei mir war es der römische Dichter Horaz, der mich zum Nachdenken gebracht hat. Er beschreibt in seinem Gedicht „Das Glück des rechten Maßes“, wie wir Menschen die Natur bedrängen: „dem Volk der Fische dünket sein Reich verengt durch eure Bauten“. Zweitausend Jahre und einen ÖDP-Parteitag später beschäftige ich mich nun als Vorsitzende unserer Partei mit dem gleichen Thema – in der Hoffnung, dass die Menschheit endlich etwas über die Grenzen des Wachstums verstehen lernt. Nachdem ich vor 13 Jahren selbst Mutter geworden bin, wurden meine literarischen und philosophischen Sorgen schlagartig zu reeller Angst um meine Kinder und um die Zukunft der künftigen Generationen. Wir müssen ein Umdenken, eine Kehrtwende schaffen, wenn wir unsere bröckelnde Gesellschaft und unsere leidende Welt wieder einfangen wollen. Uns läuft die Zeit davon – und das immer schneller.

 

Die Kehrseite der modernen Welt

Noch nie hat sich der Mensch in so hoher Geschwindigkeit technologisch weiterentwickelt wie in den letzten Jahrzehnten. Wir sind noch nie in der Geschichte so schnell gereist, konnten nie zuvor umfassende Informationen per Knopfdruck austauschen und haben noch zu keiner Zeit vorher unsere Umwelt in vergleichbarer Geschwindigkeit und Effizienz verändert und ausgebeutet.

 

Das Grundproblem – die soziale Krise

Mit diesen rasanten Änderungen sind die Anforderungen an uns Menschen in fast allen Lebensbereichen deutlich gestiegen und das hat gravierende Folgen: Viele Menschen müssen heute permanent auf Hochtouren funktionieren, damit sie diesen Anforderungen noch gerecht werden. Der Segen der Geschwindigkeit ist längst zum Fluch für viele Menschen in den verschiedensten beruflichen Lebensrealitäten geworden. Ein alltägliches Beispiel, das diese neue globalisierte Welt aus verschiedenen Blickwinkeln verstehen lässt, sind die PostbotInnen und die Paketdienste. Dass Zeitungen, Briefe und Pakete heute häufig binnen weniger Stunden geliefert werden können, empfinden viele Kunden als Verbesserung. Die berufliche Lebenswirklichkeit der Menschen aber, die diese Arbeit erbringen müssen, hat sich rasant und dramatisch verschlechtert.

Die Globalisierung und die Dominanz neoliberaler Wirtschafts- und Standortpolitik hat die einst robusten Sozialsysteme vieler Staaten in wenigen Jahrzehnten ausgehöhlt. Die Anzahl der Menschen, die im Dauerstress leben und vom Verlust des Arbeitsplatzes bedroht sind, steigt ständig. Viele Menschen machen unbezahlte Überstunden, um den an sie gestellten Anforderungen nachzukommen. Der Reallohnverlust der letzten Jahrzehnte verursacht bei immer mehr Menschen permanenten Stress aufgrund existenzieller Sorgen und Ängste.

Gleichzeitig sorgen die durch neoliberale Wirtschaftspolitik umgestalteten Steuersysteme dafür, dass die großen Konzerne und die Reichsten unter uns viel zu wenig Steuern zahlen und keinen adäquaten Beitrag für eine stabile Gesellschaftsordnung leisten müssen. Die Schere der Ungleichverteilung öffnet sich stetig und führt täglich zu einer noch größeren Kluft.

 

Die drei zusätzlichen Krisen

Außer diesem Grundproblem sind wir von drei weiteren großen Krisen betroffen:

  • Die Klimakrise mit ihren verheerenden Auswirkungen.
  • Die Gesundheits- und Pflegekrise, die mit der Covid-Pandemie an die Oberfläche kam und verschärft wurde.
  • Die Krise der globalen Friedensordnung, die mit dem Angriffskrieg Russlands in Frage gestellt wird.

 

In Anbetracht dieser Probleme ist es mehr als verständlich, dass das Vertrauen vieler Menschen ins „System“ seit Jahren bröckelt und wir in der westlichen Welt von einer übergeordneten Krise der demokratischen Gesellschaftsordnung sprechen können.

Unser Dilemma geht aber letztlich viel weiter. Es ist höchste Zeit, dass wir uns den global um sich greifenden Realitätsverlust der modernen Menschheit vor Augen führen:

  • Wir Menschen verbrauchen in wenigen Monaten mehr Ressourcen, als uns unsere Erde in einem Jahr zur Verfügung stellen kann.
  • Wir leben in einer Welt der zum Himmel schreienden Ungerechtigkeit, in der uns das Gefühl für das rechte Maß gänzlich abhandengekommen ist. So verbrauchen die reichsten 10 Prozent der Menschheit etwa die Hälfte aller Ressourcen und Energie und zeichnen für die damit einhergehenden Klimaschäden verantwortlich.
  • Unser starker Glaube in das Wirtschafts- und Finanzsystem mit seinem Wachstumsversprechen ersetzt unseren Glauben an eine höhere göttliche oder spirituelle Instanz. Nüchtern betrachtet glauben wir in unserer Raub- und Konsumgesellschaft lieber an das unendliche Wachstum und das Versprechen des Reichtums als daran, dass wir unseren nachfolgenden Generationen gegenüber verantwortlich sind.
  • Es ist Zeit uns einzugestehen, dass wir als Kollektiv in unserer Art zu leben jeglichen Bezug zur Realität – der Natur und unseren Mitmenschen – verloren haben.

 

Es braucht eine neue, resilientere Gesellschaftsordnung

Resilienz – wobei der Begriff hier stark vereinfacht auf die „Widerstandsfähigkeit gegen ungeeignete Einflüsse von außen“ reduziert wird – kann ein entscheidender Hebel sein, um diese Krisen mit ihren zahlreichen Stressfaktoren besser bewältigen zu können.

Wir dürfen aber nicht – aus einer neoliberalen Haltung heraus – den ohnehin stark gestressten Menschen einem zusätzlichen Resilienz-Training unterwerfen, um ihn noch weiter „abzuhärten“ oder ihm ein noch „dickeres Fell“ zu verpassen.

Wenn wir als freie demokratische Gesellschaft widerstandsfähig werden wollen, müssen wir uns auch als gerechte und anteilnehmende Gesellschaft verstehen, die sich um die am stärksten Benachteiligten unter uns kümmert und das Wohl der Gemeinschaft zum Ziel hat. Die Wirtschaft und die Politik haben dem Menschen und seiner Umwelt zu dienen und nicht umgekehrt.

Wir sollten uns dringend davon verabschieden, von „Kursanpassungen“ zu reden. Vielmehr werden wir eine umfassende Kehrtwende hinlegen müssen, wenn wir das Überleben der Menschheit sichern wollen. Es braucht ganz grundlegende Veränderungen!

 

Weniger ist mehr – die Kehrtwende!

Folgende Änderungen werden sicherstellen, dass die Politik und die Wirtschaft in Zukunft für die Menschen da sind.

Weniger Quantität – mehr Qualität!
Sofortige Abkehr von der quantitativen Wachstumsfixierung der Wirtschaft: Das permanente „höher, weiter, mehr“ hat uns genau in das gegenwärtige Dilemma geführt und unsere Gedanken über Generationen so stark geprägt, dass sich viele von uns eine Umkehr gar nicht mehr vorstellen können. Wir brauchen ein Mehr an Qualität bei den Dienstleistungen und Produkten und ein radikales Weniger bei den Wegwerfprodukten. Geplante Obsoleszenz muss in die Vergangenheit verbannt werden. 

Weniger Korruption – mehr Politik für die Menschen
Konsequentes Verbot für politische Parteien und Entscheidungsträger, Geld von Verbänden, Unternehmen oder Lobbyisten anzunehmen. Verankerung von unerlaubter Spendenannahme im Strafgesetzbuch mit wirksamen Strafen für Organisationen und die handelnden Personen. Die Folge ist weniger Raubbau an der Natur und an den Sozialsystemen und im Gegenzug mehr Politik für uns Menschen, mehr Vertrauen, Sicherheit und Lebensqualität.

Weniger Ich – mehr Wir
Das Streben des Einzelnen nach „mehr“ hat uns dorthin gebracht, wo wir heute stehen. Trotz unseres Reichtums sind wir eine unglückliche Gesellschaft, weil wir im ständigen Wettbewerb unsere Bedürfnisse nach Nähe und Zugehörigkeit nicht ausreichend stillen können. Mit einer gemeinwohl-orientierten Gesellschaftsordnung haben wir die Chance, das „Wir“ wieder als selbstverständliche Haltung zu kultivieren und attraktiv zu machen.

 

Abkehr vom Egoismus, von gekaufter Politik, und von der Wachstumsfixierung!

Diese drei Schalthebel müssen umgelegt werden, damit wir in eine neue, verheißungsvolle Zukunft blicken können. Wenn uns als Gesellschaft in diesen Punkten ein Paradigmenwechsel gelingt, stellt sich nicht mehr die Frage, ob wir einen gesunden Wandel hinbekommen. Wir werden vielmehr stolz sein, dass wir als Gesellschaft auch den anderen Herausforderungen unserer Zeit begegnen können. Wie schnell schaffen wir es und mit wieviel Freude werden wir mitmachen und Verantwortung übernehmen?

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