Sündenböcke: Einer der mächtigsten Impulse
6. April 2022
Rechts- und Linksidentitäre arbeiten mit klaren Feindbildern. Macht gerade das sie für viele Menschen so anziehend? Der französische Kulturphilosoph René Girard liefert erhellende Antworten. Er hat sich wie kein anderer mit dem Sündenbock-Mechanismus beschäftigt, hält ihn für ein die Menschheitsgeschichte prägendes Ritual – und für einen großen Schwindel.
von Günther Hartmann
Der Begriff „Sündenbock“ geht auf ein altjüdisches Ritual zurück: Ein Ziegenbock wird vom Hohepriester symbolisch mit den Sünden der Israeliten beladen und in die Wüste gejagt. Später wird das Ritual geändert, der Ziegenbock zu einer Felsklippe geführt und von dort in die Tiefe gestoßen. Aus heutiger Sicht mag das vielleicht als Tierquälerei eingestuft werden, doch aus damaliger Sicht war es ein großer humanitärer Fortschritt. Denn das Ritual war in allen archaischen und antiken Kulturen weit verbreitet, wurde dort jedoch nicht an Tieren, sondern an Menschen ausgeübt.
René Girard sieht in dem Ritual einen Mechanismus, um das Eskalieren von Konflikten innerhalb einer Gemeinschaft einzudämmen. Denn Konflikte entstehen naturgemäß zuerst im Nahbereich: mit denjenigen, mit denen man in engem Kontakt lebt. Es gibt Streit, es entstehen Spannungen, die sich steigern, die immer schwerer zu kontrollieren sind und schließlich in Gewalt münden. Auf dieses Dauerproblem muss eine „nachhaltige“ Lösung gefunden werden. Und als Lösung diente das „Sündenbock“-Ritual. Aber woher kommt überhaupt diese negative Dynamik? Und warum ist sie so stark und omnipräsent?
Mimetisches Begehren
Girard geht davon aus, dass der Mensch zwar angeborene Verhaltensweisen hat, deren ursprünglicher Sinn im Laufe der Evolution bzw. beim Bilden von komplexeren Gemeinschaften aber meist verloren ging. Das Verhalten wird stattdessen erst beim Heranwachsen durch das Nachahmen von Vorbildern im sozialen Umfeld angeeignet. So verhält es sich auch mit dem Begehren: Der orientierungslose Trieb erhält erst durch die Nachahmung des Begehrens der anderen seine Objekte. „Mimetisches Begehren“ nennt Girard dies.
Damit beginnt aber ein großes Problem: Wenn alle Mitglieder einer Gruppe das Gleiche begehren, werden sie zwangsläufig zu Konkurrenten. Neid, Eifersucht und Missgunst entstehen. Und auch diese Verhaltensweisen werden unbewusst imitiert. Girard nennt dies „Mimetische Rivaltität“. Durch die ständige gegenseitige Nachahmung schaukeln sich die Konflikte hoch, bis ein Spannungsgrad erreicht wird, bei dem ein kleiner Funke genügt, um eine Explosion auszulösen, eine plötzliche Entladung angestauter Aggression in einem Rausch von Gewalt.
Religiöses Denken in archaischen Kulturen ist vor allem ein Suchen nach Antworten, um das zu verhindern oder zumindest in geordnete Bahnen zu lenken. Und es setzt sich ein äußerst wirksames Lösungskonzept durch, das aus dem Jeder-gegen-jeden ein Alle-gegen-einen macht. Ein Lösungskonzept, das die interne Spannung und das Gewaltpotenzial künstlich polarisiert und dann kanalisiert: durch einen „Sündenbock“, dem man alle Schuld an der Misere anlastet und dann lyncht. Die Gewaltspirale ist damit fürs Erste unterbrochen, die aggressive Angespanntheit weicht einer allgemeinen Entspanntheit und Einmütigkeit, der innere Friede ist wieder hergestellt.
Antike Mythologie
Girard belegt seine Thesen mit zahlreichen Mythen, vor allem aus der europäischen Antike. So schrieb der griechische Schriftsteller Philostratos Ende des 2. Jahrhunderts n. Chr. eine Biografie des berühmten Weisen Apollonius von Tyana. In einer der Geschichten wird dieser in die Stadt Ephesos gerufen, die seit Längerem von einer geheimnisvollen Epidemie befallen ist. Und er verspricht Abhilfe:
„‚Seid zuversichtlich! Noch heute werde ich der Seuche ein Ende machen!‘ Auf diese Worte hin führte er die ganze Jugend vor das Theater, wo das Standbild des Apotropaios errichtet worden war. Hier sahen sie einen alten Mann, der zu betteln schien und kunstfertig mit den Augen zu blinzeln verstand. Er trug einen Ränzel mit einem Stück Brot darin, war in Lumpen gehüllt und hatte ein schmutziges Antlitz. Apollonius ließ diesen Mann von den Ephesern umringen und rief: ‚Hebt Steine in großer Menge auf und bewerft damit den Feind der Götter!‘ Die Epheser wunderten sich über diesen Befehl und hielten es für grausam, einen so armseligen Fremdling zu steinigen, der jammerte und um Erbarmen flehte. Apollonius aber ließ nicht locker und feuerte sie an, auf den Mann einzudringen und ihn nicht fliehen zu lassen. Daraufhin begannen ihn einige aus der Ferne zu beschießen, und als nun der Fremdling, der zuerst nur zu blinzeln schien, auf einmal aufblickte und Augen voll Feuer zeigte, erkannten die Epheser in ihm den bösen Geist und steinigten ihn jetzt so, dass ihn bald ein Hügel von Steinen begrub.“
Als die Bürger ihre anfänglichen Skrupel überwunden haben, reagieren sie sich hemmungslos an dem fremden Bettler ab. Danach ist die vorher vergiftete Atmosphäre plötzlich gereinigt, die geheimnisvolle Epidemie verschwunden. Und deshalb sind sich schließlich alle sicher, richtig gehandelt zu haben. Durch den gemeinsamen Lynchmord ist ihre Stadt vom Übel befreit.
Christliche Evangelien
Auch der Kreuzestod Jesu folgt genau dieser grausamen Logik. Seine Unkonventionalität stempelt ihn zum verdächtigen Außenseiter, zum idealen „Sündenbock“. Der aufgeheizte Mob verlangt seinen Tod – und bekommt ihn. Handelt es sich bei den Evangelien also im Prinzip wieder um das gleiche uralte Schema? Nicht ganz, denn es gibt einen entscheidenden Unterschied: Sie schildern Jesus nicht als Schuldigen, sondern die Vorgänge aus seiner Perspektive, aus der Perspektive des Opfers, sodass jedem klar werden muss, dass hier ein Unschuldiger hingerichtet wird.
Das ist völlig neu. In den antiken Mythen sind immer die Verfolger im Recht und die Verfolgten im Unrecht. In den Evangelien wird mit dieser Tradition radikal gebrochen, ja die Logik auf den Kopf gestellt. Der Sündenbock-Mechanismus wird durch den detaillierten Hintergrundbericht gnadenlos enttarnt, als verlogener Trick entlarvt. Durch diese Aufklärung büßt er seine Legitimation als Befriedungsmittel ein.
Dabei werden die Geschehnisse nicht verdreht. Im Gegenteil: die befriedende Wirkung von Jesu Tod wird im Lukasevangelium sogar extra betont: „An diesem Tag wurden Pilatus und Herodes Freunde; zuvor waren sie Feinde gewesen.“ (Lukas 23,12) Der Sinn des Opferrituals wird nicht geleugnet, aber eben auch nicht gutgeheißen und mystifiziert, sondern nüchtern beschrieben – und durch den Kontext entmystifiziert. Was eine mythische Beschreibung als göttliches Wunder stilisieren würde, wird von den Evangelien ganz schlicht als Unmenschlichkeit geschildert.
Das Illusionsprinzip ist für die Wirksamkeit des Opferrituals wesentlich. Die Mythen sind sich ihrer eigenen Gewalt und Ungerechtigkeit nicht bewusst, weil sie ihre Opfer immer dämonisieren und grundsätzlich als schuldig darstellen. Die Verfolger dürfen im Opfer nicht den Menschen sehen und müssen sich über ihr eigenes Tun weitgehend im Unklaren bleiben. In diesem Kontext werden Jesus letzte Worte verständlich: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ (Lukas 23,34)
Schon vorher geht es Jesus in seinem Wirken immer wieder um die Überwindung des Sündenbock-Mechanismus. Bekanntestes Beispiel dafür ist wohl die Erzählung von der Verhinderung einer Steinigung. Jesus rettet die Ehebrecherin vor den Schriftgelehrten, Pharisäern und der aufgebrachten Menge mit den Worten: „Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein!“ (Johannes, 8,3–11)
Der erste Stein ist das große Problem. Apollonios versucht, die Hemmschwelle davor zu senken. Jesus versucht, sie zu erhöhen. Warum ist der erste Stein so entscheidend? Weil er noch kein Vorbild hat, dem dann einfach nachgeeifert werden kann. Wenn dieser Damm bricht, dann gibt es kein Halten mehr. Je mehr Steinwürfe folgen, je mehr Vorbilder es werden, desto schneller wird der Rhythmus der Steinwürfe.
Girard betont immer wieder den unterschiedlichen Umgang mit der Wahrheit bei den Mythen und den Evangelien: Die Evangelien sind transparenter. Sie beschreiben die Vorgänge sehr präzise und detailliert, um die in ihnen liegende Logik verständlich zu machen. Die Mythen dagegen leben von ihrer Unverständlichkeit, von der Verschleierung des Wesentlichen. Wer die Evangelien liest, lernt etwas über die Mythen. Wer die Mythen liest, lernt nichts über die Evangelien.
Natürlich ist der subversive Perspektivenwechsel der Evangelien aus jüdischer Sicht so neu nicht. Die komplexe Thematik wurde offensichtlich sehr früh durchschaut. Schon bei den Zehn Geboten geht es nicht allein um konkrete Handlungen, sondern ganz klar auch um das rivalisierende Begehren: „Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus. Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib, Knecht, Magd, Rind, Esel noch alles, was dein Nächster hat.“ (2. Mose 20,17)
Das jüdische Volk, selbst oft Opfer von Vertreibung und Unterdrückung durch benachbarte Völker, besaß eine ungewöhnliche Hellsichtigkeit für die Logik psychosozialer Prozesse und Opfermechanismen. Und es besaß die Größe, das Durchschaute nicht zum eigenen Vorteil zu instrumentalisieren, sondern aus Gründen der Wahrheit und Menschlichkeit radikal abzulehnen. Natürlich ist die im Alten Testament geschilderte Welt nicht weniger gewalttätig und grausam wie die der Mythen, aber deren Interpretation ist eben eine ganz andere: eine objektivere.
Altes und Neues Testament nehmen die gleiche ablehnende Haltung gegenüber der mytischen Praxis von Ausstoßung und willkürlicher Gewalt ein. Der Wille der Menge ist nicht automatisch der Wille Gottes – im Gegenteil. Im jüdischen Talmud kann man sogar lesen: „Wenn jedermann einwilligt, einen Angeklagten zu verurteilen, lasst ihn frei, er muss unschuldig sein.“
Allerdings bleiben im Judentum alle revolutionären Erkenntnisse immer auf die eigene Religion und das eigene Volk beschränkt. Eine missionarische Verbreitung und Bekehrung ist ihm fremd. Ganz anders das Christentum. Seine Ausbreitung führt zum Zerfall der antiken Religiosität und zum Zusammenbruch der darauf beruhenden Weltordnung.
Mittelalter, Neuzeit, Gegenwart
Aber natürlich gibt es dann auch in der Kirchengeschichte zahlreiche Irrungen und Wirrungen, allen voran die Hexenverfolgungen. Hier muss aber angemerkt werden, dass der auslösende Impuls nicht von der Kirche selbst ausgeht, sondern vom Volk, und dass sich dieses Phänomen seltsamerweise auf den deutschen Kulturraum und angrenzende Gebiete beschränkt. Die Kirche verurteilt den Hexenwahn zunächst als heidnischen Aberglauben, zwingt ihn dann aber doch in ein juristisches Regelwerk, um das blindwütige Wirken des Mobs in den Griff zu bekommen – ein verhängnisvoller Fehler.
Ab der Renaissance begeistert man sich wieder für die Antike, die jetzt aber völlig verklärt wird. Erst im 19. Jahrhundert arbeitet Friedrich Nietzsche den Unterschied zwischen antikem Mythos und Christentum wieder deutlich heraus: „Dionysos gegen den ‚Gekreuzigten‘: da habt ihr den Gegensatz. Es ist nicht eine Differenz hinsichtlich des Martyriums, – nur hat dasselbe einen anderen Sinn.“ Allerdings sympathisiert er für das Heidentum, sieht das Jüdisch-Christliche als bloßes Ressentiment der Schwachen gegen die Starken, verspottet es als „Sklavenmoral“ und fordert eine Umkehr: „Der Einzelne wurde durch das Christentum so wichtig genommen, so absolut gesetzt, dass man ihn nicht mehr opfern konnte: aber die Gattung besteht nur durch Menschenopfer.“
Im 20. Jahrhundert setzten die Nationalsozialisten diesen Wunsch dann gnadenlos um. Und dies aufgrund der modernen Möglichkeiten in einem bisher nie da gewesenen Maßstab. Die Juden werden zur Hauptursache allen Übels erklärt, gedemütigt, entrechtet und schließlich ermordet. Und am Ende kann sich keiner erklären, wie es eigentlich dazu kommen konnte.
Was wir von Girard lernen sollten
Von Girard sollten wir lernen, dass die Jagd auf „Sündenböcke“ zwar tief in uns verwurzelt, aber trotzdem falsch ist. Ein großer Betrug. Ein großer Selbstbetrug. Auf Kosten der „Sündenböcke“. Wenn also mal wieder die Hetzjagd auf einen eröffnet wird, dann müssen sofort die inneren „Alarmglocken“ schrillen. Denn dann droht unsere moderne Kultur mal wieder ins Irrationale abzugleiten. Und Wahrheit und Menschlichkeit bleiben auf der Strecke.
Außerdem sollten wir von Girard lernen, dass es wenige wahre und viele eingebildete Bedürfnisse gibt. Das „mimetische Begehren“ ist derzeit vielleicht so stark wie noch nie. Denn unsere heutige Werbeindustrie lebt davon, Begierden zu erzeugen und zu befeuern. Dem gegenüber stehen die Grenzen des Wachstums. Konkurrenz, Neid und Missgunst nehmen zu.
Buchtipp
René Girard
Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz
Eine kritische Apologie des Christentums
Carl Hanser, 2002
256 Seiten, 21.50 Euro
978-3-446-20230-6
Onlinetipps
Interview mit René Girard
Wir reden so viel über Sex, weil wir es nicht wagen, über Neid zu sprechen
Neue Züricher Zeitung, 04.08.2019
www.t1p.de/utnw5
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Neue Züricher Zeitung, 10.03.2019
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René Girard: Der Anatom der Gewalt
ORF Science, 05.11.2015
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