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Wege der gesellschaftlichen Veränderung

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Sven Hartberger bleibt sich treu. Mit seinem neuen Buch „Lasst Euch nicht täuschen! – Ein Brief an die Letzte Generation“ wählt er wie in „Mallingers Abschied“ die belletristische Form zur Aufarbeitung einer aktuellen und inzwischen massiv emotional verankerten ökologischen und ökonomischen gesellschaftlichen Auseinandersetzung.

von Günter Grzega

 

Das aktuell bedeutendste und gleichzeitig umstrittenste Thema der Gesellschaft, nämlich der weltweite Klimawandel mit den drohenden Katastrophen für die menschliche Existenz, in Romanform zu bearbeiten, erfordert sowohl tiefgehende Fachkenntnisse als auch schriftstellerische Professionalität. Dabei fokussiert sich die als Familienbeziehung aufgebaute Bearbeitung des Themas auf die Handlungen der Gruppe „Letzte Generation“.

Die inzwischen umstrittenen Aktionen der Klimaaktivisten werden in Hartbergers Roman in einer Weise veranschaulicht, die den Leser fesselt und das Werk bis zum Ende der Geschichte nicht mehr aus der Hand legen lässt. Dabei wird man zu Beginn der Erzählung mehr in das Hinterfragen der Aktionen der „Letzten Generation“ geführt. Befürworter der medial so sehr aufsehenerregenden und provokanten Handlungen werden mit Unbehagen die ersten Kapitel erleben. Die Kritiker sehen sich sicherlich zunächst in ihren ablehnenden Gefühlen zu Klebeaktionen und Sachbeschädigungen eher bestätigt. Damit erreicht der Autor, dass alle Interessierten am Thema das Buch nicht schon nach den ersten Kapiteln enttäuscht zur Seite legen, sondern neugierig auf den Fortgang der Erzählung werden.

Interessant ist die Verknüpfung der Geschichte eines lebenserfahrenen, umfassend gebildeten und gesellschafts- und wirtschaftspolitisch sehr erfolgreichen Politikberaters namens Gerd Dichter, der als Vater mit der engsten Freundin seiner Tochter Lisa und Hauptakteurin der „Letzten Generation“, Klara Wasser, brieflich Kontakt aufnimmt, und zwar anonymisiert als Bendus Zankler.

Dabei erkennt die Brief-Empfängerin, trotz des verstörenden Inhalts, sehr schnell, wer hinter diesem Pseudonym steckt, und fragt sich, warum der Vater ihrer Freundin Lisa, einer sehr aktiven Mitstreiterin bei der „Letzten Generation“, diesen Weg gewählt hat. Nach und nach erkennt Klara die Motivation dieser Vorgehensweise im Hinblick auf die damit verbundene Familiensituation. Dies hilft ihr, die Argumente von Bendus Zankler alias Gerd Dichter zumindest zu lesen. Dabei sind seine angeblich Rat gebenden Ausführungen tatsächlich für Klara eine psychische Belastung besonderer Art.

Autor Sven Hartberger gelingt es, mit provokanten Thesen und Ratschlägen, die er der Romanfigur Zankler in den Mund legt, beim Leser selbst starke Emotionen zu wecken. Beispielsweise lässt er im II. Kapitel erklären, warum die „Letzte Generation“ in Wahrheit die „Erste Generation“ ist.

Eine Aussage wie „Wer sich im Alter von 25 Jahren noch immer auf Fahrbahnen klebt und Theatervorstellungen stört, statt einen konstruktiven Beitrag zur Lösung von Problemen zu leisten, kann nicht ernst genommen werden“ wird sicherlich bei nicht wenigen zunächst zustimmende Gefühle auslösen. Die Akteure der „Letzten Generation“ werden sich hingegen für dumm verkauft fühlen, da sich ihrer Sicht nach mit den von der herrschenden Politikerschicht als konstruktiv betrachteten Beiträgen zum Klimaschutz nichts Entscheidendes bewegt – im Gegenteil.

Dass der Autor die an Klara Wasser übermittelte Denkschrift in zahlreiche kurze, aber sinnhafte und aussagestarke Kapitel aufteilt und dabei anschließend und unmittelbar der Reflexion der Aktivistin zur massiven Kritik an Bendus Zankler Raum gibt, animiert den Leser ebenfalls zum sofortigen Nachdenken über den gerade gelesenen Abschnitt.

Im sicherlich aufwühlenden Teil 3 von Zanklers Denkschrift wird die Schuldzuweisung „Warum es die Letzte Generation selbst ist, die die Verankerung des Klimaschutzes in der Verfassung verhindert, und warum das aber auch vollkommen gleichgültig ist“ auf nur 6 Seiten, aber trotzdem umfassend verständlich dargelegt. In dieser kurzen, aber inhaltlich umso konzentrierteren Form führt uns der Autor durch das gesamte Spektrum der aktuellen Vorwürfe, Angriffe und auch Diffamierungen gegen die Aktivitäten der „Letzten Generation“. Dies zwingt den Leser nach und nach, sich selbst hinsichtlich seiner Meinung zu den Formen des Widerstands der jungen Aktivisten zu hinterfragen. Bei diesem Reflexionsprozess ist Klaras ständiges Hinterfragen, Nachdenken und Erkennen eigener ambivalenter Handlungsweisen eine willkommene Hilfe.

Das Buch ermöglicht allen ernsthaft an einer gelingenden Zukunft der Gesamtgesellschaft Interessierten, gleichgültig ob Kritiker oder Befürworter der Aktionen der „Letzten Generation“, ein Nachdenken über aktuelle Entwicklungen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Die in Kapitel XIV getroffene Eingangs-Feststellung „Wer Veränderung will, muss im eigenen Haus beginnen“ ist nicht nur grundsätzlich richtig, sondern leitet auch den Teil mit der Dokumentation realistischer, ideologiefreier Ziele ein.

Gerade im Hinblick auf einer ideologie- und dogmenfreien, an echter Marktwirtschaft ausgerichteten Ökonomie, die Umwelt und Klimaschutz in den Wirtschafts- und Gesellschaftsprozess einbringt, weist der Autor auf das Wirtschaftsmodell der „Gemeinwohl-Ökonomie“ hin. Dadurch wird deutlich sichtbar, dass dessen durch demokratische Prozesse mögliche Umsetzung die Forderungen der „Letzten Generation“ erfüllen kann. Das aktuelle neoliberale kapitalistische Wirtschaftssystem und ein wirksamer Klimaschutz schließen sich aus.

Die in den letzten Kapiteln beschriebene Annäherung der Gedanken des alten Gerd Dichter alias Bendus Zankler an die Motive der „Letzten Generation“ unterstützen das ideologiefreie Überdenken der Aussagen in diesem gelungenen, als Roman verfassten Sachbuch.

Und ja, die Erzählung zeigt, dass die Arbeit an den Symptomen der Umwelt- und Klimazerstörung durch die „Letzte Generation“ in der aktuellen Form wohl aussichtslos ist. Der Autor als studierter Jurist verbindet im Epilog eine Hommage an die „Letzte Generation“ mit einer schonungslosen und juristisch exzellent fundierten Abrechnung mit den politisch Verantwortlichen und den Renditegierigen der kapitalistischen Wirtschaft, die Umwelt und Klimaschutz als massive Störung ihres Strebens nach Gewinnmaximierung betrachten.

Zwar wurde von dieser aktuell herrschenden Gesellschaftsschicht mithilfe einer Mehrheit von Medienschaffenden die Zustimmung der Bürger für die Aktionen der „Letzten Generation“ fast auf null gesetzt, aber „der Widerstand geht weiter“. Er wird sich neu formieren. Der erste Schritt ist getan, der zweite wird folgen.

Gerade mit dem Epilog beweist Autor Sven Hartberger mit klaren Worten wirklich großen persönlichen Mut zur schonungslosen Aufklärung der realen Situation in einer aktuell mehr als aufgeheizten Diskussion zum Umwelt- und Klimaschutz.

Fazit: Derzeit kenne ich kein Buch zum Thema, das in dieser Intensität und Klarheit die gesellschaftliche Auseinandersetzung zur Klimakrise aufzeigt sowie Anstöße zu einer kritischen und fairen, also zielführenden Diskussion zu den Forderungen und Aktivitäten einer umstrittenen Bewegung junger Mitbürger bietet. Eine fesselnde und lehrreiche Lektüre.

 

Sven Hartberger
Lasst Euch nicht täuschen!
Ein Brief an die Letzte Generation
Sonderzahl, Oktober 2024
128 Seiten, 20.00 Euro
978-3-85449-666-3

 

Anmerkung des Autors: Aus Gründen der flüssigen Lesbarkeit wurde im gesamten Text grundsätzlich die generische maskuline Form verwendet. Alle Geschlechter sind damit gleichermaßen angesprochen.

Anmerkung der Redaktion: Diese Buchrezension erschien bereits auf „Pressenza“ und wurde für die „ÖkologiePolitik“ geringfügig überarbeitet.


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