Schuld erinnert uns daran, dass „etwas“ zu tun ist. „Anrufverstehen“ nannte Martin Heidegger dies. – Foto: PubicCo/pixabay.com

Gesellschaft & Kultur

„Geschuldetes Handeln statt Schuld!“

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Die Philosophie versucht, Klarheit und Orientierung ins menschliche Denken und damit auch Handeln zu bringen. Seit einigen Jahrzehnten reflektieren einige Philosophen auch über die Ökologische Krise – ohne bislang große Veränderungen bewirkt zu haben. Demnächst erscheint ein Buch, das den Diskurs mit neuen Gedanken und Perspektiven beleben will.

Interview mit Dr. Michael Rentz

 

ÖkologiePolitik: Herr Dr. Rentz, Ihr Buch trägt den etwas seltsam klingenden Titel „Ökologie der Schuld“. Was ist damit gemeint?

Dr. Michael Rentz: Der Buchtitel klingt tatsächlich seltsam, richtig, doch das ist beabsichtigt und lässt gleich an Philosophie denken. Es handelt sich um ein philosophisches Sachbuch über Ökologie, Umweltschutz und Nachhaltigkeit. Ich halte Ökologie für eine philosophische Disziplin. Ökologie untersucht Wechselwirkungen zwischen den Organismen und ihrer Umwelt. Im Falle des Menschen besteht die Umwelt zum größten Teil aus menschengemachter Umwelt – Technik, Wirtschaft, Politik, Religion und Supermärkte. Diese Umwelt prägt den Menschen, seine Kultur und sein Denken. Die Ökologische Krise, die den Planeten Erde schon mehr als 50 Jahre begleitet, lässt sich ohne Rückgriff auf die Philosophie nicht verstehen und schon gar nicht überwinden. Es geht um die „Suche nach dem verlorenen Glück“, wie der Titel eines Buches von Jean Liedloff heißt. Der gewohnte Schuldbegriff steht diesem Glück im Weg. Auf die Idee, nach der Rolle der Schuld in Bezug auf die Ökologie zu fragen, kam ich durch Stephan Grätzels Buch „Dasein ohne Schuld“. Darin wird systematisch erklärt, wie ein falsches Schuldverständnis und damit ein falscher Freiheitsbegriff schon seit der Aufklärung Menschen vom Lebensglück fernhalten. Das von Grätzel entschlüsselte kulturelle Muster lässt sich auf die Ökologie übertragen und erklärt die Ökologische Krise aus ihren historischen Ursprüngen heraus. Es erklärt ebenfalls das Krisische: warum sich die Krise nicht mit herkömmlichen Mitteln überwinden lässt. Wenn man erst einmal verstanden hat, dass sich die Ökologische Krise nicht mit Biologie erklären lässt, dass aber unser Schuldverständnis eine verhängnisvolle Rolle spielt, kommt man einen entscheidenden Schritt weiter. Diese Verstrickung zeigt mein Buch auf. Und auch, wie sich der Knoten lösen lässt.

Der Begriff „Schuld“ scheint in unserer „Spaßgesellschaft“ keinen Platz mehr zu haben. Wie geben Sie ihm einen positiven Beigeschmack?

Schuld ist in Wirklichkeit etwas extrem Positives! Sie ist der Ursprung von Kreativität. Es ist sinnlos, sie zu verdrängen, denn sie meldet sich doch wieder. Sie erinnert uns daran, dass „etwas“ zu tun ist. „Anrufverstehen“ nannte Martin Heidegger dieses Phänomen in seinem Buch „Sein und Zeit“. Der entscheidende Punkt ist, dass uns die Schuld daran erinnert, wer wir eigentlich sind. Grätzels Leistung in „Dasein ohne Schuld“ war, aufzuzeigen, dass die falsch verstandene Botschaft der Aufklärung eine Kultur des Verdrängens begünstigt hat – und die führt vom Glück weg. Mit anderen Worten: Wenn ich vor ökologischen Problemen stehe und einen solchen Ruf höre, dann erinnert mich dieser Ruf daran, wie ich in meinem Kern eigentlich bin, dass mir die Umwelt also keineswegs egal ist. Wenn ich weglaufe – genau genommen dann vor mir –, werde ich auf Dauer unglücklich, weil ich mich nicht so verwirkliche, wie ich eigentlich bin, sondern wie die „Umstände“ es von mir wollen. Die Frage nach der „Schuld“ lässt sich auch durch die Frage nach dem „geschuldeten Handeln“ in einer bestimmten Situation ersetzen. Damit löst sich der mit Schuld verbundene negative Beigeschmack auf.

Welche Parallelen weist Ihr Ansatz zu Hans Jonas’ „Prinzip Verantwortung“ auf? Und worin unterscheidet er sich?

Tatsächlich hat mich „Das Prinzip Verantwortung“ von Jonas damals dazu inspiriert, den Gedanken an die Bewältigung der sogenannten „Umweltprobleme“ aufzugreifen und philosophisch weiterzudenken. Faszinierend war die Idee einer technologischen Zivilisation als ein kulturell-historisches Muster, das einer eigenen zeitgemäßen Ethik bedarf. Was mir bei Jonas nicht gefiel, war die „Pflicht zum Überleben“ als ein grundlegender Baustein seiner Ethik. Nach meiner Ansicht genügt Lebensfreude als möglicher Erklärungsansatz, dazu brauchte es nach meiner damaligen und heutigen Vorstellung keine besondere „Pflicht“. Diese Lebensfreude als eigentlichen Ursprung für Umweltengagement philosophisch nachzuweisen, darum geht es mir in meinem Buch. Maja Göpel plädiert in ihrem Buch „Unsere Welt neu denken“ dafür, sich ein anderes Bild von der Welt zu machen, um sie verändern zu können. Ich gehe einen kleinen Schritt weiter und sage: „Das Denken über unsere Welt neu denken“.

Treten Sie mit Ihrer Auslegung des Begriffs „Schuld“ in einen Widerspruch zur christlichen Auslegung?

Das Schuldgefühl erinnert daran, wie man in seinem Innersten ist. Es erinnert an den eigentlichen Wesenskern. Das ist umso wichtiger, wenn Normen und sozialer Druck in der Lage sind, einem ein Schuldgefühl von außen einzureden. Das geschieht in allen Teilen der Gesellschaft, in Kirchen genauso wie in Unternehmen oder in politischen Parteien. Es macht daher keinen Sinn, den Schuldbegriff abschaffen zu wollen – zumal er im Ursprung lebensbejahend und kreativ ist. Und das ist mit dem Schuldverständnis in der christlichen Lehre nicht anders – eigentlich. Was vielfach aus diesem Kern gemacht wird, darüber kann man diskutieren. Weil Schuld in unserer abendländischen Kultur aber nun einmal diesen negativen Beigeschmack bekommen hat, über den man im Alltag kaum hinwegkommt, schlage ich eben vor, den Begriff „Schuld“ ökologisch-strategisch durch „geschuldetes Handeln“ zu ersetzen. In unserem kulturellen Kontext wirkt „Schuld“ diffus, unangenehm, moralisierend. Das „geschuldete Handeln“ kommt sachlich daher und wirft die Frage gleich mit auf, wer welches Handeln wem schuldet. Das inspiriert. Das funktioniert mit einem christlichen Hintergrund genauso – da ist für mich kein Widerspruch zu erkennen. Zwar bin ich kein Theologe, meine aber, dass ein gelegentliches Ausweichen von „Schuld“ auf „geschuldetes Handeln“ auch im christlichen Kontext manchmal erhellend wirken würde. Meinen Ansatz sehe ich nicht als eine Neuinterpretation, sondern eher als eine Neudurchleuchtung, als eine Durchdringung gewohnter Schemata unseres Denkens, die sich eingestellt haben und die vom eigentlichen Lebensglück wegführen. In meinem Buch habe ich sogar meinen Ansatz mit den Ausführungen und Begründungen in der Enzyklika „Laudato si’“ abgeglichen und festgestellt, dass Papst Franziskus mit mir übereinstimmt, sich aber anders ausdrückt. Er ist eben Theologe. Entscheidend war für mich, dass er auf diesseitiges Lebensglück, Gesundheit und Schönheit abstellt, also auf ein Gott und sich selbst geschuldetes Handeln im Sinne von authentischer Verwirklichung – statt auf Strafe im Jenseits.

In den USA wurde Klimaerwärmungsleugner Donald Trump von Evangelikalen vehement unterstützt. Was ist da passiert?

Mit der Glaubensrichtung der Evangelikalen kenne ich mich nicht so aus. Aber es ist zu beobachten, dass es eine ähnliche Verbindung auch zwischen Evangelikalen und dem brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro gibt – zum Nachteil der nachfolgenden Generationen und der Urwälder am Amazonas. Es scheint dabei eine Mentalität des „eine Hand wäscht die andere“ vorzuherrschen – bei der ich jedoch nicht verstehe, was evangelikale Institutionen davon haben, die Zerstörungen schweigend zuzulassen. Wenn ich mich Ihrer Frage mit meinem Ansatz nähere, stellt sich hier nicht die Frage nach Schuld, sondern was in der Situation das geschuldete Handeln ist. Seine globale Verantwortung wird von Bolsonaro nicht gesehen. Die Frage ist damit: Was glaubt er, mit seinem Handeln wem zu schulden? Ich weiß es nicht. Einfacher ist es bei christlichen Institutionen: Das geschuldete Handeln ist hier am Glauben ausgerichtet – oder sollte es sein. Das beinhaltet neben der Sorge für Arme und Benachteiligte auch die Sorge für die Umwelt bzw. die Schöpfung und das Eintreten gegen Raubbau an Ressourcen. Die Sorge für die Armen kann im inneren Selbstverständnis die Sorge für die Umwelt nicht ersetzen. Die Soziologie würde bei der Antwort auf Ihre Frage vermutlich auf Machtverhältnisse und Mitgliederzahlen abstellen. Mit meinem Ansatz des „geschuldeten Handelns“ kommt man aber einer Lösung näher. Denn er dreht sich nicht um Schuld, sondern um die Frage, wie man sinnvoll weiterkommt.

Wie bringt man „Falschdenkende“ und „Denkfaule“ zum Umdenken?

Es sind nicht „Denkfaule“, die uns in eine Ökologische Krise geleitet haben und deren Überwindung behindern. Es sind eher intelligente, gut ausgebildete Erfolgsmenschen, die sich z. B. die Fließbandproduktion für Autos oder die chromverzierten Geländewagen für europäische Innenstädte ausgedacht haben. „Denkfaule“ würden mein Buch natürlich nicht verstehen, sind aber auch nicht die entscheidenden Umweltverschmutzer. Man darf das Veränderungspotenzial kultureller Strukturen nicht unterschätzen. Wenn heute Konsum mit Gewinn und Lebensglück gleichgesetzt wird, ging dem ein längerer Prozess voraus, bis sich dieses Muster global durchgesetzt hat. Solche Muster nehmen mit der Zeit auch Ihre „Denkfaulen“ mit. Ebenso ist ein Muster denkbar, das Lebensglück mit nachhaltiger Entwicklung gleichsetzt, was eigentlich ganz natürlich wäre. Der Verlust des Gemeinschaftsdenkens wird übrigens auch in der neuen Enzyklika „Fratelli tutti“ von Papst Franziskus als Verlust von Lebensqualität problematisiert. Das muss man zwar nicht zum Maßstab erheben, aber es zeigt auch hier, dass die christliche Lehre keinen Widerspruch zu dem philosophischen Impuls in meinem Buch darstellt. Gegen Ihren Begriff „Falschdenken“ möchte ich mich allerdings verwehren. Niemand denkt „falsch“. Es kommt darauf an, was man weiß und was man in sein Denken mit einbezieht. Man muss niemandem sagen, was er oder sie zu denken hat. Leitbild ist das Streben nach der eigenen Verwirklichung. Leider kann uns die Gesellschaft eine Verwirklichung nach ihrem Schema aufdrängen, die nicht zu unserem Glück beiträgt. Darin liegt mehr von diesem „Falschdenken“ als beim Einzelnen.

Welche Rolle spielt die Wirtschaft? Wäre eine Wirtschaft ohne Wachstum sinnvoll?

Wirtschaft und Wachstum werden heute oft „zusammen gedacht“, als wären sie zwei Aspekte von ein und demselben. Man muss zunächst einmal wieder lernen, die Begriffe „Wirtschaft“ und „Wachstum“ getrennt zu denken und zu verwenden. „Wirtschaft ohne Wachstum“ ist als Formulierung keine Lösung, denn die Verkopplung der Begriffe miteinander bleibt dann bestehen. „Wachstum“ seinerseits ist für sich genommen ein schöner Begriff, den sehe ich nicht gern mit dem Wort „ohne“ zusammengekoppelt. Statt „Wirtschaft“ würde ich oft lieber „Wirtschaften“ lesen. Der Begriff „Wachstum“ wiederum hat sehr viel mit menschlicher Kreativität zu tun. Mit ihr müssen wir leben, wenn wir glücklich sein wollen. Und das hat mit Menschenwürde und Arbeit zu tun. Aber man kann sich dabei sowohl für als auch gegen nachhaltige Entwicklung entscheiden. Kreativität „geht“ so oder so. Das Problem scheint aus meiner Sicht das doch eher primitive Denkprinzip der „Gewinnmaximierung“ zu sein, das viele zukunftsfähige Ansätze aus dem Lösungsraum verbannt. Gewinn ja, aber warum die Maximierung als Nebenziel? Also erst einmal über Wachstum nachdenken, was der Begriff bedeuten kann, wenn man ihn nicht mit Wirtschaft in Verbindung bringt. Und dann über Wirtschaft und den eigentlichen Sinn des Wirtschaftens. Dann kommt man langsam darauf, dass man eine andere Art des Wirtschaftens braucht, um Wachstum zusammen mit Kreativität, Lebensglück und Menschenwürde leben zu können – und zwar überall in der Welt.

Herr Dr. Rentz, herzlichen Dank für das interessante Gespräch. Und viel Erfolg für Ihr Buch.

 


Buchtipp

Michael Rentz
Ökologie der Schuld
Geschuldetes Handeln statt Schuldsprüche
auf dem Weg zur Nachhaltigen Entwicklung
oekom, Juni 2021
232 Seiten, 28.00 Euro
978-3-96238-274-2

 


Onlinetipps

Dr. Michael Rentz
Ökologie der Schuld
Vortrag, 31.10.2020
www.t1p.de/lc4k

Dr. Michael Rentz
Brücke zur Praxis: „nachhaltig predigen“
Vortrag, 09.10.2020
www.t1p.de/90vk

Papst Franziskus
Enzyklika Laudato si’
24.05.2015
www.t1p.de/97xq

 


 

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