Apollofalter: unter Höchstschutz, aber trotzdem massiv rückläufig – Foto: Peter Lichtmannecker

Umwelt & Klima

Es geht ans Eingemachte

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Insekten bilden das Fundament unserer Ökosysteme. Und auch das unserer Landwirtschaft. Sie sind deshalb von zentraler Bedeutung für das Überleben der Menschheit. Zu ignorieren, dass ihre Anzahl dramatisch zurückgeht und viele Arten bereits ausgestorben oder vom Aussterben bedroht sind, hätte fatale Konsequenzen.

von Dr. Andreas H. Segerer

 

Mit Veröffentlichung der „Krefelder Studie“ im Herbst 2017 erhielt der massive Rückgang heimischer Insekten erstmals öffentliche Aufmerksamkeit. Für die Fachwelt kam das nicht überraschend, handelt es sich doch um einen menschengemachten Prozess, der mit Beginn der industriellen Revolution vor über 200 Jahren begann, bereits im 19. Jahrhundert von Naturforschern ursächlich erkannt (und deutlich kritisiert) worden ist und seither laufend an Dynamik zugenommen hat.

Heute ist er Merkmal einer globalen Biodiversitätskrise, die alle Anzeichen für den Beginn eines planetaren Massenaussterbens aufweist, in jedem Fall aber die immense Gefahr eines regionalen oder gar globalen Zusammenbruchs von Ökosystemdienstleistungen in sich birgt und damit unsere Zivilisation zur Disposition stellt. Dies vor allem deshalb, weil Insekten Schlüsselfunktionen in den ökologischen Netzwerken besetzen.

Selbstverständlich haben alle Arten ihren „Beruf“ und ihre Existenzberechtigung. Dennoch macht es einen Unterschied, ob einzelne Wirbeltiere wie z. B. Nashörner durch den Menschen bedroht werden oder aber – wie es nun mit den Insekten der Fall ist – gleich eine tragende Wand der ökologischen Funktionalität angegriffen wird. Es geht also ans Eingemachte.

 

Treiber des Insektensterbens

Das Insektensterben ist weltweit nachweisbar und wissenschaftlich bestens belegt. Es wird durch ein komplexes Set von Treibern befeuert, deren jeweiliger Impakt allerdings regional unterschiedlich ausgeprägt ist.

In den Kältezonen der Erde spielt die globale Erwärmung eine maßgebliche Rolle. In den Tropen ist es die Vernichtung von Primärlebensräumen wie z. B. Regenwäldern, wodurch aber zweitens auch das lokale Klima aus dem Takt gerät und schädlichen Einfluss entfaltet.

In unseren Breiten sind mit weitem Abstand intensive Landwirtschaft und Flächenfraß die Hauptverursacher. Sie sind einerseits verantwortlich für nachteilige strukturelle Veränderungen der über Jahrhunderte gewachsenen Kulturlandschaft (Monokulturen, Landschaftsausräumung, Zersiedelung, Sukzession etc.), andererseits für chemische Belastung (Überdüngung, Pestizide).

Weil Nähr- und Schadstoffe mobil sind und sich über Luft und Wasser über das ganze Land verbreiten, sind auch Naturschutzgebiete von Immissionen betroffen. Das Insektensterben schreitet daher auch dort voran. Und zwar umso mehr, je weniger die Habitate von der vom Menschen beeinflussten Umgebung abgeschirmt sind.

Weitere Faktoren wie Lichtverschmutzung und invasive Arten kommen obendrauf, haben aber bei uns derzeit eher regionalen als globalen Einfluss. Ganz sicher steht fest: Allein durch die Rettung des Weltklimas ist Biodiversität nicht zu retten!

 

Ausmaß des Insektensterbens

Auch wenn das Insektensterben komplex und regional differenziert ist – im Wesentlichen läuft es immer darauf hinaus: Die rasant schwindende Verfügbarkeit und/oder Qualität der Habitate beraubt die Tiere zunehmend ihrer Existenzgrundlage.

In Deutschland stehen rund zwei Drittel der über 860 identifizierten Lebensraumtypen auf der Roten Liste! Bayern hat inzwischen rund 290 der 3.340 hier registrierten Schmetterlingsarten verloren – 9 %! Davon verabschiedeten sind allein seit 1970 fast genauso viele wie in den 200 Jahren zuvor. Eine erschreckende Dynamik.

 

Aufklärung dringend notwendig

Die Erkenntnis einer ökologischen Fundamentalkrise, deren Dimension weit über die Klimaproblematik hinausreicht, ist leider noch lange nicht ins Bewusstsein von Politik, Medien und Öffentlichkeit vorgedrungen. Eine Bildungsoffensive in Schulen und anderen Bildungseinrichtungen sowie auch bei politischen Veranstaltungen täte also dringend not. Denn ohne Verständnis der Zusammenhänge wird es keine Forderung nach Veränderung und kein Verständnis für notwendige Gegenmaßnahmen geben.

Immerhin gibt es den überwältigenden Erfolg des bayerischen Volksbegehrens „Rettet die Bienen!“. Es ist ein Grund zur Hoffnung und hat ja auch schon Gutes bewirkt. Aber das kann nur ein Anfang gewesen sein, denn das Ausmaß des Problems ist überregional.

 

Was jetzt passieren muss

Wenn das Lebensraumsterben der tiefere Grund des Artensterbens ist, kommt dem Lebensraumschutz (und nicht dem Schutz einzelner Arten oder Individuen) folglich höchste Priorität zu. In der EU wäre die mit Abstand wirkungsvollste Maßnahme dafür eine grundlegende Agrarreform, in der naturnahe und extensive Landbewirtschaftung systematisch und vor allem anderen gefördert und intensiver Landbau von den Töpfen abgeschnitten wird.

Außerdem müsste eine vollumfängliche Preisgestaltung bei Lebensmitteln endlich zur Pflicht werden, indem sämtliche versteckte Kosten zulasten von Umwelt, Gesundheit und Wirtschaft eingepreist werden. Das würde die Preisspanne zwischen ökologisch und konventionell erzeugten Produkten auf einen Schlag minimieren und wäre ein Augenöffner für die Bevölkerung.

Dass das derzeitige Welternährungssystem ein verschleiertes Draufzahlgeschäft ist, bei dem die Gewinne privatisiert und die Kosten sozialisiert sind, hat die „Food and Land Use Coalition“ (FOLU) schon 2019 vorgerechnet. Immerhin haben es die Verbraucher auch selbst in der Hand, sich bewusst für den Kauf nachhaltiger Produkte zu entscheiden.

Weitere eminent wichtige Schlüsselforderungen sind der Rückbau des exorbitanten Flächenverbrauchs und die Renaturierung der Landschaft. Das fängt beim eigenen Garten oder Balkon durch Verzicht auf Chemie, „englischen Rasen“ und nicht-einheimische Pflanzen an, geht über insektenfreundliche Gestaltung kommunaler Flächen einschließlich Straßenrändern bis hin zur Schaffung struktureller Vielfalt in der Agrarlandschaft und zur ausgiebigen Wiedervernetzung von Biotopen.

Es müssen also dicke Bretter gebohrt werden, und zwar schnell, alle sind gefordert. Denn die Natur braucht uns nicht, aber wir sind auf Gedeih und Verderb von ihr abhängig. Wollen wir in unserem ureigensten Interesse hoffen, dass sich diese Einsicht doch noch rechtzeitig durchsetzt!

 


Buchtipps

Andreas H. Segerer, Eva Rosenkranz
Das große Insektensterben
Was es bedeutet und was wir jetzt tun müssen
oekom, August 2018
208 Seiten, 20.00 Euro
978-3-96238-049-6

Matthias Glaubrecht
Das Ende der Evolution
Wie die Vernichtung der Arten unser Überleben bedroht
Penguin, November 2023
560 Seiten, 15.00 Euro
978-3-328-10924-2


Onlinetipps

Susanne Aigner
Von Bienen und Ameisen: Insekten als Schlüssel für eine gesunde Ernährung
Telepolis, 30.11.2023
https://telepolis.de/-9544303

o. A.
Drastischer Insektenschwund in Deutschland
ARD alpha, 17.08.2022
www.t1p.de/61hye

Cordula Dieckmann
Für Insekten ist die Landwirtschaft schädlicher als der Klimawandel
Geo, 14.10.2021
www.t1p.de/xy482


 

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