Geburtenentwicklung in Deutschland – Grafik aus: Wido Geis-Thöne, Die Bedeutung der Zuwanderung

Wirtschaft & Soziales

„Weniger Zuwanderung würde viele Probleme verschärfen“

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Der demografische Wandel stellt unsere Gesellschaft vor große Herausforderungen. Zuwanderung kann die sich schon längst abzeichnenden Probleme lösen helfen. Sie sollte aber durch politische Maßnahmen gesteuert werden, um eine schnelle Integration in den Arbeitsmarkt zu ermöglichen.

Interview mit Dr. Wido Geis-Thöne

 

ÖkologiePolitik: Herr Dr. Geis-Thöne, wo stünde Deutschland heute ohne die bereits erfolgte Zuwanderung?

Dr. Wido Geis-Thöne: Deutschland hatte in der Nachkriegszeit eine sehr spezifische demografische Entwicklung. Nach einem Babyboom in den 1950er- und 1960er-Jahren haben sich die Geburtenzahlen von 1964 bis 1975 etwa halbiert. Lange war dies ökonomisch vorteilhaft, da anteilsmäßig besonders viele Menschen im erwerbsfähigen Alter waren. Doch jetzt scheiden die Babyboomer-Jahrgänge zunehmend aus dem Erwerbsleben aus, was Fachkräfteengpässe und zunehmende Finanzierungslücken im sozialen Sicherungssystem zur Folge hat. Wären in den letzten Jahren nicht so viele Arbeitskräfte insbesondere aus den neuen EU-Mitgliedsländern zugewandert, wären diese Probleme heute bereits viel manifester. Auch wäre die Gesellschaft ohne die Zuwanderung der letzten Jahrzehnte eine vollkommen andere. Die starken italienischen Einflüsse auf unsere Esskultur hätten ohne den Zuzug der Gastarbeiter in den 1950er- und 1960er-Jahren so kaum erfolgen können.

Was wäre, wenn Deutschland künftig weniger oder keine Zuwanderung hätte?

Dann wäre mit einem deutlichen Rückgang der Wirtschaftsleistung und damit auch mit abnehmendem Wohlstand zu rechnen. Zudem dürften sich Probleme bei der Versorgung der Bevölkerung mit medizinischen und pflegerischen, aber auch handwerklichen Leistungen ergeben. Insgesamt würde sich das Leben in Deutschland sehr wahrscheinlich wesentlich schwieriger gestalten.

In welchen Berufen landen Einwanderer derzeit vor allem?

Das lässt sich nicht so pauschal sagen. Wir haben eine bedeutende Zahl hochqualifizierter Zuwanderer, die in gut bezahlten Engpassberufen im medizinischen, technischen und IT-Bereich tätig werden. Zudem werden insbesondere Personen aus den neuen EU-Mitgliedsländern häufiger in Tätigkeitsfeldern wie der Fleischerei aktiv, für die sich nur sehr schwer inländische Arbeitskräfte finden lassen. Anders als andere Zuwanderergruppen lassen sich diese auch häufig in den vom demografischen Wandel stärker betroffenen ländlichen Bereichen nieder. Geflüchtete hingegen üben vor dem Hintergrund eines niedrigen Qualifikationsniveaus meist einfache Helfertätigkeiten aus.

Was sind die größten Probleme bei der Integration von Einwanderern?

Auch hier darf man keinesfalls alle über einen Kamm scheren. Bei den Erwerbs- und Bildungsmigranten aus den anderen EU-Ländern und aus Drittstaaten haben wir keine massiven Integrationsprobleme. Dennoch könnten der Erwerb der deutschen Sprache und der Austausch mit der inländischen Bevölkerung noch stärker gefördert werden. Kanada ist hier Vorbild. Völlig anders stellt sich die Situation bei Geflüchteten dar. Diese tun sich häufig sehr schwer, am deutschen Arbeitsmarkt Fuß zu fassen, und sind langfristig auf staatliche Unterstützungsleistungen angewiesen. Dabei sind mangelnde Qualifikationen bis hin zu Lücken bei der Grundbildung ein Hauptgrund. Diese erschweren auch den Erwerb der deutschen Sprache und das Nachholen von Bildungsabschlüssen. Hinzu kommt, dass sie teilweise keine starken Anreize haben, sich schnell in den deutschen Arbeitsmarkt zu integrieren, da sie anders als andere Zuwanderergruppen direkt nach ihrer Einreise Zugang zu einer im internationalen Vergleich sehr großzügig bemessenen sozialen Sicherung haben.

Was sollte zur Lösung dieser Probleme getan werden?

Letztlich ist ein Konzept des Forderns und Förderns notwendig, um die Integration der Geflüchteten zu stärken. Insbesondere sollte das Asylbewerberleistungsgesetz dahingehend überarbeitet werden, dass wie beim Bürgergeld grundsätzlich die Erwartung besteht, dass die Geflüchteten eine Erwerbstätigkeit aufnehmen. Dafür müssten dann natürlich auch rechtliche Hürden für den Arbeitsmarktzugang weiter abgeschafft werden. Ebenfalls gehandelt werden muss beim Thema Nachqualifizierung. Einerseits ist hier ein weiterer passgenauer quantitativer und qualitativer Ausbau der Angebote notwendig. Andererseits müssen aber auch die Anreize für die kontinuierliche, aktive Teilnahme gestärkt werden. Die Statistiken zu den Integrationskursen deuten darauf hin, dass viele Teilnehmer irgendwann einfach nicht mehr zum Unterricht erscheinen.

Wie wirkt sich die Zuwanderung auf die Herkunftsländer aus?

Wo Länder bereits stärker vom demografischen Wandel betroffen sind, ist es für die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung eher ungünstig, wenn in größerem Maße junge Menschen abwandern. Das trifft vorwiegend auf den östlichen Teil Europas zu. Wo die Qualifikationsstruktur der Bevölkerung sehr ungünstig ist, kann es zu großen Problemen führen, wenn gut qualifizierte Fachkräfte die Länder verlassen. Dies gilt insbesondere für die afrikanischen Länder südlich der Sahara. Gleichzeitig ist es hier vor dem Hintergrund eines noch sehr starken Bevölkerungswachstums allerdings in der Regel sehr vorteilhaft, wenn Niedrigqualifizierte abwandern. In demografiestarken Ländern mit mittlerem Entwicklungsstand wie z. B. Indien ist die Lage nochmals ganz anders. Dort kann die Möglichkeit, ins Ausland zu gehen, Bildungsinvestitionen attraktiver machen und vorübergehende Auslandsaufenthalte können Wissen ins Land bringen, sodass auch die Abwanderung von Fachkräften nicht unbedingt nur negative Effekte haben muss.

Herr Dr. Geis-Thöne, herzlichen Dank für das interessante Gespräch.

 


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