„Autofahren macht süchtig“
15. Oktober 2019
Inwieweit brauchen wir das Auto wirklich? Der meiste Autoverkehr geschieht nicht aus Zwang, sondern aus einer emotionalen Abhängigkeit – ähnlich wie das beim Rauchen der Fall ist. Das sagt ein prominenter Autokritiker. Und analog zum Rauchen sollte auch das Autofahren als gesundheitsgefährdend eingestuft und entsprechend reglementiert werden.
Interview mit Klaus Gietinger
ÖkologiePolitik: Herr Gietinger, was hat Sie dazu gebracht, sich in das Thema „Automobilität“ einzuarbeiten und darüber sogar zwei Bücher zu schreiben?
Klaus Gietinger: Ich halte es für selbstverständlich, dass man sich mit diesem mörderischen Thema befasst, aber die Frage wird mir tatsächlich immer wieder gestellt. Und ich antworte dann immer, dass ich seit über 40 Jahren den Führerschein habe, zwei Unfälle mit Blechschäden hatte und vor 35 Jahren mein Auto abgeschafft habe. Das tat ich vor allem auch deshalb, weil ich mehrfach zu tödlichen Unfällen dazukam und weil ich Verwandte und Bekannte durch das Auto verloren habe. 1983 drehte ich einen Film für die Grünen gegen eine Umgehungsstraße am Bodensee. Die war zwar nicht gänzlich zu verhindern, aber aufgrund des Filmes wurde die Straße modifiziert, ja sogar eine Abfahrt fallen gelassen. Mir wurde klar, dass man Einfluss auf die Verkehrsplanung nehmen kann. Und dann begann ich zu recherchieren, kontaktierte über Jahre hinweg alle statistischen Institute der Erde, die sich mit Verkehrsopfern befassten, und erkannte immer mehr, dass das Auto eine Massenvernichtungswaffe ist.
Warum schrieben Sie neun Jahre nach ihrem ersten Buch nun noch ein zweites? Neue Erkenntnisse?
Ja, neue Erkenntnisse: Dieselgate, Feinstaubgate, Stickoxidbetrug, Klimakatastrophe. Alles wurde zwar bereits 2010 im ersten Buch behandelt, aber damals nur bruchstückhaft. Jetzt zeige ich den ganzen Salat. Auch die SUVs gab es damals schon, aber bei Weitem noch nicht so zahlreich wie heute. Ich bin übrigens der erste Mensch, der ziemlich exakt ausgerechnet hat – mit viel Empirie und einem mathematischen Modell, das mir noch keiner widerlegt hat –, wie viele Menschen durch das Auto auf der Straße starben, seit Carl Friedrich Benz dieses Vehikel erfand. Bislang sind es weltweit insgesamt 54 Mio., aktuell 1,35 Mio. pro Jahr, in Deutschland 10 pro Tag. Tendenz: steigend.
Trotz vieler guter Gründe fällt es vielen Menschen emotional schwer, auf ein Auto zu verzichten. Es scheint geradezu Teil ihrer Identität zu sein. Woher kommt das?
Das Durchdrücken des Gaspedals erfordert viel weniger Energie als das Gehen oder das Radfahren. Gleichzeitig kommen viel mehr Power und Geschwindigkeit dabei heraus. Das verschafft Omnipotenzgefühle. Beim Autofahren ist vorderhand nicht das Kommen von A nach B das Treibende, sondern der Fahrspaß. Der weitaus größte Teil des Autoverkehrs ist Spaßverkehr. Dann kommt hinzu, dass durch die Motorisierung und durch den Städtebau der letzten 70 Jahre das Privatauto in manchen Bereichen fast unersetzlich ist. Autofahren macht süchtig. Autokonzerne sind mächtige Drogenkartelle.
Wie entwöhnt man Auto-Süchtige?
Ich habe einmal „anonyme Autoholiker“ vorgeschlagen. Man kann aber auch durch tatsächliche Alternativen wie Radfahrnetze und einen flächendeckenden öffentlichen Personennah- und -fernverkehr den motorisierten Individualverkehr zurückdrängen. Und zugunsten der anderen Mobilitätssysteme Räume für einen Umweltverbund schaffen. Ganz wichtig ist dabei die Reduktion der Geschwindigkeit auf allen Straßen und bei allen Fahrzeugen. Wichtig sind auch dichte Netze und die konsequente Vernetzung des Fahrrads mit dem öffentlichem Personennah- und -fernverkehr. Und beim öffentlichem Personennahverkehr sind die Trambahn- und Bus-Netze massiv auszubauen.
Was würden Sie tun, wenn Sie Verkehrsminister wären?
SUVs verbieten. Die Autos aus den Innenstädten jagen. Tempolimits einführen: 100 km/h auf der Autobahn, 70 km/h auf der Landstraße und 30 km/h in der Stadt. Alle Wege verkürzen. Die Autoindustrie und den Boden in den Kommunen vergesellschaften. Einen Preisstopp für Boden und Mieten sowie hohe Strafen für Verkehrsübertretungen einführen. Das Bahnnetz von den heutigen 33.000 auf 70.000 km ausbauen. Tausende von Bahnhöfen revitalisieren – mit Personal, Trambahnen, Bussen, Sammeltaxis und Parkverbot, zuerst in den Innenstädten, dann in den restlichen Stadtgebieten. Als Übergang dienen Quartiersgaragen, in denen einzig geparkt werden darf. Wir brauchen unterschiedlichste Fahrradnetze von hoher Qualität, immer den Autostraßen abgezogen, gesichert und abgepollert. Und den verpflichtenden Aufkleber „Autofahren erzeugt Krebs und tötet“. Mehr dazu in meinem Buch.
Herr Gietinger, herzlichen Dank für das interessante Gespräch.
Buchtipps
Klaus Gietinger
Vollbremsung
Warum das Auto keine Zukunft hat und wir trotzdem weiterkommen
Westend, Juni 2019
192 Seiten, 16.00 Euro
978-3-86489-280-6
Klaus Gietinger
Totalschaden
Das Autohasserbuch
Westend, April 2010
320 Seiten, 14.95 Euro
978-3-93806-047-6