Landwirte: Zwischen allen Stühlen
12. August 2020
Ein Landwirtschaftsbetrieb muss wie jedes Unternehmen ausreichend Gewinn erwirtschaften, um überleben zu können. Dazu muss er mit und nicht gegen die Marktmechanismen arbeiten. Die Spielregeln des Marktes werden von der Agrarpolitik vorgegeben, vor allem von der EU. Da gab es Ende der 1980er-Jahre eine einschneidende Kurskorrektur. Und heute ist wieder eine überfällig.
von Christoph Raabs
Nicht erst im Rahmen der Diskussionen um das Volksbegehren „Artenvielfalt – Rettet die Bienen!“, welches im vergangenen Jahr unter großer Anteilnahme aus der bayerischen Bevölkerung zum Erfolg geführt werden konnte, wurde deutlich, wie tief die Gräben zwischen Landwirten und Bürgern geworden sind. Die mittlerweile im Schatten der Corona-Pandemie beschlossene Novellierung der Düngeverordnung hat den Ton noch einmal verschärft.
In den Monaten vor der Corona-Pandemie gingen Tausende Landwirte auf die Straße. Landwirtschaftliche Berufsorganisationen, allen voran der Deutsche Bauernverband (DBV) und die neue Bauerninitiative „Land schafft Verbindung“ (LsV), beklagen sich über eine scheinbar mangelnde Wertschätzung von Bevölkerung und Politik für die Arbeit der Landwirte. Zudem entwerfen sie mit jeder neuen Verordnung fast schon reflexartig Schreckensszenarien, die zumeist damit enden, dass die Versorgungssicherheit der Bürgerinnen und Bürger mit Lebensmitteln in Zukunft nicht mehr gesichert sei.
Auf der anderen Seite werden Umweltverbände nicht müde, auf die Klimawirksamkeit von Ackerbau und Viehzucht hinzuweisen. Von den konventionell wirtschaftenden Bauern werden in immer kürzeren Abständen weitere Einsparungen im Bereich Pflanzenschutz und Kunstdünger sowie signifikante Verbesserungen beim Tierwohl eingefordert. Zudem müsse der Einsatz von Antibiotika gegen null gefahren werden. Zahlenmäßig kleine, radikale Tierschutzgruppierungen machen mit Stalleinbrüchen und anschließenden Filmaufnahmen von sich reden.
In dieser Gemengelage hat die EU-Kommission unlängst mit einem Plan für einen Umbau der europäischen Landwirtschaft aufhorchen lassen. Man hat in Brüssel offenbar erkannt, dass die „Gemeinsame Agrarpolitik der EU“ (GAP) in den vergangenen Jahrzehnten zwar die Versorgung der europäischen Bevölkerung mit billigen und gleichwohl hochwertigen Nahrungsmitteln gesichert hat, andererseits aber zu Belastungen für Mensch und Umwelt führte, die nun nicht länger hingenommen werden können. Und obwohl die Pläne für den „Green Deal“ bisher nur Ziele, nicht aber konkrete Maßnahmen für den Weg dorthin benannt haben, besteht vielleicht jetzt, nach Jahrzehnten relativ großer Hoffnungslosigkeit, Grund zum Optimismus.
Höfesterben
Der Ausblick in die Zukunft muss mit einem Rückblick auf 40 Jahre GAP beginnen. Gerade in Deutschland, aber auch in anderen Ländern der „alten“ EU sind die Fakten erschreckend. Im Zeitraum von 1981 bis 2019 hat sich die Zahl der landwirtschaftlichen Betriebe in Deutschland um mehr als zwei Drittel verringert: von über 800.000 Bauernhöfen zu Beginn der 1980er-Jahre auf 275.000 Anfang 2019. Eine Prognose der DZ-Bank AG aus dem Jahr 2017 geht von nur noch 100.000 Betrieben im Jahr 2040 aus.
Sollte diese Vorhersage tatsächlich eintreffen, reicht der Begriff „Strukturwandel“ für die dann eingetretene Katastrophe bei Weitem nicht aus. In den meisten Dörfern gäbe es schlichtweg keine Bauernhöfe mehr. Wenige Großbetriebe mit einer hohen Anzahl abhängig Beschäftigter würden Hunderte Hektar Land bewirtschaften. Vom „freien Landwirt auf eigener Scholle“ bliebe ein Mythos aus vergangenen Zeiten übrig, der Kulturbruch im ländlichen Raum wäre endgültig vollendet.
Wie kann es aber sein, dass so viele Bauern ihre Höfe aufgegeben haben und zukünftig noch aufgeben müssten, sollte sich an der Agrarpolitik der letzten Jahrzehnte nichts ändern? Warum hat ein vielstimmiger Chor aus Deutschem Bauernverband, agrochemischer Industrie, Einzelhandelskonzernen und Politikern fast aller Parteien jahrzehntelang das Mantra vom „Wachsen oder Weichen“ predigen können, ohne dass es nennenswerten Widerstand aus den landwirtschaftlichen Familienbetrieben gegeben hätte? Was trieb die Landwirte dazu, immer mehr Land zu bearbeiten, mit immer größeren Maschinen, immer größeren Mengen an Mineraldünger und Pflanzenschutzmitteln, immer größeren Viehställen, immer höherer Arbeitsbelastung?
Die wesentliche Ursache dafür dürfte in einer grotesken Entwicklung der Erzeugerpreise liegen, die – streng den Gesetzen des Marktes folgend – branchenübergreifend ziemlich einzigartig dasteht und die es sich lohnt, näher zu analysieren.
Überproduktion
Vielen Menschen mittleren Alters werden die Begriffe „Milchsee“ und „Butterberg“ aus den 1970er- und 1980er-Jahren bekannt vorkommen. Bis in die 1980er-Jahre hinein garantierte die GAP den europäischen Landwirten einen Mindestpreis für deren Erzeugnisse. Dieser Erzeugerpreis konnte nicht unterschritten werden, egal, wie gut oder schlecht die Ernte ausgefallen war, und egal, wie viel Milch, Fleisch oder Gemüse auf den Markt gebracht wurde. Der marktwirtschaftliche Ausgleich zwischen Angebot und Nachfrage war faktisch außer Kraft gesetzt.
Jeder Bauer konnte mit dem garantierten Mindestpreis für seine Produkte kalkulieren und jeder zusätzlich erzeugte Liter Milch oder Zentner Getreide erhöhte den Betriebsgewinn. Der Absatz war garantiert, denn fast alles, was der Markt vor allem seit Beginn der 1970er-Jahre nicht mehr aufnehmen konnte, weil die Nachfrage hinter dem Angebot zurückblieb, wurde in sogenannte Interventionslager verkauft. Diese wuchsen über die Jahre kontinuierlich an. Um wieder Platz schaffen zu können, wurden regelmäßig Tausende Tonnen Milch oder Tomaten ins Meer gekippt und Weizen verbrannt.
Der Anreiz für die Bauern, immer mehr zu produzieren, war latent vorhanden, allerdings nicht existenziell, denn der garantierte Mindestpreis führte zu einem kalkulierbar sicheren Mindesteinkommen für jeden Betrieb. Die immer wieder neu festgelegten Obergrenzen für verschiedene Produkte – z. B. die Milchquote – wirkten nicht ausreichend dämpfend auf die steigende Überproduktion, sodass sich gegen die ausufernd spektakulären Lebensmittel-Vernichtungsaktionen zunehmend Widerstand aus der Bevölkerung regte.
Effizienzsteigerung
Dies bewog die EU schließlich in den 1980er-Jahren zu einer neuen GAP-Strategie: Dem neoliberalen Zeitgeist folgend, sollten zunehmend Mechanismen des freien Marktes die Überproduktion an landwirtschaftlichen Erzeugnissen bremsen. Die Interventionspreise und Interventionsmengen wurden schrittweise reduziert. Am Ende waren die dort aufgerufenen Preise nicht mehr kostendeckend.
Der Effekt war durchschlagend, allerdings nicht so, wie manche sich das erhofft hätten. Da die Nachfrage nach Lebensmitteln über die Jahre hinweg bei nahezu gleichbleibender Bevölkerungszahl relativ stabil blieb, die deutschen Landwirte aber seit vielen Jahren mehr produziert hatten, als der Markt aufnehmen konnte, gingen die Erzeugerpreise zunächst zurück und stagnierten in der Folgezeit. Die Preise für fast alle anderen Produkte und Leistungen hingegen folgten den allgemeinen Preissteigerungen. Somit trafen stagnierende oder sinkende Einkommen der Landwirte auf steigende Produktionskosten.
Diverse Auswege aus diesem Dilemma wurden geprüft und beschritten, zum einen mit dem Ziel, das Angebot zu reduzieren, zum anderen mit dem Versuch, neue Absatzmöglichkeiten zu finden, also die Nachfrageseite zu stärken. So gab es einige Jahre lang Flächenstilllegungsprämien für Landwirte, die einen Teil ihrer Äcker nicht mehr bestellten. Zusätzlich wurden Exportsubventionen ausgelobt, was u. a. dazu führte, dass billige Lebensmittel nach Asien und Afrika geliefert wurden und bis heute werden, was zur Zerstörung der dortigen Strukturen beitrug.
Am Ende aber schlug die Mehrzahl der Landwirte einen Weg ein, den man im Nachhinein als „Pakt mit dem Teufel“ bezeichnen muss und den ein Begriff umfassend beschreibt: Effizienzsteigerung. Alle Anstrengungen richteten sich nun darauf aus, auf gleicher Fläche mehr zu produzieren, aus gleicher Kuhzahl mehr Milch zu erzeugen, aus gleicher Hühnerzahl mehr Eier herauszuholen, in kürzerer Zeit schwerere Schweine zu produzieren und – nicht zu vergessen! – mit der gleichen Zahl an Arbeitskräften mehr Land und mehr Vieh zu bewirtschaften.
Die verhängnisvolle Spirale war in Gang gesetzt, das Karussell begann sich zu drehen, immer schneller, und seither fliegen immer mehr Landwirte aus der Kurve, denn bei Weitem nicht alle waren zu diesem Wettlauf mit der Natur und mit den eigenen Kräften bereit oder langfristig dazu in der Lage. Die Bilanz, die heute gezogen werden muss, ist eindrucksvoll.
Laut Angaben des Statistischen Bundesamts bewegten sich die Erzeugerpreise, also z. B. der Preis, den ein Landwirt von seiner Molkerei für einen Liter gelieferte Milch erhält, im Jahr 2019 in etwa auf dem Niveau des Jahres 1981. Damals erlöste ein Liter Milch rund 70 Pfennige, heute etwa 35 Cent. Doch die notwendigen Investitionen sind heute sehr viel teurer als damals. Ein durchschnittlicher Mittelklasse-Traktor war 1980 für 40.000 Mark zu haben, heute kostet er 130.000 Euro. Stallneubauten für 60 Milchkühe beliefen sich vor 40 Jahren auf 200.000 Mark, heute für 100 Milchkühe inklusive technischer Ausstattung auf 1,5 Mio. Euro.
Warum ist dieses Missverhältnis aus Einnahmen und Ausgaben nicht längst in sich zusammengebrochen? Das Zauberwort ist oben bereits genannt: Effizienz. Dies funktioniert in der Industrie, wo heute ein VW-Arbeiter in Wolfsburg dank Automatisierung 5-mal so effizient Autos produzieren kann wie 1980 und dafür den 3-fachen Lohn erhält. Eine schöne Win-win-Situation! Auch beim Landwirt klappt das wunderbar: Durch technischen Fortschritt kann er heute nicht mehr nur 30 Kühe betreuen, sondern 130. Diese liefern pro Kopf doppelt so viel Milch wie früher – und schon geht die Rechnung wieder auf: Achtmal mehr Milch bei achtmal höheren Produktionskosten ergeben unterm Strich die „Schwarze Null“.
Nach 35 Jahren Berufsleben ist die Gesundheit aber oft ruiniert: kaputte Knie, Hüften, Lungen. In letzter Zeit häufiger auch der Schein für die Psychiatrie. Und fürs Vieh die Extraportion Soja aus Brasilien, für den Acker die 4-fache Gülle aus dem Stall plus Mineraldünger aus Russland und für den Bayer-Konzern einen schönen Absatz beim Spritzmittel. Für die Umweltschützer hingegen tiefe Sorgenfalten beim Blick aufs Grundwasser und über die ausgeräumten einheitsgrünen Wiesen, wo kein Gras mehr blühen darf, weil der Bauer die Futtermenge braucht, für die vielen Kühe, und die Gülle nur auf kurz Gemähtes gefahren werden kann und nicht ins hohe Gras.
Green Deal
Nun verlangt die Düngeverordnung zu Recht, der Nitratwert im Boden müsse runter, weil wir sauberes Grundwasser brauchen, jetzt und auch übermorgen noch, und so soll der Bauer weniger Gülle fahren. Dann muss er 20 % Kühe schlachten und ihm fehlen zukünftig 20 % Milch und damit 20 % Einkommen. Der Stall ist aber erst in 20 Jahren abbezahlt. Hand aufs Herz, liebe Nicht-Landwirte unter den Leserinnen und Lesern: Bekämen Sie da nicht auch ein klein wenig Panik?
Vielleicht haben Sie jetzt verstanden, wo das Problem liegt und wer an der unbefriedigenden Gesamtsituation die Schuld trägt. Wir alle, unsere neoliberale, markthörige Wirtschaftsweise, haben den Bogen überspannt, die Schraube überdreht, den Krug zu lange ins Wasser gelassen.
Wenn der „Green Deal“ eine Chance bekommen soll, dann wird die ganze Gesellschaft einsehen müssen, dass Effektivität ab einem gewissen Zeitpunkt tödliche Kraft entfaltet, mechanistisch und kalt zum Selbstzweck wird und in ihrer Gnadenlosigkeit alles abräumt, was ihr im Weg steht zur höchsten Vollendung. Die Folgen effektiver Landwirtschaft können wir heute schon erleben, die Folgen effektiver Industrie- und Handelspolitik lassen sich immerhin bereits erahnen.
Wann werden Landwirte und Nicht-Landwirte begreifen, dass sie in einem Boot sitzen, welches weiter Richtung Abgrund treibt, wenn nicht alle in die gleiche, richtige Richtung rudern? Wer kräftig rudern will, braucht unter anderem einen bequemen, stabilen Sitzplatz. Landwirte sitzen derzeit zwischen allen Stühlen und können daher nicht mit uns rudern. Es würde sich lohnen, sie an unsere Seite zu holen, ihnen höflich einen Platz neben uns anzubieten und ein Ruder in die Hand zu drücken.