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Gesellschaft & Kultur

Zynische Scheinlösung

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Weil sie fremd und „anders“ sind, eignen sich Flüchtlinge hervorragend als „Sündenböcke“. Sich mit der hinter diesem Begriff steckenden Logik zu beschäftigen, öffnet die Augen für eine grundlegende Problematik. Und dies wiederum kann helfen, auch andere Phänomene besser zu verstehen.

von Günther Hartmann

 

Unsere Gesellschaft driftet auseinander. Zum einen wird die Kluft zwischen Arm und Reich immer größer – einhergehend mit einem Abbau der Sozialsysteme und der Demokratie. Zum anderen erfreut sich identitäres Denken zunehmender Beliebtheit – mit stereotypen Denkmustern und klaren Feindbildern: für die Rechtsidentitären der „Migrant“ und der „Islam“, für die Linksidentitären der „alte weiße Mann“ und der „Nazi“. Je mehr unsere existenziellen Grundlagen bedroht sind, desto mehr scheinen sich viele Menschen daran zu klammern. Was geht da in den Köpfen vor? Warum wird unsere Gesellschaft immer hysterischer, irrationaler, aggressiver und gehässiger?

 

Das Dilemma

Das sei ganz normal, würde der französische Kulturphilosoph René Girard sagen. Denn bei seinen Forschungen fiel ihm auf, dass fast alle Gesellschaften von der Antike bis zur Gegenwart ähnlich verlaufende Entwicklungen aufweisen. Und fand dafür eine zeitlose Erklärung: das „mimetische Begehren“. Da unsere angeborenen Instinkte im Lauf der Geschichte ihren ursprünglichen Sinn verloren haben, müssen wir unser Verhalten durch Nachahmen erlernen. Dabei ahmen wir auch das Begehren nach. Doch das führt dazu, dass alle das Gleiche begehren. Neid, Missgunst und Rivalität entstehen, wachsen – und werden wiederum nachgeahmt. Das geschieht weitergehend unbewusst. Und ist ein Teufelskreis. Die Konflikte schaukeln sich immer weiter hoch – bis ein kleiner Funke genügt, um die Situation eskalieren zu lassen.

 

Die Scheinlösung

Dies zu verhindern, war seit jeher ein Ziel der Religionen. Und es setzte sich früh ein simples, aber wirksames Konzept durch. Eins, das aus dem „Jeder gegen jeden“ ein „Alle gegen einen“ macht, das die internen Spannungen zunächst polarisiert und dann kanalisiert: der „Sündenbock-Mechanismus“. Wobei der „Sündenbock“ in den mythischen Kulturen ein Mensch war – meist ein Außenseiter oder Fremder – und erst im Judentum durch ein Tier ersetzt wurde. Indem der „Sündenbock“ für die vergiftete Atmosphäre verantwortlich gemacht, dämonisiert und gelyncht wird, verwandelt sich die allgemeine Angespanntheit in eine Entspanntheit und Einmütigkeit. Der innere Friede ist wieder hergestellt. Allerdings nur für kurze Zeit. Denn das Konzept beruht auf einer Lüge, auf einem kollektiven Selbstbetrug.

 

Die Zeitenwende

Einen kulturgeschichtlichen Wendepunkt sieht Girard in den christlichen Evangelien: Sie schildern detailliert, wie Jesus selbst zum „Sündenbock“ gemacht und grausam hingerichtet wird. Sie schildern das aber nicht wie unzählige Mythen aus der Perspektive der Täter, sondern zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit aus der Perspektive des Opfers. Girard stellt fest: „Wer die Evangelien liest, lernt etwas über die Mythen. Wer die Mythen liest, lernt nichts über die Evangelien.“ Dennoch überlebte der „Sündenbock-Mechanismus“ – bis heute. Auf die Frage, wie wir aus den fatalen Kreisläufen ausbrechen können, antwortete Girard einmal recht nüchtern: „Ich glaube, dass wir frei sind. Es ist eine Frage des Verstehens und des Willens.“

 

Deutschland 2024

Noch im Oktober 2023 ließ sich Bundeskanzler Olaf Scholz auf der Titelseite des „Spiegel“ mit dem Zitat „Wir müssen endlich im großen Stil abschieben“ abbilden. Als sich im Januar 2024 in einem Potsdamer Hotel 20 bis 30 geladene Personen vom österreichischen Rechtsidentitären Martin Sellner sein neues Buch „Remigration“ – das übrigens im Buchhandel frei erhältlich ist – vorstellen ließen, bauschten dies die Bundesregierung und der Recherchedienst „Correctiv“ zum gefährlichen „Geheimtreffen“ auf und behaupteten anfangs, es wäre dort ein Masterplan für Deportationen entwickelt worden. Die Empörung war groß. Zahlreiche Demonstrationen „gegen Rechts“ folgten.

„Nazi-Bashing“ als sozialer Kit? Scheint auch zu funktionieren. Ist aber eine fragwürde Strategie. Denn erstens wird auch hier nicht über den Sündenbock-Mechanismus aufgeklärt, sondern er wird benutzt, um die Stimmung im Land zu lenken. Und zweitens ist offensichtlich, dass keine wirkliche Überzeugung dahintersteckt, keinem universellen Leitbild gefolgt wird. Denn als z. B. im Februar der russische Rechtsextremist Alexej Nawalny, der u. a. nicht-russische Minderheiten als „Kakerlaken“ bezeichnete und ihre Deportation forderte, in einem russischen Gefangenenlager unter mysteriösen Umständen starb, rühmte ihn Wirtschaftsminister Robert Habeck als „wirklichen Helden“ und Außenministerin Annalena Baerbock als „Oppositionellen, der für Freiheit einstand“.

Der Feind meines Feindes ist mein Freund – und unser Feind ist Wladimir Putin. Angeblich würde er bald gerne die NATO angreifen. Obwohl er ihr dafür 3-fach überlegen sein müsste, der Militäretat der NATO jedoch aktuell 12-mal so hoch ist. „Putins Hauptziel ist Zerstörung – zuerst die Ukraine und dann Sie. Putin ist es egal, wen er tötet“, warnt der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj. Derweil seine Krim-Beauftragte Tamila Taschewa offen ankündigt, nach der Rückeroberung der Halbinsel die bis zu 800.000 dort lebenden Russen „zwangsausweisen“ zu wollen.

 

Was können wir tun?

Wie kommen wir aus der Eskalationsspirale heraus? „Es ist eine Frage des Verstehens und des Willens“, sagte Girard. Mehr Ehrlichkeit wäre notwendig. Mehr Wahrheitsliebe. Doch auch das Wahrheitsverständnis nimmt immer groteskere Züge an. Als z. B. im März ein abgehörtes Telefonat veröffentlicht wurde, in dem zu hören ist, wie hochrangige Bundeswehroffiziere über die Möglichkeit beraten, Taurus-Raketen an die Ukraine zu liefern und dies zu vertuschen, bestätigte Verteidigungsminister Boris Pistorius die Echtheit des Telefonats – und bezeichnete es gleichzeitig als „russische Desinformation“.

Widerspruchsfreiheit ist aber nach Immanuel Kant „ein allgemeines Kriterium aller Wahrheit“. Dies nicht anzuerkennen, bedeutet: Willkür. Und die nimmt immer mehr zu, untergräbt unsere Vernunft und unsere Demokratie. Sie ist ein typisches Kennzeichen autoritären Denkens. Deren Vertreter lieben das Propagieren von Feindbildern – äußere oder innere, echte, eingebildete oder bewusst geschaffene. Denn die sind zur Erringung und Sicherung von Macht sehr hilfreich. Sie nutzen die Anfälligkeit vieler Menschen für allzu simple Erklärungen und Lösungen hemmungslos aus. Deshalb ist immer, wenn Personen oder Gruppen dämonisiert werden, gesundes Misstrauen angebracht.

 


Buchtipps

René Girard
Im Angesicht der Apokalypse
Clausewitz zu Ende denken
Matthes & Seitz, 2014 / Mai 2024
388 Seiten, 18.00 Euro
978-3-7518-4508-3

René Girard
Das Ende der Gewalt
Analyse des Menschheitsverhängnisses
Herder, Juni 2021
520 Seiten, 35.00 Euro
978-3-451-39085-2

René Girard
Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz
Eine kritische Apologie des Christentums
Carl Hanser, August 2002
256 Seiten, 21.50 Euro
978-3-446-20230-6


Onlinetipps

Günther Hartmann
Sündenböcke: Einer der mächtigsten Impulse
ÖkologiePolitik, 06.04.2022
www.t1p.de/von7c

Interview mit René Girard
Wir reden so viel über Sex, weil wir es nicht wagen, über Neid zu sprechen
Neue Züricher Zeitung, 04.08.2019
www.t1p.de/utnw5

Interview mit René Girard
Warum kämpfen wir? Und wie können wir aufhören?
Neue Züricher Zeitung, 10.03.2019
www.t1p.de/2rg3


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