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Wie viel Aufrüstung ist sinnvoll?

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NATO-Generalsekretär Mark Rutte warnt vor Russland und fordert mehr „Kriegsmentalität“. Nachdem unser Militäretat bereits auf 2 % des BIP erhöht wurde, plädiert Boris Pistorius (SPD) nun für 3 % und Robert Habeck (Grüne) gar für 3,5 %. Auffällig ist, dass solche Forderungen nie richtig begründet werden. Deshalb ließ Greenpeace das militärische Kräfteverhältnis von Experten untersuchen.

von Günther Hartmann

 

Dass sich Greenpeace als Umweltorganisation nun plötzlich auch mit militärischen Fragen befasst, ist konsequent. Denn Armeen agieren nicht in einer Parallelwelt, sondern in unserer Realität. Sie verbrauchen viele wertvolle Ressourcen und schädigen die Umwelt. Ihr hoher CO2-Ausstoß wird in keiner offiziellen Statistik berücksichtigt. Auf politischen Druck der USA wurden sie bei den Klimaabkommen von Kyoto und Paris ausgeklammert.

Je mehr wir aufrüsten, desto stärker schädigen wir die Umwelt. Und das für Rüstung ausgegebene Geld fehlt bei der Finanzierung der ökologischen Transformation. Deswegen sollten wir Aufrüstungsforderungen hinterfragen und genau hinschauen. Und uns nicht von Angst, sondern von unserer Vernunft leiten lassen. Dazu braucht es Fakten. Die liefert die Greenpeace-Studie mit einer Fülle von Zahlen.

 

Militärisches Kräfteverhältnis

Die Studie zeigt eine deutliche Überlegenheit der NATO gegenüber Russland. So geben die NATO-Staaten etwa 10-mal mehr für Rüstung aus als Russland: 1,19 Bio. gegenüber 127 Mrd. US-Dollar. Die NATO hat zudem fast 3-mal so viele Soldaten: 3,3 Mio. gegenüber 1,3 Mio. Entgegen dem von der Politik vermittelten Eindruck hat auch nicht Russland, sondern die NATO in den letzten Jahrzehnten stark aufgerüstet und ihre Militärausgaben stetig erhöht – von 2014 bis 2024 um insgesamt 30 %, während die Russlands von 2014 bis 2021 sogar leicht sanken.

Selbst ohne den gigantischen Militärapparat der USA sind die europäischen NATO-Staaten klar überlegen: Ihr Militäretat ist höher als der russische Staatshaushalt. Sie verfügen über 1,9 Mio. Soldaten, Russland nur über 0,5 Mio. westlich des Urals. Sie verfügen über 6.300 Kampfpanzer, Russland nur über 2.000. Sie verfügen über 2.100 Kampfflugzeuge, Russland nur über 1.000. Sie verfügen über 140 Kriegsschiffe, Russland nur über 30. Hinzu kommt, dass die Waffensysteme der NATO moderner sind als die Russlands.

Die immer wieder postulierte Bedrohung Europas durch Russland wirkt angesichts dieser Fakten als nicht haltbar. Die NATO ist in Europa extrem hoch gerüstet und Russland in nahezu allen Belangen weit überlegen. Die politischen Forderungen, den bereits sehr hohen Rüstungsetat nochmals stark zu erhöhen, um vor einem Angriff sicher zu sein, sind angesichts der tatsächlichen Faktenlage nicht nachvollziehbar. Zumal der Verteidiger immer im Vorteil ist und deshalb der Angreifer klar überlegen sein muss – was in der Studie leider unerwähnt bleibt.

„Die russische Aggression gegen die Ukraine hat in Deutschland einen angstgetriebenen Aufrüstungsreflex ausgelöst, obwohl die NATO Russland militärisch deutlich überlegen ist. Verteidigungsminister Pistorius sollte daher die Angst in der Bevölkerung nicht weiter schüren“, resümiert Alexander Lurz, Greenpeace-Experte und einer der drei Autoren dieser Studie.

 

Sich aufdrängende Fragen

Ob es sich tatsächlich um einen „angstgetriebenen Aufrüstungsreflex“ handelt, wie Lurz meint, darf bezweifelt werden. Angst ist sicherlich im Spiel, aber sie wird eher bewusst erzeugt – um die Stimmung zu steuern. Die Bedrohung wird herbeigeredet. Sie wird behauptet und durch ständige Wiederholung zur „gefühlten Wahrheit“. Auffällig ist dabei die Veränderung der Wortwahl: Während früher immer „Verteidigungsfähigkeit“ als Ziel genannt wurde, geht es heute um „Kriegstüchtigkeit“ und „Kriegsmentalität“. Das ist ein großer Unterschied. Und wohl auch ein beabsichtigter.

Da stellen sich Fragen: Was passiert hier eigentlich? Wer profitiert davon? Und warum geschieht es gerade jetzt? Diesen Fragen geht die Greenpeace-Studie nicht nach.

 

Habeck im „Spiegel“-Interview

Höchst seltsam mutet nach Lektüre der Greenpeace-Studie das Interview an, das Robert Habeck Anfang Januar dem Nachrichtenmagazin „Spiegel“ gab. Dort sagte er unter anderem: „Wir müssen fast doppelt so viel für unsere Verteidigung ausgeben, damit Putin nicht wagt, uns anzugreifen. Wir müssen den Frieden sichern und weiteren Krieg verhindern.“ Und: „Heute würde ich zur Bundeswehr gehen.“ Zwar habe er im Kalten Krieg den Wehrdienst verweigert, doch nun sei die Lage eine ganz andere. Heute gäbe es „kein moralisches Argument mehr, zu verweigern“, denn „ein Aggressor wie Putin nutzt Schwäche eiskalt aus“.

Mit anderen Worten: Habeck findet, dass in Zeiten eines militärischen Patts – und damit einer höheren Wahrscheinlichkeit, angegriffen zu werden! – eine Verweigerung des Wehrdienstes moralisch gerechtfertigt ist, in Zeiten einer haushohen militärischen Überlegenheit des Westens jedoch nicht.

 

Christopher Steinmetz, Prof. Dr. Herbert Wulf, Dr. Alexander Lurz
Wann ist genug genug?
Ein Vergleich der militärischen Potenziale der Nato und Russlands
Greenpeace, November 2024
64 Seiten, kostenfrei downloadbar (1,8 MB)
www.greenpeace.de/publikationen/wann-ist-genug-genug


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