
Mit Kant und Lessing gegen identitäre Mythen
31. März 2025
Vom linken und rechten politischen Rand breitet sich identitäres Denken in die Mitte aus und bedroht unsere Demokratie. Der humanistische Universalismus scheint ausgedient zu haben. Doch ein israelisch-deutscher Philosoph verteidigt ihn leidenschaftlich: Omri Boehm. Drei seiner Vorträge erschienen in einem kleinen Büchlein.
von Günther Hartmann
Alle drei Vorträge hielt Omri Boehm nach dem Überfall der Hamas auf israelische Siedlungen im Oktober 2023: über „Ethischen Monotheismus“ im November 2023 in München, über „Freundschaft als Schema der Menschenwürde“ im März 2024 in Leipzig, über „Europa und seine Opfer“ im Mai 2024 in Wien. Boehm plädiert für eine „Liebe zur Menschheit“ und warnt vor rechts- und linksidentitärem Denken, die mythisch überhöhen, was Menschen unterscheidet und trennt, und das ausblenden, was allen Menschen gemeinsam ist und alle Menschen verbindet. Dabei bezieht er sich auf die lange Tradition eines universellen Humanismus vom Alten Testament über die Aufklärung, die amerikanische Unabhängigkeitserklärung, moderne Verfassungen bis hin zu aktuellen Geschehnissen. Und dabei kommt er natürlich immer wieder auf den Gazakrieg zu sprechen.
Deutsches Grundgesetz betont Menschenwürde
„Während Europas Antwort auf sein zerfallendes Imperium darin lag, seine Souveränität zu dekonstruieren, indem es sie durch Würde begrenzte, lag die Antwort der Opfer darin, ihre nationale Souveränität für unantastbar zu erklären“, stellt Boehm fest. Im deutschen Grundgesetz hat die Unantastbarkeit der Menschenwürde höchste Priorität, in der israelischen Verfassung die Existenz des jüdischen Staats. Im deutschen Grundgesetz werden dem Staat klare Grenzen gesetzt, in der israelischen Verfassung wird er verklärt. Im Gazakrieg wird der Unterschied für Boehm klar sichtbar: „Jede Seite beansprucht, etwas Ultimatives, Absolutes zu verkörpern, das die menschliche Würde derjenigen relativiert, die zur anderen Gruppe gehören.“
Aber nicht nur in Israel erlebt ein irrationaler Nationalismus gerade eine Renaissance, sondern auch in Europa. Deshalb appelliert Boehm an das, was die Europäer verbindet: „Besteht auf der Realität eurer Ideale!“ Er warnt in diesem Zusammenhang vor einem „zynischen Konservativismus“, der den Unterschied zwischen Idealen und Mythen leugnet. Und er betont, was das Wesen der Ideale ist: keine „essenzialistische, biologische Beschreibung, was wir faktisch sind“, sondern eine „moralische Aufgabe“.
Identitäres Denken verhindert Menschlichkeit
Mit Idealen meint Boehm immer die Ideale der Aufklärung. Und Menschlichkeit. Die ist nichts Selbstverständliches. Ausführlich erläutert er, warum dabei neben Kant auch Lessing eine zentrale Bedeutung hat: „Für Kant ist Aufklärung Menschlichkeit, die sich in der Freiheit, selbst zu denken, ausdrückt. Für Lessing ist sie Menschlichkeit, die sich in der Freiheit zur Freundschaft ausdrückt.“ Denn in der Freundschaft und Brüderlichkeit dominiert nicht das Trennende, sondern das Verbindende. Mit ihnen lässt sich die „Flut des dunklen Posthumanismus eindämmen, der die identitäre Linke, die identitäre Rechte und die identitäre Mitte infiziert hat, deren vermeintlicher Gegensatz allzu oft auf die Brüderlichkeit der Privilegierten hinausläuft“.
Boehm ist der Überzeugung: „Universelle Wahrheit, Vernunft und Freundschaft gehen Hand in Hand.“ Und: „Wegen der Freundschaft muss die Wahrheit nicht geopfert werden.“ Denn unter Freunden können auch unbequeme Wahrheiten offen ausgesprochen werden.
Omri Boehm
Realität der Ideale
Propyläen, August 2024
112 Seiten, 14.00 Euro
978-3-549-11005-8
Onlinetipps
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„Die Gegner stört, dass ich die Aufklärung vertrete“
Standard, 05.05.2024
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Verteidigung des Humanismus
SRF, 24.03.2024
www.t1p.de/etahy
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Jung & Naiv, 30.12.2022
https://www.youtube.com/watch?v=hNp_XJUZEfU
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Lasst uns selber denken!
SRF, 12.09.2022
www.youtube.com/watch?v=Y35ZzRSHT3E
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Wie universelle Werte begründen?
Deutschlandfunk, 28.08.2022
www.t1p.de/xh1q4