„Wir hatten ein provokantes Thema“
19. Dezember 2017
Im vergangenen Bundestagswahlkampf erreichte die ÖDP im Wahlkreis Weilheim-Schongau/Garmisch-Partenkirchen ihr bundesweit bestes Ergebnis (ÖkologiePolitik berichtete). Als Renner erwies sich die lokale Kampagne „Mensch vor Auto“, die das Tempo für den motorisierten Verkehr innerorts auf 30 km/h beschränken will. Der Garmisch-Partenkirchener ÖDP-Kreisvorsitzende Rolf Beuting ist zugleich Bürgermeister des Marktes Murnau. In seinem Amt wird er regelmäßig mit Beschwerden von Bürgern über Raser in den Wohngebieten konfrontiert. Im Interview mit ÖkologiePolitik erklärt er, wie es zur der Kampagne kam und wie die Bürgerinnen und Bürger sowie der Bundesverkehrsminister darauf reagierten.
Herr Rolf Beuting, wie sind Sie auf die Idee gekommen?
Als Bürgermeister erlebe ich jeden Tag, dass zu viel (Auto-)Verkehr zu schnell und zu rücksichtslos unterwegs ist. Es ist eine weitverbreitete Wahrnehmung der Bürgerinnen und Bürger, dass der gestiegene Autoverkehr die Sicherheit und die Lebensqualität der Menschen sehr stark einschränkt. Oft geht es in unseren Städten und Gemeinden inzwischen zu wie im Wilden Westen. Schilder und Regeln haben für viele Autofahrer noch bestenfalls Empfehlungscharakter. Ich halte es für geboten, vor diesem Hintergrund die Belange der Menschen im Verkehr über die der Autos zu stellen, daher „Mensch vor Auto“.
Warum fordern Sie Tempo 30 innerorts?
Mit Tempo 30 innerorts werden zwei Ziele ohne großen Aufwand umsetzbar. Zum einen geht es um mehr Sicherheit in unseren Kommunen. Der Bremsweg verkürzt sich dramatisch und die Auswirkungen von Unfällen sind weniger schlimm als bei höheren Geschwindigkeiten. Zum zweiten senkt Tempo 30 den Lärmpegel des Straßenverkehrs erheblich: 50 Autos, die mit Tempo 50 unterwegs sind, machen so viel Lärm wie 100 Autos, die Tempo 30 fahren. Bedenkt man, dass der Pkw-Bestand in den letzten neun Jahren bayernweit um eine Million auf 7,7 Millionen gestiegen ist, kann man auch verstehen, warum jetzt das Problem so stark wahrgenommen wird.
Soll Tempo 30 überall gelten?
In unserer regionalen Kampagne haben wir uns dafür eingesetzt, dass künftig Tempo 30 automatisch dann gilt, wenn man innerorts Bundes- oder Staatsstraßen verlässt. Wir halten eine schrittweise Vorgehensweise für klug, um möglichst viele Bürger zu überzeugen. Natürlich wäre es auch vorstellbar, im gesamten innerörtlichen Bereich Tempo 30 anzuordnen. Das würde eine Vielzahl von Schildern überflüssig machen. Ein riesiger Vorteil.
Wie haben die Mitglieder des Kreisverbandes auf die Kampagne reagiert?
Zunächst durchaus reserviert, da das Thema als „Verbotsthema“ wahrgenommen wurde. Die Mitglieder haben richtig eingeschätzt, dass jede Regelung und Einschränkung des Autoverkehrs in Deutschland noch immer als „Menschenrechtsverstoß“ gewertet wird. Und in der Tat ist es so, dieses Thema wird in der Gesellschaft sehr unterschiedlich gesehen. Aber: Die eine Hälfte, und das ist die stillere, wünscht sich eine solche Geschwindigkeitsbeschränkung. Als die Mitglieder erkannt haben, dass die Kampagne funktioniert, ist aus Erleichterung Motivation geworden.
Wie reagierten die Bürgerinnen und Bürger?
Wir haben im Rahmen des Bundestagswahlkampfes ca. zehn Infostände organisiert. Es war uns einfach zu wenig, nur Flyer und Werbematerial zu verteilen. Wir hatten ein provokantes Thema. An unseren Ständen war stets guter Besuch und wir haben in kürzester Zeit weit über 1.000 Unterschriften eingesammelt. Und das nur in unserem Wahlkreis. Ich schätze, dass man bayernweit mit diesem Thema schnell 100.000 Unterschriften einsammeln könnte. Insbesondere Frauen, Senioren und Familien mit Kindern haben unser Anliegen intuitiv unterstützt.
Im September übergaben Sie dann zahlreiche Unterschriften an den damaligen CSU-Verkehrsminister Alexander Dobrindt. Wie hat der reagiert?
Herr Dobrindt hat uns per Antwort aus seinem Ministerium klargemacht, dass er das Anliegen nicht teilt. Er hält die bisherigen Regeln für ausreichend. Das haben wir aber auch nicht anders erwartet. Deshalb ist es ja an der Zeit, dass die ÖDP dieses Anliegen bundesweit einbringt.
Was, glauben Sie, muss sich sonst noch an der kommunalen Verkehrspolitik ändern, abgesehen von einer Temporeduzierung?
Die Menschen müssen ihr Verkehrsverhalten hinterfragen. Der Stau und der ganze Verkehr, das sind doch wir alle! Bevor man eine Fahrt antritt, sollte man überlegen, ob es wirklich erforderlich ist, das Auto zu wählen. Vielleicht geht es ja mit dem Rad eigentlich viel schneller. Mich stimmt es sehr optimistisch, dass gerade die jüngere Generation in den großen Städten ein zunehmend bewussteres Mobilitätsverhalten zeigt. Das eigene Auto vor dem Haus hat nicht mehr den gleichen Kultstatus wie früher. Ich hoffe, dass das zu uns aufs Land herauswächst. Dann können wir etwas richtig Großes bewegen und eine Verkehrswende erzeugen.
Wohl auch aufgrund der Kampagne holten Sie ein verhältnismäßig gutes ÖDP-Ergebnis. Lassen sich Schlüsse aus Ihrem Vorgehen ziehen, die für andere ÖDP-Verbände von Interesse sein könnten?
Ich meine, dass es sehr wichtig ist, auf das zu hören, was viele Bürger beschäftigt. Das sind mitunter andere Themen als die, die wir gerade als Partei im Kopf haben. Wir bedienen schon sehr gut die Themen, die für 2 % der Bevölkerung relevant sind. Um den Sprung in den Landtag zu schaffen, braucht es allerdings künftig eine größere Themenbreite und Bürgernähe als bisher.
Herr Beuting, wir danken Ihnen für das Gespräch!