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Warum unsere Gesellschaft zunehmend „irre“ wird

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Die Zahl der Krankheitstage hat in den letzten Jahren stark zugenommen. Der Grund liegt nicht in körperlichen, sondern in psychischen Störungen. In Fachkreisen ist bereits von einer „Epidemie mentaler Krankheiten“ die Rede. Der Psychologe Bernhard Hommel spürt in seinem Buch „Wir triggern uns zu Tode“ den gesellschaftlichen Ursachen nach.

von Günther Hartmann

 

In den letzten 2 Jahren hat sich in Deutschland die Anzahl der Bürger, die ihre Gefühlslage mit „Wut“ bezeichnen, verdoppelt und liegt nun mit 40 % auf einem besorgniserregend hohen Niveau. Gewaltdelikte nehmen zu. Angststörungen, Depressionen, Drogensucht und Selbstmordversuche ebenfalls. Die Ergebnisse von Krankenkassenstatistiken und aktuellen Forschungsstudien sind erschreckend.

Bernhard Hommel geht davon aus, dass wir zunächst verstehen müssen, „welche Mechanismen zu diesen drastischen Verschlechterungen unserer geistigen Gesundheit geführt haben“, bevor wir etwas dagegen unternehmen.

Er erläutert deshalb am Anfang seines Buchs ausführlich, wie Neurosen entstehen und wie dabei vornehmlich 3 wichtige Faktoren zusammenwirken: übergroße Aufmerksamkeit gegenüber Triggern (= Auslösereizen), ineffiziente Bewältigungsstrategien sowie robuste negative Komplexe (= Gedanken- und Gefühlsmuster). Dann sucht Hommel nach gesellschaftlichen Entwicklungen, die diese Faktoren haben wachsen lassen. Und er findet welche.

 

Medien bombardieren mit emotionalen Triggern

Ein wichtiger Faktor ist die veränderte Berichterstattung unserer Massenmedien: Sie wird immer emotionaler. Statt nüchtern, sachlich und objektiv die Fakten und die Gesamtsituation darzustellen, rücken berührende Einzelschicksale und deren Befindlichkeiten in den Fokus. Interviews werden oft mit der Frage „Wie fühlen Sie sich?“ begonnen – vor nicht allzu langer Zeit völlig undenkbar, heute jedoch normal.

Die emotionalisierte Berichterstattung hat ihre Gründe: Sie löst bei den Zuschauern und Lesern stärkere Reaktionen aus, führt im Fernsehen zu höheren Einschaltquoten, am Kiosk zu höheren Verkaufszahlen und im Internet zu mehr Klicks. Doch bei den Medienkonsumenten erzeugt dies auch wesentlich mehr Stress. Und der führt auf Dauer zu einer emotionalen Überforderung und mentalen Erschöpfung bis hin zum Burn-out.

 

Selbstsensibilisierung schwächt Widerstandskraft

Kontraproduktiv erweist sich dabei die gesellschaftlich gewollte Zunahme der Empfindsamkeit, denn die macht die Menschen auch empfindlicher und verletzlicher. Mehr Sensibilität bedeutet weniger Robustheit. Statt ein „dickes Fell“ zu haben, werden immer mehr Menschen „dünnhäutig“ und haben nur noch wenig Widerstandskraft.

„Um uns vor der Flut emotionaler Trigger besser zu schützen, wäre es wichtig, wenn wir emotionale Reize weniger beachten und uns weniger mit ihnen beschäftigen würden“, empfiehlt Hommel. „Unglücklicherweise geht der gesellschaftliche Trend aber in die genau entgegengesetzte Richtung: Wir werden systematisch angehalten, emotionale und emotionalisierende Informationen bevorzugt zu behandeln, sie also mehr zu beachten.“

Wie wir uns freiwillig unserer psychologischen Schutzfunktionen zunehmend entledigen, beschreibt Hommel anhand von 4 aktuellen Trends: der Rehabilitierung des Bauchgefühls, der Moralisierung des Alltags, der Forderung nach mehr Empathie sowie dem Streben nach Authentizität. Den Hintergründen und Wirkungen dieser Trends widmet er jeweils ein eigenes Kapitel.

„Gute Menschen sind wir scheinbar nur, wenn wir kontinuierlich in uns hineinhorchen, um stets ‚das Richtige‘ zu tun“, kritisiert er. „Das ist nun leider genau das Gegenteil von dem, was man sich als effektive Bewältigungsstrategie wünschen würde.“ Als sinnvolle Bewältigungsstrategien nennt Hommel: Gewöhnung, Rationalisierung und Distanzierung. Doch die sind aktuell verpönt.

Empathie ist angesagt. Doch die ist kein Garant für gutes Verhalten. „Man muss das Leid anderer nicht erlebt haben, um es vermindern zu wollen und darin erfolgreich zu sein“, betont Hommel. Wenn Therapeuten die Gefühle ihrer Patienten gänzlich nacherleben würden, wären sie ebenso gelähmt wie diese und könnten ihnen nicht helfen.

Außerdem ist Empathie keine unbegrenzte Fähigkeit, bleibt deshalb meist auf einen bestimmten Personenkreis begrenzt und kippt sogar oft ins Gegenteil: Starke Empathie für Mitglieder der eigenen Gruppe geht einher mit starker Intoleranz gegenüber allen, die nicht zur eigenen Gruppe gehören. „Mitgefühl-Bösartigkeits-Paradox“ heißt dieses Phänomen in der Psychologie.

 

Linksidentitäre rücken negative Gefühle in den Fokus

Als weitere wichtige Ursache für die Fehlentwicklungen identifiziert Hommel die linksidentitäre Politik. Sie leitet die Wahrheit nicht mehr aus allgemeingültigen und objektiv nachvollziehbaren Überlegungen ab, sondern aus subjektiven Gefühlen. Und zwar vornehmlich aus solchen, die auf der Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen basieren, definiert durch: das Geschlecht, die sexuelle Orientierung, die Hautfarbe.

Das entscheidende Kriterium für Wahrheit sind nicht mehr vernunftbasierte Argumentationen, sondern Empfindungen. Wobei die Empfindungen von einem Mitglied einer unterprivilegierteren Gruppe als prinzipiell wahrer gelten als die Empfindungen von einem Mitglied einer privilegierteren Gruppe. Nachvollziehbare und einleuchtende Argumente spielen als Kriterium für Wahrheit nur noch eine untergeordnete Rolle.

Die linksidentitäre Bewegung motiviert die Menschen dazu, sich auf ihre Gefühle zu fokussieren – vor allem auf die unangenehmen, die mit Diskriminierung zu tun haben. Durch die Einführung neuer Kategorien wie Mikroaggression, Mikroentwertung und Mikrobeleidigung, durch die Ersetzung von Leistungsgerechtigkeit durch Ergebnisgerechtigkeit sowie durch weitere identitätspolitische Wahrnehmungsverschiebungen wird die Schwelle für als diskriminierend empfundenes Verhalten immer weiter gesenkt – und somit ein hoher Empörtheitslevel zum Dauerzustand.

„Ein idealer Ausgangspunkt für das Entstehen einer Neurose“, konstatiert Hommel. Doch Neurosen lösen keine Krisen – nur ein kühler Kopf kann das. Und der wäre gerade angesichts wirklich großer und wichtiger Herausforderungen wie der Klimaerwärmung notwendig. Stattdessen wird die gesellschaftliche Debatte zunehmend emotionalisiert. Doch zu viele negative Gefühle lähmen und machen krank. Und wir werden immer kränker.

 

Mehr Sachlichkeit! Mehr Zweifel! Mehr Diversität!

Wir werden immer kränker, weil wir uns immer mehr und immer länger und immer öfter mit negativen Dingen beschäftigen. „Das zunehmend dauerhaft aktivierte negative Gedankengut wird unser gedankliches und offenes Verhalten so beeinflussen, dass wir immer mehr depressive Neigungen, zwanghaftes, Ich-bezogenes, wenn nicht narzisstisches, unter Umständen auch gewalttätiges Verhalten an den Tag legen“, warnt Hommel. Und das ist etwas, „was nicht vorübergehend ist und nicht sobald verschwindet, sondern zunehmen wird“.

Hommel belässt es aber nicht bei Warnungen, sondern liefert am Ende seines Buchs auch eine ganze Reihe von Vorschlägen, um die negative Entwicklung zu stoppen. Zunächst einmal sollte jeder bewusster zu leben und sich nicht übermäßig den Triggern auszusetzen. Hommel rät: „Zwei Stunden vor dem Schlafengehen keine Nachrichten mehr zu konsumieren, hat vielen die Nachtruhe gerettet.“

Und für Konflikte empfiehlt Hommel: Sachlichkeit statt Empörung! Durch mehr kritische Selbstreflexion und ein Nachvollziehen der Gründe anderer sollten wir bewusst versuchen, die Emotionalisierung herunterzufahren. Und dabei auch dem Zweifel mehr Platz einräumen. Denn psychologische Untersuchungen zeigten, dass wir dazu neigen, eine Haltung umso vehementer zu verteidigen, je weniger wir über eine Sache wirklich Bescheid wissen.

Wichtig ist deshalb, die komplexe Wirklichkeit aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten. Derzeit wird aber das genaue Gegenteil eingefordert. „Die Ermutigung von Bürgern, möglichst sofort eine klare Haltung zu haben, ist genau das Gegenteil von dem, was uns die Wissenschaft über Jahrhundert gelehrt hat“, kritisiert Hommel. Und verweist in diesem Zusammenhang auf den Philosophen Marcus Arvan, der zwischen dem „Entdeckungsmodell“ und dem „Verhandlungsmodell“ unterschied.

„Entdeckungsmodell“ bedeutet: Es gibt eine verborgene Wahrheit, die es zu entdecken gilt. „Verhandlungsmodell“: Es muss etwas ausdiskutiert werden, um eine gemeinsame Lösung zu finden. Während das „Entdeckungsmodell“ eher zur Spaltung der Gesellschaft führt, weil jeder meint, er habe absolut recht, lassen sich mit dem „Verhandlungsmodell“ Konflikte entmoralisieren, entemotionalisieren und Interessenkonflikte ausgleichen.

Wichtig ist das bewusste Zulassen unterschiedlicher Gedanken. Dies gilt es gegen die Identitätspolitik zu verteidigen, die Kontroversen vor allem als Ärgernis und Bedrohung auffasst und sie mithilfe einer rigorosen Cancel Culture zu unterdrücken versucht. Doch ohne ein Ja zu einer Diversität der Gedanken sind weder Wissenschaft noch Redefreiheit möglich – und letztlich auch keine Demokratie.

Andere Meinungen nicht nur zu ertragen, sondern sie verstehen zu wollen und in Betracht zu ziehen, dass die eigene Meinung vielleicht nicht der Weisheit letzter Schluss ist, führt zu mehr Gelassenheit, mindert den Stress und ist ein wirksames Mittel gegen die zunehmende Neurotisierung.

Hommel schließt sein Buch mit dem Aufruf: „Es kann nicht so schwierig sein, dass wir uns alle grundlegende dialektische Fähigkeiten aneignen, die es uns erlauben, das Interessante und Lehrreiche in einem Konflikt zu sehen, statt uns darüber unnötig aufzuregen. Lassen Sie uns diese Chancen doch nutzen und unseren Neurosen die Tür weisen!“

 

Bernhard Hommel
Wir triggern uns zu Tode
Psychogramm einer neurotischen Gesellschaft
Westend, August 2024
160 Seiten, 20.00 Euro
978-3-86489-464-0


Weiterer Buchtipp

Über Bernhard Hommels
Gut gemeint ist nicht gerecht
ÖkologiePolitik, 23.07.2024
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Kolumnen von Bernhard Hommel und Lorenza Colzato
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