Sigmaringen, Februar 2020: Rund 50 Interessierte erschienen zur ersten Bieterrunde der neu gegründeten Solawi und ermöglichten schließlich deren Start. – Foto: Solawi-Sigmaringen

Landwirtschaft & Ernährung

Solidarische Landwirtschaft: Positive Zeichen setzen!

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Die Solidarische Landwirtschaft (Solawi) folgt dem Commons-Prinzip: Die Ernte wird solidarisiert. Der Autor dieses Beitrags gründete dafür im Dezember 2019 im baden-württembergischen Sigmaringen einen Verein. Das erste Erntejahr begann im Frühjahr 2020 mit der Bieterrunde. Anschließend: Corona, Diskussionen um den richtigen Weg, ein viel zu trockenes Frühjahr und die erste Ernte im Mai.

von Rüdiger Sinn

 

Es ist Mitte Februar, ich schaue auf die Uhr. Noch 10 Minuten bis zum Beginn der Bieterrunde. Bislang ist der Gemeindesaal der evangelischen Stadtkirche nicht üppig gefüllt. Ich bin nervös. Kommen genügend Menschen, damit wir mit der Solawi starten können? Welche Fragen werden kommen? Ist die Kalkulation stimmig? Vertrauen uns die Menschen?

Seit der Vereinsgründung im Dezember wurden für Interessierte etliche Informationen herausgegeben. Es wurden eine Internetseite gestaltet, Newsletter verschickt und Zeitungsartikel geschrieben. Das Ziel einer Findungsgruppe war, eine Solidarische Landwirtschaft in der 17.000-Einwohner-Stadt Sigmaringen zu gründen. In Deutschland gibt es mittlerweile rund 270 aktive CSA, wie eine Solidarische Landwirtschaft oft auch genannt wird. Die Abkürzung stammt vom englischen „Community Supported Agriculture“. Es handelt sich also um eine Landwirtschaft, die von einer Gemeinschaft getragen wird.

Um den Slogan „Wir teilen uns die Ernte“ mit Leben füllen zu können, bedarf es einer Gemeinschaft, die sich verpflichtet, ein Erntejahr zu begleiten und finanziell zu tragen. Dabei werden sämtliche Kosten gerechnet. Diese Gesamtsumme wird durch die Anzahl der Anteilsnehmerinnen und -nehmer geteilt. Dieser monatliche Wert gilt als Grundlage für die Bieterrunde.

Mittendrin in der Bieterrunde

Die Bieterrunde ist eines der wichtigsten Elemente einer Solawi: In einem gemeinschaftlichen solidarischen Prozess wird dabei der errechnete monatliche Wert auf alle, die mitmachen wollen, verteilt. Der Betrag ergibt sich aus der Jahreskalkulation. Zusammen mit dem Gärtner und auf Grundlage anderer Solawis wurde gerechnet, im Vorstand debattiert und nach Konsenslösungen gesucht. Brauchen wir Rücklagen? Gibt es einen Finanzpuffer? Wie gut bzw. wie fair wird der Gärtner bezahlt? Das Konsensmodell steht auch als Empfehlung in unserer Satzung: Abstimmungen mit einfachen Mehrheiten wird es also nicht geben.

Im Vorstand waren wir uns aber nicht immer einig. Ich erinnere mich an die Diskussion, ob wir den Mitgliedsbeitrag festlegen oder einen Richtwert vorgeben, bei dem dann jeder für sich entscheiden kann, wie hoch dieser individuell ausfällt. Nutzt das jemand aus, will uns jemand schaden? Es gab viele Vorbehalte. Später zeigt ein Blick auf die Mitgliedsanträge jedoch, dass das Unbehagen unbegründet war. Niemand hat den Richtwert für den Mitgliedsbeitrag unterboten, sehr viele haben aber mehr eingetragen als 18 Euro für Einzelmitglieder pro Jahr.

Ich bin erleichtert, als sich kurz vor 16 Uhr viele Menschen in den Saal drängen. Viele Familien sind da, haben ihre Kinder mitgebracht. Die schaffen sich ihr eigenes kleines Reich im Nebenraum. Spiele sind aufgebaut, auch „Lotti Karotti“, bei dem Hasen hüpfenden Karotten nachjagen – wie passend!

Rückbesinnung auf naturnahe Landwirtschaft

Wir beginnen fast pünktlich. Iris Müller vom Vorstand hat einen Einstiegstext vorbereitet. Er handelt von der Rückbesinnung des Menschen zur Natur, stellt die moderne industrielle Landwirtschaft infrage. Auch wir wollen mit unserer Solawi Anstöße geben, ein positives Signal senden. Das frühe Frühjahr 2020 ist geprägt von Diskussionen um industriell hergestellte Nahrungsmittel, unzufriedene demonstrierende Landwirte, die unter dem Preisdiktat von Konzernen leiden, und um Bio-Gurken, die in Plastikfolien eingepackt sind. Wir wollen eine Alternative aufzeigen. Die Vorstellung des Prinzips soll auch den „Geist“ dieser solidarischen Methode aufzeigen: Alle, die heute da sind, sind Pioniere, die eine alternative Wirtschafts- und Anbauform etablieren können.

Dann stellt sich unser Gärtner vor. Reinhold ist ausgebildeter Landwirtschaftsmeister und im elterlichen bäuerlichen Betrieb aufgewachsen. Erfahrungen im Gemüsebau konnte er sich bei der Solawi in Heidelberg aneignen. „Ich spreche für gewöhnlich nicht vor so vielen Menschen, sondern vor allem mit Pflanzen“, sagt er und hat die Lacher auf seiner Seite. Tatsächlich ist er ein zurückhaltender Mensch, der neben der Solawi noch auf dem elterlichen Hof hilft, den seine Schwester übernommen hat. Er zeigt auf einem Schaubild, welches Gemüse angebaut und in welchen Monaten es reif sein wird und geerntet werden kann. Auch an Lagergemüse ist gedacht – Kartoffeln, Karotten und Pastinaken –, sodass ein gesamtes Erntejahr abgedeckt werden kann.

Es gibt viele Fragen, angefangen von der Größe des Anteils und für wie viele Personen das reicht – die Frage, die die meisten Menschen interessiert, aber nur ungefähr beantwortet werden kann, weil sich jeder ganz individuell ernährt –, über Naturschutz auf dem Acker, den Abholraum, bis hin zur Frage, ob wir vom Vorstand das alles ehrenamtlich machen – Antwort: Ja!

Wie viele machen mit? Wie hoch ist der Richtpreis

Die wichtigste Frage von uns an die Interessenten lautet: Wer möchte mitmachen und wie viele Anteile haben? Viele Hände gehen in die Höhe. Wir zählen und kommen auf 46. Ich freue mich und bin erleichtert, haben wir doch bei 40 Anteilen eine magische Untergrenze erdacht. Schließlich sind die Fixkosten durch die Lohn- und Lohnnebenkosten so hoch – bei einer halben Gärtnerstelle rund 1.800 Euro/Monat brutto, d. h. 1.000 Euro/Monat netto –, sodass es so viele Unterstützerinnen und Unterstützer braucht, damit der monatliche Anteil nicht zu teuer wird. 60 Euro pro Anteil ist für viele Menschen die Obergrenze.

46 Anteile sind perfekt, um zu starten. Wir erhöhen zusätzlich um 3 weitere Anteile, um Nachzüglern die Möglichkeit zu geben, mitzumachen, und errechnen einen Richtpreis: 49,36 Euro spuckt der Taschenrechner aus. Mit diesem Durchschnittsbetrag gehen wir nun ins tatsächliche Bieterverfahren.

Nach einer Pause, bei der die Mitgliedsanträge verteilt und ausgefüllt werden, geht es los. Alle müssen pro Anteil einen Zettel ausfüllen, ihren Namen eintragen und einen Betrag, den sie selbst bestimmen. Hier können nun diejenigen, die weniger Geld zur Verfügung haben, einen niedrigeren Betrag angeben, und andere, die mehr zahlen können, einen höheren – einer der wichtigsten solidarischen Aspekte der Bieterrunde. „Ich habe gerade meine Arbeitszeit im Job reduziert, weil wir Nachwuchs bekommen haben“, erzählt einer der Mitbietenden, der ein fünf Monate altes Mädchen auf dem Arm hält. Genau für solche Fälle ist dieses System prädestiniert.

Im ersten Durchgang das gewünschte Ergebnis

Erreichen wir im ersten Durchgang den Richtwert? Es bleibt spannend. Die Pause nutzen die zukünftigen „Prosumenten“ – eine Wortschöpfung aus „Produzent“ und „Konsument“ –, um sich am Kuchenbüfett zu stärken. Beim Zusammenrechnen kommen wir auf eine monatliche Summe, die wir durch 49, also die Anzahl der Anteile, teilen. Und bekommen ein Ergebnis, das uns freut: 49,93 Euro zeigt das Display des Rechners an. Wir haben schon im ersten Durchgang der Bieterrunde den anvisierten Betrag geschafft.

Ein warm-wohliges Gefühl durchströmt mich, es ist vollbracht! Die Geburtsstunde der Solawi wird von Applaus begleitet. „Wir alle haben das gemeinsam geschafft und können uns beglückwünschen“, sage ich nach der Bekanntgabe des Ergebnisses und blicke in zufriedene Gesichter.

Nicht zu unterschätzen ist, was dann kommt, nämlich der administrative Teil. Wir starten mit knapp 50 Menschen. Der Mitgliedsbeitrag muss eingezogen werden – oder auch nicht, weil die IBAN falsch angegeben ist. Dann gehen Anfang des Monats die regelmäßigen Monatszahlungen ein – oder womöglich nicht, weil vergessen wurde, den Dauerauftrag einzurichten. Diejenigen, die die Kasse verwalten, kommen in den nächsten Wochen ganz schön ins Schwitzen.

Mehr Mitglieder bedeutet also auch: mehr Arbeit. Nicht zum ersten Mal denke ich, dass eine ehrenamtliche Tätigkeit in einer Vereinsstruktur dafür eigentlich nicht geeignet ist. Den Verein haben wir, weil wir in Zukunft Workshops und Vorträge anbieten wollen. Die Gemeinnützigkeit steht allerdings aus. Gärtnern ist sicher systemrelevant – dieses Wort werden wir zukünftig öfter hören –, aber es ist nicht gemeinnützig.

Auf dem Acker

Anfang März tut sich zum ersten Mal etwas auf dem Acker. Der Boden wird mit einer alternativen, wenig CO2 freisetzenden Methode in Streifen umgebrochen und die ersten Kulturen werden eingesät. Der Vorteil: Weniger Boden liegt frei und das gemähte Gras zwischen den Anbaustreifen kann direkt wieder zum Mulchen als Bodenbedeckung genommen werden. Eine Vorgehensweise, die Gärtner Reinhold favorisiert, um Kohlenstoff in den Boden zu bringen.

Und dann auch noch Corona …

Corona traf uns Ende März, just als wir die erste Ackerbegehung mit den Mitgliedern planten. Trotz erster Beschränkungen gab es ein Treffen. Die ersten Streifen waren umgebrochen. Die Mitglieder sahen, was es zu tun gab bis Anfang Mai, der geplanten ersten Ernte. Der Abholraum musste erst noch geschaffen, eine Regenwasserversorgung aufgebaut, das Kräuterbeet angelegt werden. Mit dem Online-Tool „Trello“ schufen wir eine Kommunikationsplattform, über die wir kommunizierten. Auf dem Feld konnten wir Abstandsregelungen gut einhalten.

Wo bleibt das Wasser von oben?

Im April und Mai wurde eine kleine Wasserversorgung aufgebaut. Über das Dach unseres Geräteschuppens fließt nun das Wasser über eine selbst gebaute Dachrinne in einen 800-Liter-Tank. Weitere Wasserspeicher sind in Aussicht, unter anderem das ehemalige Silo der Bauernfamilie. Allein das Wasser von oben fehlt, um die Tanks aufzufüllen und Regen auf die Felder zu bringen. Große Trockenheit herrscht im April, Anfang Mai regnet es endlich. Die Kartoffeln sind im Boden, die meisten Kulturen entweder gesetzt oder gesät – und es wächst und sprießt überall.

Die Herausforderungen hören aber nicht auf: Kurz bevor die erste Ernte ansteht, bekommen wir eines Morgens von unserem Gärtner ein Bild mit abgefressenen Kohlblättern geschickt. Ein Hase hat sich aufs Feld verirrt und lässt es sich schmecken. Wir diskutieren verschiedene Lösungen, zunächst fungiert ein altes Radio mit Zeitschaltuhr als Hasenschreck.

Trotz oder gerade wegen dieser vielfältigen Aufgaben ist die Freude groß, als die erste Ernte in der zweiten Maihälfte kommt: Geerntet werden ein Salatkopf und rund 15 Radieschen. Nicht viel, zumal die Mitglieder zwei Monate in Vorleistung gegangen sind, ohne etwas zu bekommen. Im März startete schließlich schon das Erntejahr.

Vereinsmitglied Heike Romer kommt mit ihren Kindern Fanny und Ben zum Abholen auf den Acker. „Wir sind total zufrieden“, sagt sie. Immer wieder waren die drei auf dem Gelände und haben unter anderem geholfen, Rotkohl und Sellerie zu setzen. „Ich bin stolz, dass es funktioniert hat und jetzt so gut wächst“, sagt die neunjährige Fanny, die den Rotkohl begutachtet und sich über eine besonders große Pflanze freut.

Genau das, diese Verbindung von jungen Menschen zum Acker, zum Boden, zu den Pflanzen, ist das, was wir – neben der eigentlichen Ernte mit einer Vollversorgung – mit der Solawi anstreben. Es braucht das alte Wissen über Pflanzen und Anbaumethoden, um Nahrungsmittel in Zukunft regional und naturnah herstellen zu können!


Onlinetipps

Netzwerk Solidarische Landwirtschaft
Solidarische Landwirtschaft
www.solidarische-landwirtschaft.org

Bundeszentrum für Ernährung
Solidarische Landwirtschaft
www.t1p.de/5dzx

Rüdiger Sinn
SoLaWi-Sigmaringen
www.solawi-sigmaringen.de

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