Vögel – faszinierendes Beispiel des „Elan vital“
2. April 2020
Vögel können selbstständig fliegen. Und Greifvögel haben sehr gute Augen und können aus großer Höhe erkennen, was sich unter ihnen am Boden abspielt. Diese beiden Erkenntnisse würden wohl auch den meisten Menschen einfallen auf die spontane Frage, was die Vögel von den Menschen unterscheidet. Dass Vögel offensichtlich einer „höheren Ordnung“ folgen als wir Menschen, das kann man im Buch „Nestwärme – Was wir von den Vögeln lernen können“ des erfahrenen Naturliebhabers Ernst Paul Dörfler in einer Haltung des Staunens und Bewunderns erkennen – und auch demütig anerkennen.
Der Buchtitel „Nestwärme“ kommt nicht von ungefähr, denn seit über 10 Jahren „brütet“ Dörfler über der Frage, was Vögel mit uns Menschen gemein haben. Bereits im Jahr 2009 erschien sein Buch „Die Liebe der Vögel“, 2010 folgte „Was Vögel futtern“, 2013 „Liebeslust und Ehefrust der Vögel“. In allen drei Büchern zeigt er Unterschiede zwischen Menschen und Vögeln auf. Im neuen Buch weitet er den Blick nun auf das Ganze und Ganzheitliche. Er kommt dabei zu erhellenden Einsichten, die zu Gemüte zu führen sich wirklich lohnen. Es ist ihm ein Buch voller Poesie und Bewunderung für die Welt der Vögel gelungen.
Naturliebhaber, Naturbeobachter, Naturschützer
Man spürt Dörflers starke Bezogenheit zur Natur, die ihn schon ein Leben lang begleitet und prägt. Nicht zuletzt deshalb wurde die Natur auch seine Berufung, die er mit großer Leidenschaft lebt: Er leidet nachvollziehbar an der Entfremdung der Menschheit von der Natur und ihrer Schöpfung. In einem Dorf in der ehemaligen DDR und unmittelbar am Ufer der Elbe aufgewachsen, erlebte er in seiner Kindheit noch das „ursprüngliche“ Leben. Es war sicher nicht so zufällig, dass er danach Chemie studierte, denn damit konnte er die Grundlage für jede Art von Leben beobachten: die Wasserqualität der Seen, Flüsse und Bäche. Sehr bald wurde er dabei mit einem Gewissenskonflikt konfrontiert: Es musste immer mehr zwischen den amtlich-staatlichen Interessen und seinem persönlichen Wissen unterscheiden. Diesen Interessenskonflikt konnte er auf Dauer nicht verdrängen oder verleugnen. Er geriet deshalb bald ins Visier der Stasi.
Durch die Wiedervereinigung wurde er aus diesem Konflikt – erst mal – befreit. Sehr bald musste Dörfler aber erkennen, dass auch im kapitalistischen Westsystem die Natur nicht an der Spitze der Werte steht. So drohte, dass „seine Elbe“ und die mit ihr verbundene Natur zum Opfer der Schifffahrt wird: Sie sollte aus wirtschaftlichen Gründen vertieft werden. Er war erneut gezwungen, als Umweltaktivist seinen Platz in der Gesellschaft zu suchen und zu finden. Selbstbestimmung statt Fremdbestimmung war für ihn also ein Leben lang ein existenzielles Thema.
Bergson und die Philosophie des Lebendigen
Kein Wunder also, dass Dörfler die Vögel als „Muster der Eigenständigkeit“ entdeckte. So beschreibt er in diesem Buch zum Beispiel deren Kleidung als einen Teil ihrer Identität. Bei Menschen dagegen habe sie oft die Funktion der Tarnung und Täuschung. Auch die Ernährung sei bei den Vögeln origineller als bei Menschen: frisch, saisonal und unverpackt. Und Flüggewerden sei bei den Vögeln überhaupt kein Familiendrama: Die Fütterung durch die Eltern werde einfach eingestellt! Und schließlich sei auch das Altern in der Vogelwelt kein Problem: Demenz und Hörverlust gebe es bei den Vögeln schlichtweg einfach nicht.
Dörfler schreibt mit großem Sachverstand und mit viel Liebe zum Detail. Er riskiert auch den Mut zur Lücke, denn viele Beobachtungen sind wohl noch nicht ausreichend wissenschaftlich bewiesen. Es geht ihm aber auch nicht um eine Aufzählung von Fakten, sondern er schildert in erzählender Sprache eine „Anderwelt“. Er richtet mit seinem Buch den Blick auf einen Bereich der Natur, dem wir moderne Menschen uns weit überlegen fühlen. In Wirklichkeit liegt das Leben der Vögel offensichtlich der schöpferischen Ordnung viel näher. Dies wiederum erinnert an den Begriff „Elan vital“, der wörtlich übersetzt etwa „lebendiger Schwung“ oder „lebendige Begeisterung“ bedeutet. Er stammt vom französischen Philosophen Henri Bergson (1859–1941).
In seinem 1907 erschienenen Werk „Schöpferische Evolution“ vertrat er die Auffassung, die Natur beruhe nicht auf dem Ursache-Wirkung-Prinzip, vielmehr wirke im Leben eine viel ursprünglichere Kraft, eben der „Elan vital“, der kreativ, schöpferisch und unberechenbar wirke. Dörfler ist es gelungen, diesen „Elan vital“ am Beispiel der Vögel nachvollziehbar zu beschreiben.
Ernst Paul Dörfler
Nestwärme
Was wir von Vögeln lernen können
Hanser, Januar 2019
288 Seiten, 20.00 Euro
978-3-446-26185-3