„Sinnliche Erfahrungen ermöglichen“
24. Juli 2019
Die Stiftung „anstiftung“ wurde 1982 gegründet, um nachhaltige Lebensstile zu erforschen und zu fördern. Dabei wurden das partizipative Umgestalten von Stadträumen, der Anbau von Nahrungsmitteln sowie das gemeinschaftliche Herstellen und Reparieren von Dingen zu ihren Schwerpunktthemen. Sie berät und begleitet zahlreiche Initiativen.
Interview mit Dr. Christa Müller
ÖkologiePolitik: Frau Dr. Müller, was ist Commoning?
Dr. Christa Müller: Der Begriff „Commons“ adressiert Gemein- oder Gemeinschaftsgüter. „Commoning“ bedeutet entsprechend: einen Umgang mit Dingen, sozialen Verhältnissen und Institutionen, als seien sie Gemeingüter, gehörten also nicht einigen wenigen, sondern gewährten freien Zugang für alle. Diese Konzentration auf ein einschließendes „Gemeines“ erfordert ökologisch ausgerichtete, vorsorgende Formen kollaborativen und kooperativen Wirtschaftens.
Warum erlebt das Commoning derzeit einen Boom?
Dafür gibt es unterschiedliche Gründe. Commonsorientierte Haltungen und Interventionen sind ebenso konstruktive wie pragmatische Entgegnungen auf die Verwerfungen des industriell-digitalen Kapitalismus, wie z. B. das Verschließen von Wissen oder die Privatisierung von öffentlichen Gütern.
Ähnliches gab es bereits in der Vergangenheit, z. B. in der Hippie-Bewegung. Was ist neu? Wo liegen die Unterschiede?
Jede Zeit bringt die ihr eigenen Bewegungen und Formen des Politischen hervor. Die Commons-Bewegung ist definitiv auch von Teilen der technikaffinen Hippiebewegung inspiriert, insofern sie Technik für alle zugänglich machen will, z. B. in Fab Labs und anderen offenen Werkstätten. Sie versteht sich selbst aber nicht primär als Gegenbewegung, sondern nimmt vielmehr eine vermittelnde Rolle ein. Das Commoning in seinen unterschiedlichen Ausprägungen wie der Urban-Gardening- oder der Open-Source-Bewegung ist eine Antwort auf gesellschaftliche Entwicklungen wie die Virtualisierung und die damit einhergehende Entfremdung von der Natur und von handwerklichen Tätigkeiten. Diese Bewegungen sind zudem von der Erkenntnis getragen, dass die ökologische Frage längst zur gesellschaftlichen Schlüsselfrage geworden ist.
Handelt es sich beim Commoning eher um eine vorübergehende Modeerscheinung oder um einen langfristigen Trend?
Weder noch. In der Form von Urban-Gardening-Projekten, Reparatur-Initiativen oder Offenen Werkstätten – alles drei Projektformen, die übrigens die anstiftung bundesweit unterstützt, vernetzt und forschend begleitet – handelt es sich um commonsorientierte Praxen, die dabei sind, sich zu etablieren und zu konsolidieren. Ihre Protagonistinnen und Protagonisten stellen allein durch ihr Handeln und ihre Anwesenheit im Stadtraum den dominanten, marktorientierten Umgang mit Stadtnatur oder mit dem Recht auf Wohnen sowie die engen Grenzen eines „Konsumentenbürgertums“ infrage. Und die gesellschaftlichen Tendenzen zur Virtualisierung mit den Folgen eines zunehmenden Abgeschnittenseins von sinnlichen bzw. haptischen Erfahrungen im Alltag und der fehlenden Möglichkeiten des Selbergestaltenkönnens wird mit der intensivierten Digitalisierung eher mehr denn weniger als Sinnverlust wahrgenommen werden.
Wie politisch ist die Commons-Bewegung?
Das hängt davon ab, ob man ein konventionelles Politikverständnis zugrunde legt oder aber auch unerwartete Wechselwirkungen in das Verständnis politischer Prozesse einfließen lässt.
Lenkt das viele „Machen“ nicht von der politischen Reflexion und vom politischen Protest ab?
Eher umgekehrt. Politischer Protest und politische Forderungen erhalten durch die komplementären Praxen des „Machens“ eine eigene Wirksamkeit. Das heißt, das Machen an sich, das Selberproduzieren von lebensnotwendigen Dingen oder einfach nur das Ausdrucken von Ersatzteilen mit dem 3-D-Drucker erweitern die Möglichkeiten der Einzelnen oder der Kollektive in einem volkswirtschaftlichen Kontext, der sie nur als Konsumenten ansieht. Werden Dinge entgegen der Industrielogik selber hergestellt und kleinteilig produziert, repariert und haltbar gemacht, wirken politische Forderungen, wie sie z. B. im Reparatur-Manifest formuliert sind, sehr viel stärker in die Öffentlichkeit als ein rein abstrakt-theoretischer Forderungskatalog. So werden die Forderungen des „Runden Tisches Reparatur“, eines Zusammenschlusses von Reparatur-Initiativen, Verbraucherzentralen und Umweltverbänden, durch jede erfolgreiche Reparatur im Repair Café alltagspraktisch unterstrichen und damit verstärkt.
Strebt die Bewegung auch gesellschaftspolitische Ziele an, deren Erreichung sie eines Tages überflüssig werden lässt?
Warum sollten sie überflüssig werden? Vorstellungen von einer „gartengerechten Stadt“, wie sie im Urban-Gardening-Manifest den Realitäten einer „autogerechten“ Stadt gegenübergestellt werden, oder die Durchsetzung reparaturfreundlicher Gebrauchsgüter sind ja nicht nur Mittel zum Zweck, sondern zugleich auch verbunden mit attraktiven Praxen, die Sinn stiften, sinnliche Erfahrungen ermöglichen und Menschen zusammenbringen.
Frau Dr. Müller, herzlichen Dank für das interessante Gespräch.
Buchtipps
Andrea Baier, Tom Hansing, Christa Müller, Karin Werner (Hrsg.)
Die Welt reparieren
Open Source und Selbermachen als postkapitalistische Praxis
Transcript, November 2016
342 Seiten, 19.99 Euro
978-3-8376-3377-1
Andrea Baier, Christa Müller, Karin Werner
Stadt der Commonisten
Neue urbane Räume des Do it yourself
Transcript, Mai 2013
232 Seiten, 24.90 Euro
978-3-8376-2367-3
PDFs kostenfrei downloadbar: www.t1p.de/5ugh
Christa Müller (Hrsg.)
Urban Gardening
Über die Rückkehr der Gärten in die Stadt
Oekom, März 2011
352 Seiten, 19.95 Euro
978-3-86581-244-5
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Onlinetipps
anstiftung
www.anstiftung.de
Netzwerk Reparatur-Initiativen
www.reparatur-initiativen.de
Verbund Offener Werkstätten
www.offene-werkstaetten.org
Runder Tisch Reparatur
www.runder-tisch-reparatur.de
Reparatur-Manifest
https://de.ifixit.com/Manifesto
Urban-Gardening-Manifest
www.urbangardeningmanifest.de