Wahlplakat einer linken Partei zur Bundestagswahl 2021. – Foto: Günther Hartmann

Gesellschaft & Kultur

Linksidentitäre: Irritierende Biopolitik

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Die linksidentitäre Bewegung kämpft entschlossen für die Rechte diskriminierter Gruppen. Das ist eigentlich richtig und wichtig. Und doch erschienen in den letzten Jahren zahlreiche Bücher, die sich damit kritisch auseinandersetzen – interessanterweise viele von Frauen. Eine von ihnen ist die junge Journalistin Judith Sevinç Basad.

von Günther Hartmann

 

Judith Sevinç Basad studierte Germanistik und Philosophie, schrieb ihre Masterarbeit über totalitäre Tendenzen in der queerfeministischen Bewegung und anschließend ihr Buch „Schäm dich!“, das 2021 im Westend-Verlag erschien. In ihm präsentiert sie eine Fülle interessanter Fakten und stellt die historische Entwicklung sowie die Denkstrukturen der linksidentitären Bewegung anschaulich dar. Basad nennt sie „Social-Justice-Warriors“ oder „Social-Justice-Aktivisten“. Der Begriff stammt aus der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, die sich seit den 1950er-Jahren für die Rechte von Schwarzen, Frauen und Homosexuellen einsetzt. In den 1990er-Jahren wandelt sich ihr Selbstverständnis. Unter dem Einfluss postmoderner Philosophen wie Michel Foucault, Jean-François Lyotard und Jacques Derrida entstehen neue Theorien.

Ein zentraler Gedanke der Postmodernisten: Gesellschaftliche und politische Einflüsse prägen unser Denken so sehr, dass wir die Wahrheit nur verzerrt, fragmentiert oder gar nicht erkennen können. Sie kann aber aufleuchten, wenn wir die Sprache, Normen, Denk- und Handlungsmuster, die sie verschleiern, erkennen und verstehen. Ein Philosoph muss deshalb Spuren suchen, sie entziffern, die Wirklichkeit in ihrer Vielschichtigkeit exakt beschreiben und analysieren. Kurz: Er muss Wissenschaft betreiben.

Den amerikanischen Intellektuellen, die ab den 1990er-Jahren mit neuen Theorien „Social Justice“ durchsetzen wollen, geht es primär darum, die Wirklichkeit zu verändern. Dafür sollen die Diskurse, das Wissen, die Sprache und die Normen kontrolliert und gesteuert werden. Es entstehen neue Forschungszweige wie „Gender Studies“, „Postcolonial Studies“, „Cultural Studies“, „Queer Studies“, „Critical Whiteness“, „White Privilege“ und „White Fragility“. „Diese Social-Justice-Disziplinen haben nichts mehr mit klassischer Wissenschaft zu tun“, kritisiert Basad. „Vielmehr wurde hier aus einzelnen Bausteinen der Postmoderne eine neue Theorie gebastelt, die dann in Politik und Gesellschaft als absolute Wahrheit gelten soll.“

Feindbild „alter weißer Mann“

Ab den 2010er-Jahren wenden die Social-Justice-Aktivisten immer aggressivere Methoden an: entfachen im Internet Shitstorms, brüllen auf Veranstaltungen unerwünschte Redner nieder, diffamieren und bedrohen Kritiker, fordern die Entlassung von Professoren, die ihnen widersprechen. Inzwischen sind die Theorien und Methoden auch in Deutschland angekommen und finden immer mehr Anhänger. Ihr erklärtes Ziel: unsere Gesellschaft so zu verändern, dass sich niemand mehr diskriminiert fühlt.

Einen Grund für den Erfolg sieht Basad im klaren Freund-Feind-Schema: „Die Social-Justice-Warriors glauben tatsächlich, die eine ultimative Ursache, die eine Unterdrückergruppe gefunden zu haben, die für das gesamte Leid der Welt verantwortlich ist, die unsere Verhaltensweisen, unsere Kultur, unsere Sprache und unser Denken unbewusst kontrolliert, und die man entmachten, moralisch abwerten und verteufeln muss, um die absolute Gerechtigkeit herzustellen: weiße heterosexuelle Männer.“

Die Social-Justice-Aktivisten betrachten unsere Gesellschaft als ein ausbeuterisches, rassistisches System mit „alten weißen Männern“ an der Spitze, das so mächtig ist, dass es uns vollständig manipuliert. Nur die Social-Justice-Aktivisten wissen, wie es funktioniert – weil sie sich mit den „richtigen Theorien“ beschäftigt haben und dadurch „woke“ sind: „erwacht“.

„Wenn in Medien und Politik von ‚strukturellem Rassismus‘ oder ‚struktureller Diskriminierung‘ die Rede ist, dann geht mit diesen Begriffen immer ein spezielles Weltbild einher“, erläutert Basad: „Der Glaube an ein System, in dem es keine objektiven Wahrheiten gibt. Und der Glaube an eine Herrschaft, in der weiße heterosexuelle Männer qua Geburt Unterdrücker sind, die es in allen Bereichen des Lebens zu entmachten gilt.“

„Wir sind in einer Welt aufgewachsen, der seit über dreihundert Jahren Rassismus tief in den Knochen steckt. So tief, dass es keinen Raum gibt, in dem er nicht zu finden ist“, behauptet Bestseller-Autorin Tupoka Ogette in ihrem „Exit Racism“. „Einfach nur dadurch, dass du in dieser Welt lebst, wurdest du Teil dieses Systems.“ Und Alice Hasters spricht in ihrem „Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen, aber wissen sollten“ von einer „Weltordnung“, die nur eine Logik kenne: „Weiße ganz oben, Schwarze ganz unten.“

Quoten gegen Diskriminierung

Da die Ungerechtigkeit „strukturell“ sei, lasse sie sich nur mit speziellen Methoden überwinden: mit Sprachregelungen, Umerziehungsseminaren und Quoten. Durch die Forderungen nach Quoten wird das Denken in rassistischen Kategorien allerdings nicht überwunden, sondern betont. So traten z. B. 2020 sieben schwarze Autorinnen von der Nominierung des „25 Frauen Award“ zurück und begründeten dies damit, sie sähen zu „weiß“ aus und würden damit den Platz für Frauen versperren, die aufgrund einer dunkleren Hautfarbe noch stärkere Diskriminierungen erlitten hätten. Künstlerische Preise sollen künftig nach dem „Grad der Diskriminierung“ vergeben werden – sprich: nach Hautfarbe. Und das gleiche Prinzip soll auch für die Vergabe von Jobs gelten.

Basad kritisiert, dass hier nicht gegen Diskriminierung gekämpft wird, sondern für Diskriminierung: „Menschen werden nicht mehr als Einzelpersonen gesehen, sondern aufgrund ihrer Hautfarbe, ihres Geschlechts und ihrer Sexualität in Täter und Opfer eingeteilt. Frauen, Schwarze und Queers sind Opfer und sollen mehr Rechte genießen. Männer, Weiße und Heterosexuelle sind Täter, denen das Wort entzogen, die schlechter gestellt oder umerzogen werden sollen.“

Kulturkampf statt Pragmatismus

Gerade angesichts ihrer eigenen Lebensgeschichte – sie ist Tochter eines türkischen Einwanderers und wuchs in eher prekären Verhältnissen auf – betont Basad, dass Menschen mit Migrationshintergrund keine homogene Gruppe sind, sondern Individuen: „Die Migranten, die Muslime, die Menschen mit dunkler Hautfarbe, die People of Color gibt es nicht. Vielmehr gibt es eine Fülle von Einzelpersonen mit unterschiedlichen Persönlichkeiten, Werdegängen, Herkunftsgeschichten und persönlichen Erfahrungen. Selbstständige Charaktere, denen man keinen Stempel aufdrücken sollte.“

Den Social-Justice-Aktivisten geht es aber nicht um eine differenzierte Betrachtung und pragmatische Lösungen, sondern um einen Kulturkampf. „Dem syrischen Flüchtling, der durch seinen Schulabschluss fällt, weil ihm die Deutschkenntnisse fehlen, hilft es nicht, wenn sich ein weißer Manager für seine Hautfarbe schämt. Eine junge Türkin, die sich ein Universitätsstudium nicht zutraut, wird nicht mutiger, wenn eine weiße Deutsche sich gerade ‚ihrer Privilegien bewusst‘ wird“, meint Basad.

Natürlich gäbe es Rassismus, doch der sei in Deutschland nicht strukturell. Für die Lohnlücke zwischen Deutschen und Eingewanderten seien vor allem das Alter, Kompetenz und Erfahrungen ursächlich. Bei deren Kindern sieht die Situation dann schon wieder ganz anders aus: Kinder von Eingewanderten steigen häufiger in höhere Schichten auf als deutsche Kinder aus vergleichbaren Milieus.

Dies passt natürlich nicht ins Social-Justice-Weltbild. Alice Hasters redet deshalb alle Erfolge von „Diskriminierten“ konsequent klein – auch die von weltbekannten: Der Ruhm schwarzer Pop-Ikonen wie Tina Turner, Whitney Houston, Michel Jackson oder Kanye West basiere nur auf einer weißen Musikindustrie. Und die Dominanz von Schwarzen in vielen Sportarten bestätige nur das „koloniale Narrativ“, dass Schwarze für physische Arbeit geschaffen seien, und stärke somit rassistische Vorurteile.

Ergebnis- statt Chancengleichheit

Es herrsche in der Social-Justice-Bewegung eine ausgeprägte Tendenz, Ungerechtigkeit großzureden, pragmatische Lösungsansätze auszublenden und alles über Quoten regeln zu wollen, kritisiert Basad. Vor allem Frauenquoten kann sie wenig abgewinnen. Selbstverständlich muss es Chancengleichheit zwischen Frauen und Männern geben, doch Chancengleichheit wird in einer freien Gesellschaft eher nicht zu einer Ergebnisgleichheit führen. Denn Frauen ticken anders als Männer, was sich in der Berufswahl, in der Studienwahl und im Berufsweg immer wieder zeigt.

Frauen pauschal als „wehrlose Opfer“ einzustufen und ihnen per Quote zu ihrem „Recht“ verhelfen zu wollen, empfindet Basad als respektlos, anmaßend und sexistisch: „Der Feminismus unterstellt Krankenpflegerinnen, Sekretärinnen, Hausfrauen und Studentinnen, die lieber Anglistik und Literaturwissenschaft anstatt Maschinenbau und BWL studieren, dass sie diese Entscheidung nicht freiwillig träfen, sondern von patriarchalen ‚Strukturen‘ beeinflusst seien.“

Basad hält dem entgegen, Frauen seien sehr wohl in der Lage, Karriere zu machen, wenn sie das wollen – aber sie wollen es eben seltener: „Es gibt Unterschiede zwischen Männern und Frauen. Und das sind nicht nur biologische Unterschiede, sondern auch Unterschiede im Verhalten, die auf der ganzen Welt immer gleich ausfallen: Frauen interessieren sich mehr für Menschen und Kultur, Männer eher für Dinge und Technik.“

Aber das sind nur Tendenzen. Nicht alle Frauen und nicht alle Männer sind so. In einer freien Gesellschaft sollte jeder das ihm Gemäße wählen können. „Queer“ sollte bedeuten, „dass es Männer gibt, die sich wie Frauen verhalten, und Frauen, die sich wie Männer verhalten, aber es immer noch Männer geben darf, die das Männliche, und Frauen, die das typisch Weibliche lieben“, fordert Basad und beklagt, dass die Social-Warrior-Aktivisten gerade dies nicht wollen: „Obwohl sich Frauen und Männer im Schnitt freiwillig für unterschiedliche Dinge interessieren, wird alles darangesetzt, diese Unterschiede zu zerstören, sie abzuwerten und schlechtzureden: Gerechtigkeit ist nur dann erreicht, wenn Frauen in allen Branchen zu 50 Prozent vertreten sind.“

Wenn neben Quoten fürs Geschlecht auch noch Quoten für Hautfarbe, Herkunft und sexuelle Orientierung eingeführt werden, dann haben wir keine freie Gesellschaft mehr, warnt Basad: „Das hat weder etwas mit Demokratie noch mit Liberalismus und der Freiheit des Individuums zu tun. Das ist reaktionäre Biopolitik.“

Doch genau die will z. B. die Autorin Sibel Schick, die von den B90/Grünen als Expertin und Moderatorin für ihre Veranstaltung „Wir wollen den Aufbruch der Vielen! #EinWirFürAlle“ engagiert wurde. Dort ging es vor allem um Quoten für Menschen mit „sichtbarem Rassismushintergrund“. Auf Twitter entwirft Schick „Opferhierarchien“: Je nachdem, wie weiß oder dunkel ihre Hautfarbe ist, sollen Menschen mehr oder weniger Rechte genießen.

Betonung der Unterschiede

Wie sich Social-Justice-Aktivisten in ihrer Logik verheddern und eigentlich ganz selbstverständliche Dinge zum Skandal hochstilisieren, zeigt Basad anhand zahlreicher Beispiele. So griff die Journalistin Ariane Alter in einer Sendung des Bayerischen Rundfunks sogar die Fair-Trade-Bewegung an: Wenn Weiße denken, Schwarze bräuchten Hilfe, dann würden „rassistische Stereotype reproduziert“.

Als Beweis für den überall vermuteten Rassismus müssen höchst unterschiedliche Verhaltensweisen herhalten, auch konträre: So ist es rassistisch, wenn Weiße Schwarze daten. Wenn sie das nicht tun, aber ebenso. Nur die Begründungen sind jeweils andere. Egal was ein Weißer tut – es ist falsch. Aussagen wie „Ich sehe nicht die Hautfarbe, sondern den Menschen“ werden von Social-Justice-Theoretikerinnen wie Robin DiAngelo als typische Abwehrreaktion abgestempelt. Andere nicht nach ihrer Hautfarbe zu beurteilen, sei ein „Argument von Weißen“, um ihren Rassismus zu leugnen. Damit würden „die Betroffenen verletzt“. Alice Hasters fordert Weiße auf, einfach anzuerkennen, dass sie Rassisten sind – und gar nicht erst zu versuchen, nicht rassistisch zu sein.

Als rassistisch gilt auch die „kulturelle Aneignung“. Damit ist die Verwendung von Eigenheiten anderer Kulturen gemeint – egal aus welchem Grund. Denn dadurch würden die „kolonialen Verbrechen der Imperialstaaten“ fortgesetzt, lautet der Vorwurf. Deshalb darf Federschmuck nur von Indigenen getragen werden, ein Kimono nur von Japanern, ein Turban nur von Indern und Muslimen. Und deshalb dürfen z. B. Kinder in vielen Kitas im Fasching keine Indianer- und Scheichkostüme mehr tragen. Und weiße Jugendliche keine Rastalocken.

„Damit wird eine Form der Rassentrennung betrieben, die man eigentlich von der extremen Rechten kennt“, findet Basad. „Jede Kultur hat ihren angestammten Platz, an dem sie besser bleiben soll. Es darf zwischen den Kulturen keine Vermischung geben.“

Diversität durch Gleichschaltung

Durchgesetzt wurde Diversität besonders im Kulturbereich. Der Oscar Academy wurde so lange Rassismus und Sexismus vorgeworfen, bis sie die Einführung von Diversitätskriterien beschloss. Die gibt es inzwischen auch in der deutschen Filmförderung sowohl fürs Drehbuch als auch für die Rollenbesetzung. Basad sieht hier die Freiheit der Kunst bedroht und warnt vor einer „gleichgeschalteten Opfer-Kultur“. Viele Meisterwerke der Filmgeschichte wären unter diesen Kriterien nie entstanden.

Diversität wird von den Social-Justice-Aktivisten zwar als Ziel propagiert, Meinungsdiversität jedoch bekämpft. Alle sollen gleich denken, gleich fühlen, gleich handeln. Kritikern wird sofort vorgeworfen, nicht gegen Rassismus und nicht für Gleichstellung kämpfen zu wollen, „rechts“ zu sein. An Universitäten werden nicht konforme Dozenten in anonymen Blogs verunglimpft und in ihren Vorlesungen beschimpft. In einer Pädagogik-Vorlesung an der Humboldt Universität Berlin musste die Polizei anrücken, weil ein Dozent seinen Studenten Texte von Kant zu lesen gab. Diese seien aus einer „weißen Perspektive“ geschrieben und somit „rassistisch“, behaupteten die Social-Justice-Aktivisten.

Alles, was nicht explizit „antirassistisch“ ist, gilt als verdächtig. Und alles, was die Diversität nicht explizit fördert – besonders die binäre Geschlechterordnung: Männlichkeit sowieso, aber auch Weiblichkeit. So behauptet die Sozialwissenschaftlerin Judith Butler, die Einteilung in Mann und Frau sei nur eine Erfindung von Heterosexuellen, ein „soziales Konstrukt“, um Herrschaft auszuüben und auszubeuten.

Persönlicher Schmerz statt Objektivität

Nun lassen sich aber naturgesetzliche Tatsachen nicht so einfach wegleugnen. Darauf reagieren die Social-Justice-Aktivisten mit einem verblüffenden Schachzug: Der subjektive Schmerz wird zum wichtigsten Kriterium für Wahrheit. Wenn Fakten Menschen unglücklich machen, dann werden diese als irrelevant eingestuft. Wenn ein Transsexueller darunter leidet, dass er nicht menstruieren kann, dann darf dies kein Kriterium für Weiblichkeit mehr sein. Und auch nicht mehr als solches „behauptet“ werden. Als genau das Harry-Potter-Autorin Joanne K. Rowling einmal tat, erntete sie einen gewaltigen Shitstorm bis hin zu öffentlichen Bücherverbrennungen und Morddrohungen.

„Die Behauptung, dass unübersehbare biologische Unterschiede eigentlich nicht existieren, ist so offensichtlich absurd, dass sie umso vehementer verteidigt werden muss“, bemerkt Basad. „Und das geschieht am effektivsten, wenn man jeden Kritiker der Menschenverachtung bezichtigt.“

Selbst vor einer abstrakten Wissenschaft wie der Mathematik machen die Social-Justice-Aktivisten nicht halt. So gibt es in den USA tatsächlich ernst gemeinte Diskussionen, ob die Aussage „2 + 2 = 4“ wahr ist. Sie sei kulturell bedingt und vom westlichen Kolonialismus beeinflusst, lautet der Vorwurf. Mathematik als universell zu betrachten, diene der Aufrechterhaltung weißer Vorherrschaft.

Umerziehung durch Sprachregelungen

Der Geringschätzung von Naturgesetzen entspricht die Geringschätzung sprachlicher Regeln und Gewohnheiten. Daher wird die Sprache rigoros umgestaltet. Vor allem zwei Dinge sollen aus ihr verbannt werden: die binäre Geschlechterordnung und Männlichkeit. Einige kommunale „Leitfäden für gendersensible Sprache“ fordern inzwischen auf, traditionelle Anredeformen wie „sehr geehrte Damen und Herren“ und jeden Verweis auf das Geschlecht zu unterlassen. „Als ob es sich hier um eine gefährliche Krankheit handelt“, bemerkt Basad.

Vor allem soll das generische Maskulinum verschwinden – weil es angeblich ausgrenzt und verwirrt. Basad erläutert die deutsche Grammatik und betont, dass ein Generikum – egal ob maskulin oder feminin – kein Geschlecht meint und damit auch kein Geschlecht ausschließt. Es ist geschlechtsneutral. „Die Kirche als Arbeitgeberin“ ist deshalb grammatikalisch falsch, „die Kirche als Arbeitgeber“ richtig – auch wenn die Städte Hannover und Lübeck in ihren Sprachleitfäden dies genau umgekehrt sehen.

Aber es geht eben gar nicht um grammatikalische Logik, sondern um einen Kampf gegen die „Überrepräsentation des Männlichen“ in der Sprache. Denn die schüchtert angeblich Frauen ein und führt dazu, dass sie sich die Berufe „Arzt“ oder „Lehrer“ nicht zu ergreifen trauen. Basad verweist darauf, dass der Frauenanteil trotzdem bei den Lehrern 73 % und bei den Ärzten 48 % beträgt. Und dass es zahlreiche Frauen in politischen Spitzenpositionen gab und gibt: Angela Merkel, Ursula von der Leyen, Christine Lagarde. Und dass Länder mit genuslosen Sprachen wie die Türkei oder Ungarn alles andere als ein Vorbild bei der Frauenemanzipation sind. Aber diese Argumente interessieren nicht, weil es gar nicht um Argumente geht.

„Beim Gendern geht es vor allem um eines: sich selbst als den besseren Menschen zu inszenieren“, argwöhnt Basad und schießt damit wohl übers Ziel hinaus, denn meist ist es sicherlich gut gemeint. Bedenklich wird es allerdings, wenn es dazu benutzt wird, alles Männliche abzuwerten. Das passiert häufig, indem „moralisch Gutes“ gegendert und „moralisch Schlechtes“ – wie z. B. ein „Terrorist“ oder ein „Verschwörungstheoretiker“ – nicht gegendert wird. Das signalisiert auch, alles Männliche sei „toxisch“.

Rassen- statt Klassenbewusstsein

Mit ihren Sprachecodes grenzt sich die Social-Justice-Bewegung gegenüber dem Rest der Gesellschaft ab, vor allem gegenüber den unteren Schichten. Es drängt sich hier der Verdacht auf, dass dies eine Ursache für das Erstarken der Rechten sein könnte. Bei den letzten Bundestagswahlen fiel „Die Linke“ bekanntlich unter die 5-%-Hürde, während die AfD mehr als 10 % erreichte. Und in den USA regierte 4 Jahre lang Donald Trump.

Mangelndes „Klassenbewusstsein“ werfen deshalb viele traditionelle Linke der Social-Justice-Bewegung vor. Mangelndes „Rassenbewusstsein“ beklagt Robin DiAngelo. Für sie ist die Hautfarbe der wichtigste Aspekt menschlichen Daseins: Menschen könnten keine „einzigartigen Einzelwesen“ sein, sondern seien immer durch ihre „Rasse“ und ihr Geschlecht definiert. Individualität sei nur eine Erfindung, eine weiße „Schlüsselideologie“, um „koloniale Unterdrückung“ aufrechtzuerhalten.

Opfer dürfen keine Täter sein

Die klare Einteilung der Welt in „Täter“ und „Opfer“ ist aber realitätsfern. „Opfer“ sind ja nicht immer nur „Opfer“, sondern können genauso gut auch manchmal „Täter“ sein. Doch das passt nicht ins Social-Justice-Weltbild. Externe Kritiker wie die österreichische Kabarettistin Lisa Eckhart, die sich über solche Ungereimtheiten gerne lustig macht, werden brutal gemobbt und als „rechts“ diffamiert. Intern werden solche Ungereimtheiten schöngeredet.

Dabei wird sogar Genitalverstümmelung verteidigt. Europäer würden sie nur deshalb verurteilen, weil sie sich den Afrikanern überlegen fühlen und auf sie herabsehen, behauptet die Geschlechterforscherin Anna-Katharina Meßmer. Auch die Genderforscherin Daniela Hrzán wirbt für Verständnis und verwendet anstelle von „Genitalverstümmelung“ den Begriff „Genitalbeschneidung“ – weil sonst der „soziale Kontext“ ausgeblendet wird und der Eindruck entsteht, Eltern würden ihre Kinder bewusst verletzen. Auf dem 35. Feministischen Juristinnentag durfte sie wegen ihres „kritisch-reflektierten und antirassistischen Umgangs mit dem Thema“ einen Vortrag halten.

In einer extrem polarisierten Gesellschaft, in der alles auf die Kategorien „rassistisch/antirassistisch“, „rechts/links“, „AfD-nah/AfD-konträr“ reduziert wird, ist eine differenzierte Betrachtung und Beurteilung der Wirklichkeit kaum mehr möglich. Missstände dürfen nicht an- und ausgesprochen werden. Rechtsstaatliche Prinzipien bleiben auf der Strecke.

Als Selin Gören, damals Bundessprecherin der „Linksjugend“, in der Kölner Silvesternacht 2015/2016 von drei jungen Arabern brutal vergewaltigt wurde, zeigte sie das bei der Polizei nicht an, weil sie befürchtete, es könne „von rechts missbraucht werden“. Das mag mancher heroisch finden, aber vor dem Gesetz sollten eigentlich alle Straftäter gleich behandelt werden – und nicht nach Hautfarbe oder Migrationshintergrund unterschiedlich.

Damit tue man den Eingewanderten auch überhaupt keinen Gefallen, meint Basad, die selber in der Berliner Ibn-Rushd-Goethe-Moschee mitarbeitet. Denn die große Mehrheit verhalte sich friedlich und gesetzeskonform. Eine ideologische Gleichmacherei, die aufhört, zwischen den vielen nicht-kriminellen und den wenigen kriminellen zu unterscheiden, liefert der AfD und den Rechtsidentitären erst recht Munition für ihre üble Propaganda.

Ekel als dominantes Grundgefühl

Eine Antwort auf die Frage, warum der Reinheitsgedanke sowohl bei Rechts- als auch bei Linksidentitären auf so große Resonanz stößt, glaubt Basad beim amerikanischen Moralpsychologen Jonathan Haidt gefunden zu haben. Er sieht das Gefühl des Ekels als einen zentralen menschlichen Impuls – auch für politische Einstellungen.

Der ursprüngliche biologische Sinn des Ekels liegt zwar im Schutz der körperlichen Gesundheit – doch dabei muss es nicht bleiben. Wenn dieses Gefühl stark ausgeprägt ist, kann es auch auf andere Lebensbereiche übertragen werden. Bei Rechtsextremisten nimmt es gefährliche Formen an: Andersdenkende und politische Gegner werden als „Krankheitserreger“ und „Parasiten“ bezeichnet.

Ähnlich verhält es sich auch in der Social-Justice-Bewegung: Bereits Wörter und Grammatik werden als „gefährliche Krankheiten“ betrachtet, die es tunlichst zu vermeiden und zu verbannen gilt, erst recht abweichende Gedanken. Die Pandemie-Logik wird auf Gesellschaft und Politik übertragen. Ein Gespräch mit einer falschen Person genügt, um sich anzustecken. Oder die Verwendung von Wörtern, die eine falsche Person geäußert hat. „Kontaktschuld“ und „Cancel Culture“ sollen unsere Gesellschaft vor einer „Infizierung“ schützen.

Robustheit versus Empfindlichkeit

Am Ende ihres Buchs mutmaßt Basad, es gehe den Social-Justice-Aktivisten vielleicht auch nur um das Bedürfnis nach einem „Thrill“, um das eigene Leben aufregender zu machen. Und da es in Deutschland außer massiven und schwer lösbaren sozialen Problemen kaum strukturelle Ungerechtigkeiten mehr gäbe, würde der Fokus auf die Sprache gelegt, unermüdlich nach angeblich Verletzendem gesucht und die Grenze des Zumutbaren stetig verschoben.

Die Grenze zwischen dem Zumutbaren und dem Unzumutbaren – damit spricht Basad am Ende ihres Buchs eine Frage an, über die der österreichische Philosoph Robert Pfaller und die deutsche Philosophin Svenja Flaßpöhler intensiv nachdenken. Flaßpöhler befürchtet einen „Kipppunkt fortschreitender Sensibilisierung“, der unsere Gesellschaft zersplittert, und fordert deshalb weniger Empfindlichkeit und mehr Robustheit. Pfaller kritisiert an den Sprachregelungen, dass Erwachsene wie kleine Kinder behandelt und dadurch systematisch verunsichert werden. Und dass die Sprachregelungen von den wirklich wichtigen Problemen unserer Zeit ablenken und damit deren Lösung verzögern und verhindern.

In die gleiche Richtung zielt auch die Kritik des Journalisten Jan Fleischauer, der als Mitglied der Jury „woke“ zum „Wirtschaftswort des Jahres 2021“ kürte: „Es ist ein unschlagbares Angebot an den Kapitalismus: Man redet einfach ein bisschen anders, gendert, nimmt zwei fremd klingende Namen in den Aufsichtsrat und – bingo! – ist man von allen Nachstellungen freigestellt und muss an den Verhältnissen selber gar nichts ändern.“

 


Buchtipps

Judith Sevinç Basad
Schäm dich!
Wie Ideologinnen und Ideologen bestimmen, was gut und böse ist
Westend, März 2021
224 Seiten, 18.00 Euro
978-3-86489-212-7

Svenja Flaßpöhler
Sensibel
Über moderne Empfindlichkeit und die Grenzen des Zumutbaren
Klett-Cotta, Oktober 2021
240 Seiten, 20.00 Euro
978-3-608-98335-7

Sahra Wagenknecht
Die Selbstgerechten
Mein Gegenprogramm – für Gemeinsinn und Zusammenhalt
Campus, April 2021
345 Seiten, 24.95 Euro
978-3-593-51390-4

Caroline Fourest
Generation Beleidigt
Von der Sprachpolizei zur Gedankenpolizei – Über den wachsenden
Einfluss linker Identitärer
Edition Tiamat, Oktober 2020
200 Seiten, 18.00 Euro
978-3-89320-266-9

Robert Pfaller
Erwachsenensprache
Über ihr Verschwinden aus Politik und Kultur
Fischer, November 2017
256 Seiten, 14.99 Euro
978-3-596-29877-8

 


Onlinetipps

Interview mit Judith Sevinç Basad
Identitätspolitik: Schlechtes Gewissen einer Wohlstandselite
Telepolis, 26.04.2021
www.t1p.de/5c30g

Udo Brandes
Schämst du dich schon oder bist du ein böser Mensch?
NachDenkSeiten, 13.05.2021
www.t1p.de/u65q

Tilman Weigel
Baerbock und die Gender-Empathy-Gap
Telepolis, 25.03.2022
www.t1p.de/zpt4c

Sternstunde Philosophie
Die hypersensible Gesellschaft
SRF, 14.11.2021
www.t1p.de/b6264

Stephan Schleim
Gendersternchen: Gerechte Sprache, gerechte Welt?
Telepolis, 07.10.2021
www.t1p.de/otpv

Daniele Dell’Agli
Genderkorrektiv
Telepolis, 05.09.2021
www.t1p.de/hufsc

Teseo La Marca
Identitätspolitik: Woke und weltfremd
Telepolis, 31.05.2021
www.t1p.de/kdwfx

Alexander Jungkunz
Generation beleidigt: Die Auswüchse der linken Sprachpolizei
Nordbayern.de, 18.04.2021
www.t1p.de/im7d

Jonas Christopher Höpken
Hat die Linke die Seiten gewechselt?
NachDenkSeiten, 14.04.2021
www.t1p.de/2pyr

Ramon Schack
Wenn das eigene Selbstverständnis spaltet
Deutschlandfunk, 08.04.2021
www.t1p.de/8zhze

Udo Brandes
Generation beleidigt – Ein neues Buch über eine Generation
mit totalitärem Machtanspruch
NachDenkSeiten, 01.04.2021
www.t1p.de/j67oi

Interview mit Andrew Onuegbu
„Ich brauche niemanden, der mir sagt, wann meine Gefühle verletzt sind“
Hart aber fair, 06.10.2020
www.t1p.de/oxbx

Christian Schüle
Ich bin weiß und männlich und kann nichts dafür!
Deutschlandfunk, 18.08.2020
www.t1p.de/0bxpa

Jens Berger
Der Fall Lisa Eckhart – Cancel Culture in Deutschland
NachDenkSeiten, 06.08.2020
www.t1p.de/pbgr7

Jens Berger
Cancel Culture – Intoleranz im Namen der Toleranz
NachDenkSeiten, 16.07.2020
www.t1p.de/xqc2a


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