Durch Flucht traumatisierte Kinder bräuchten eigentlich Stabilität, Ruhe und Geborgenheit. – Foto: Knut Bry

Gesellschaft & Kultur

„Abschreckung statt Menschlichkeit“

Diesen Beitrag teilen

Moria war das größte Flüchtlingslager, das bisher in Europa existierte. Für knapp 3.000 Menschen gebaut, waren dort jahrelang bis zu 20.000 Menschen untergebracht. Es herrschten katastrophale Verhältnisse. 2020 zerstörte ein Großbrand das Lager, doch in einem neuen Lager geht das Leiden weiter.

Interview mit Katrin Glatz Brubakk

 

ÖkologiePolitik: Frau Glatz Brubakk, wie kam es zu den schrecklichen Zuständen in Moria?

Katrin Glatz Brubakk: Griechenland und die EU schienen total unvorbereitet auf die hohe Anzahl von Flüchtlingen, die ab 2015 nach Lesbos und Moria kamen. Am Anfang waren es freiwillige Helfer wie ich, die an den Stränden Menschenleben retteten, Kleider verteilten und Erste Hilfe boten. Da hatte ich noch gedacht, die EU würde bald bessere Lösungen finden. Aber es kam keine. Stattdessen wurde es schlimmer. Ab März 2016 durfte niemand ohne fertig behandelten Asyl-Antrag die Insel verlassen. Manche warteten bis zu 4 Jahre und das Lager wurde immer überfüllter. Die Menschen mussten auf Papp-Platten in kleinen Zelten schlafen. Und überall war Müll.

Wie passt das zur angeblich wertegeleiteten EU-Politik?

Die Überzeugung, dass die Würde des Menschen unantastbar ist, und all die anderen edlen Worte – die waren in Moria nie etwas wert. Menschenrechte werden systematisch ignoriert – z. B. das Recht auf Sicherheit, auf ein gutes Familienleben, auf eine Schule für die Kinder und auf eine gute Gesundheitspflege. Das Ziel der EU scheint Abschreckung und Abschiebung zu sein, nicht Menschlichkeit und Sicherung grundlegender Rechte. Wie schlimm es ist, sieht man erst klar beim Blick auf das Gesamtbild: Es geht nicht nur um die Verhältnisse im Lager, sondern auch um Pushbacks auf dem Meer, um Kriminalisierung von Solidarität, um schwierige bis unmögliche Arbeitsverhältnisse für Helfer und Presse. Deshalb haben wir das Buch „Inside Moria“ geschrieben. Es schildert die humanitären Konsequenzen der heutigen Asylpolitik.

Was machen Zustände wie in Moria mit den dort untergebrachten Menschen?

Alle Menschen, die unter solchen Bedingungen länger leben müssen, werden psychisch und physisch geschädigt. Viele werden depressiv oder bekommen Angstanfälle. Sie verlieren die Hoffnung auf ein gutes Leben. Die Kombination von großer Unsicherheit, Apathie und Hoffnungslosigkeit können Menschen zum Suizid bringen. Das haben wir oft gesehen.

Was machen solche Zustände mit den dort aufwachsenden Kindern?

Alle Kinder, die in Moria lebten und leben, haben bereits in ihrem Heimatland und auf der Flucht Traumata erlebt. Sie bräuchten Stabilität, Ruhe und Geborgenheit, um zu genesen. Das bietet Moria überhaupt nicht an. Stattdessen ist der Tag ganz ohne Inhalt. Sie fürchten sich und können nie richtig entspannen. Das schadet der Entwicklung des Gehirns, sodass sie auch im späteren Leben Schwierigkeiten haben können, sich zu konzentrieren, Impulsen zu widerstehen, Gefühle gut zu bewältigen und in der Schule zu lernen. Was sie in Moria erleben, prägt sie noch jahrelang.

Was passierte mit den Menschen nach dem Brand?

Eine Woche lang lebten die 13.000 Menschen auf die Straße, bei 40 °C Hitze. Die Essensverteilung brach zusammen, selbst neugeborene Babys und Kranke mussten auf dem bloßen Asphalt schlafen. Und die Polizei schoss mit Tränengas, wenn jemand versuchte, in die Stadt zu kommen. Schließlich wurde ein provisorisches Lager errichtet – offiziell „Mavrovouni“, aber auch „Kara Tepe“ oder „Moria 2“ genannt. Monatelang gab es kein fließendes Wasser, die Dixi-Klos kippten im Wind um und jede Familie hatte nur ein 4 m2 großes Zelt zur Verfügung. Erst 3 Jahre später war das Lager für die kalten, windigen Winter auf Lesbos angepasst. Totale Passivität wurde immer mehr zur Grundstimmung. Jahrelang nur zu warten und nicht tätig sein zu dürfen, ist keine gute Vorbereitung darauf, wieder Teil einer Gesellschaft zu werden. Menschen werden – wie es in unserem Buch ein psychologischer Fachartikel beschreibt – institutionalisiert. Sie verlieren ihre Identität und die Möglichkeit, eigene Ressourcen zu verwenden.

Warum ist heute kaum noch etwas von Moria zu hören?

Weil keine Journalisten mehr reinkommen dürfen und auch für Helfer der Zugang sehr begrenzt ist. Die Menschenrechtsverletzungen gehen aber weiter.

Sind die Zustände in den anderen europäischen Flüchtlingslagern besser?

Auf den griechischen Inseln von Samos und Kos gibt es keine Flüchtlingslager mehr, sondern sogenannte „Closed Controlled Access Centers“. Die ähneln Gefängnissen. Menschen auf der Flucht werden eingesperrt, selbst Kinder und Kranke. Auch auf Lesbos ist so ein Lager gebaut worden, allerdings noch nicht in Betrieb. Wenn die EU Flüchtlinge hinter Gitter sperrt, sogar in Drittländern, wo die Presse und die unabhängigen Helfer keinen Zugang haben, mache ich mir erfahrungsbasierte Sorgen. Moria dient als grausames Beispiel, wie es werden kann. Deshalb dürfen wir nicht wegschauen und nicht vergessen!

Frau Brubakk, herzlichen Dank für das interessante Gespräch.

 

Dem Thema „Fluchtursachen“ widmete sich bereits die ÖP 170. Die steht im PDF-Archiv und kann dort kostenfrei heruntergeladen werden: www.t1p.de/y2ttf

 


Buchtipp

Katrin Glatz Brubakk, Guro Kulset Merakerås
Inside Moria
Europas Verrat an Moral und Menschlichkeit
Westend, März 2024
367 Seiten, 26.00 Euro
978-3-86489-436-7


Mehr ÖkologiePolitik

Archiv der Online-Beiträge