Wie Wirtschaft und Natur zusammen finden
16. Januar 2025
Die Frage, wie sich Wirtschaft und Nachhaltigkeit miteinander verbinden lassen, ist eine der zentralen Herausforderungen unserer Zeit. In ihrem Buch Das Weltbild der Circular Economy und Bioökonomie – Vorbild Natur?, dem ersten Band einer geplanten Trilogie, widmen sich Thomas Marzi und Manfred Renner dieser Fragestellung in beeindruckender Tiefe.
von Helmut Scheel
Die beiden Autoren bieten eine interdisziplinäre Analyse zweier zukunftsweisender Konzepte: der Circular Economy (CE) und der Bioökonomie. Dabei setzen sie sich kritisch mit deren systemischen Grundlagen und praktischen Implikationen auseinander.
Ein historischer Blick auf Fortschritt und dessen Kosten
Das Buch beginnt mit einem weitreichenden historischen Rückblick, der die Leser und Leserinnen in die Zeit der industriellen Revolution führt. Bereits im Jahr 1808 warnte der Philosoph Charles Fourier vor den zerstörerischen Auswirkungen industrieller Produktion: Wälder würden vernichtet, Quellen verunreinigt, das Klima verschlechtert. Fourier blieb ungehört, galt als Spinner und Utopist. Diese Rückblende zeigt auf eindrucksvolle Weise, dass Fortschrittskritik keine neue Erscheinung ist, sondern über Jahrhunderte immer wieder formuliert – und ignoriert – wurde.
Marzi und Renner nutzen diese Perspektive, um auf die gegenwärtigen Herausforderungen hinzuweisen. Der Ressourcenverbrauch unserer Zeit ist beispiellos: Der jährliche Verbrauch von Erdöl und Erdgas entspricht dem Kohlenstoffumsatz von Hunderttausenden Jahren Planktonentwicklung. Sie argumentieren, dass ein systemischer Wandel notwendig ist, beispielsweise durch den Ersatz fossiler Rohstoffe durch Biomasse oder Kohlendioxid. Doch ein solcher Wandel sei mit erheblichem technischem, energetischem und logistischem Aufwand verbunden, der oft unterschätzt werde.
Drei Perspektiven der Bioökonomie
Die Bioökonomie wird von den Autoren aus drei Blickwinkeln beleuchtet, die unterschiedliche Entwicklungsstränge dieses Konzepts darstellen:
- Die ökologische Bioökonomie, die sich an natürlichen Grenzen orientiert und eine nachhaltige Wirtschaftsweise propagiert.
- Die biotechnologische Bioökonomie, die auf Innovationen wie Gentechnik und synthetische Biologie setzt, um wirtschaftliche Potenziale zu erschließen.
- Die biobasierte Kohlenstoffwirtschaft, die fossile Rohstoffe durch nachwachsende Ressourcen ersetzt.
Besonders kritisch betrachten Marzi und Renner die Entwicklung der „neuen Bioökonomie“ in den 1980er-Jahren. Sie prangern die zunehmende „Kommerzialisierung von Natur“ an, die durch die Patentierung von Lebewesen und die Unterordnung ökologischer Prinzipien unter wirtschaftliche Interessen geprägt war.
Die Circular Economy als systemischer Ansatz
In einem eigenen Kapitel analysieren die Autoren die Circular Economy, die weit mehr umfasst als nur Recycling. Im Kern geht es darum, Stoffströme in geschlossenen Kreisläufen zu halten und Abfälle zu vermeiden. Die EU verbindet dieses Konzept eng mit der Bioökonomie, da beispielsweise die Nutzung von biomassestämmigen Abfällen ein zentrales Element beider Ansätze ist.
Dennoch warnen Marzi und Renner vor einer Überidealisierung der Circular Economy. Manche Visionen, etwa die Vorstellung endloser Stoffkreisläufe ohne neuen Rohstoffbedarf oder Abfallproduktion, seien physikalisch und thermodynamisch unmöglich. Diese unrealistischen Leitbilder könnten mehr schaden als nutzen.
Natur als Vorbild und ihre Grenzen
Ein zentrales Motiv des Buches ist die Frage, ob und wie die Prinzipien der Natur auf menschliche Wirtschaftssysteme übertragbar sind. Die Autoren greifen historische Beispiele auf, etwa die Physiokraten des 18. Jahrhunderts, die die „Herrschaft der Natur“ und fruchtbares Ackerland als Quelle allen Wohlstands sahen. Marzi und Renner untersuchen, wie Bioökonomie und CE die Natur als Kreislaufwirtschaft oder „Dienstleisterin“ betrachten.
Die Autoren kritisieren, dass diese Sichtweise zu einer technisch und ökonomisch organisierten „neuen Natur“ führe. Der Mensch greife nicht nur in bestehende Ökosysteme ein, sondern gestalte diese aktiv um – ein Prozess, den sie als „Öko-Engineering“ beschreiben. Dabei werde oft übersehen, dass sowohl die Bioökonomie als auch die Circular Economy letztlich keine natürlichen Systeme seien, sondern von Menschen organisiert werden müssen.
Die Rolle von Metaphern und Narrativen
Im sechsten Kapitel beleuchten Marzi und Renner die Bedeutung von Metaphern, Analogien und Modellübertragungen in der Diskussion um CE und Bioökonomie. Diese sprachlichen und konzeptionellen Werkzeuge beeinflussen nicht nur, wie die Konzepte verstanden werden, sondern auch, welche blinden Flecken entstehen. So wird beispielsweise die Vorstellung der Natur als perfekter Kreislauf kritisch hinterfragt, da sie physikalisch nicht haltbar ist.
Kritik an unrealistischen Leitbildern für die Wirtschaft
Im abschließenden Kapitel des Buches formulieren die Autoren eine grundlegende Kritik an der Idealvorstellung geschlossener Stoffkreisläufe. Sie belegen dies mit Daten: Obwohl die Menge der recycelten Materialien seit 1900 absolut gestiegen ist, ist ihr Anteil relativ gesunken. Diese Diskrepanz zeigt die Grenzen des Kreislaufgedankens auf.
Die Autoren argumentieren, dass die Verknüpfung von Bioökonomie und Circular Economy dennoch eine wichtige Rolle bei der Förderung nachhaltiger Systeme spielen könne. Voraussetzung sei jedoch, dass wirtschaftliche und ökologische Systeme nicht länger getrennt betrachtet werden.
Stärken und Kritikpunkte
Die größte Stärke des Buches liegt in seiner historischen und systemischen Tiefe. Marzi und Renner verbinden historische Rückblicke, etwa auf die Fortschrittskritik von Fourier oder die Denkschule der Physiokraten, mit modernen Ansätzen der Bioökonomie und Circular Economy. Gleichzeitig gelingt es ihnen, die ethischen und ökologischen Implikationen dieser Konzepte kritisch zu hinterfragen.
Ein möglicher Kritikpunkt ist die hohe Komplexität der Analysen. Das Werk richtet sich vor allem an Fachleute und Leser:innen mit Vorkenntnissen, was es für ein breiteres Publikum weniger zugänglich macht. Zudem bleiben konkrete Lösungsansätze oft vage, obwohl die Problemanalysen detailliert und prägnant sind.
Fazit
„Das Weltbild der Circular Economy und Bioökonomie – Vorbild Natur?“ ist ein herausforderndes, aber immens wertvolles Werk für alle, die sich mit der Zukunft nachhaltiger Wirtschaftssysteme auseinandersetzen möchten. Es legt die theoretischen und praktischen Grundlagen für eine tiefgehende Diskussion über die Chancen und Grenzen von Circular Economy und Bioökonomie. Als erster Band einer Trilogie eröffnet das Buch einen umfassenden Blick auf die Thematik und weckt Spannung auf die Fortsetzung.
Marzi und Renner zeigen, dass der Weg zu mehr Nachhaltigkeit nicht nur technologische Innovationen, sondern auch einen grundlegenden gesellschaftlichen und kulturellen Wandel erfordert. Ihre Analyse macht deutlich: Nachhaltigkeit ist komplex – und unverzichtbar.
Thomas Marzi und Manfred Renner
Das Weltbild der Circular Economy und Bioökonomie
Vorbild Natur?
Springer Spektrum, Mai 2024
330 Seiten, 53.49 Euro
978-3-662-68229-6