„Es geht um das gute Leben“
20. Mai 2024
Heimat hat seit jeher mit Bauen zu tun: mit Häusern, Nachbarschaften, Dörfern, Städten. In den vergangenen 100 Jahren hat sich das Bauen aber stark verändert und wirkt oft „unheimlich“ statt „heimatlich“. Warum ist das so? Was ist da passiert? Ein Architekturprofessor erläutert die Entwicklungen und deren Ursachen.
Interview mit Prof. Dr. Martin Düchs
ÖkologiePolitik: Herr Prof. Düchs, welche Rolle spielte der Begriff „Heimat“ in der modernen Architektur?
Prof. Dr. Martin Düchs: Leider kaum eine. Bei einer näheren Betrachtung sind zwei Ebenen zu unterscheiden: die historische und die systematische. Systematisch sollte es in der Architektur immer darum gehen, den Menschen als Individuum und die Menschen als soziale Gemeinschaft „wohnen“ zu lassen. Das klingt banal. Der Begriff „wohnen“ meint hier aber viel mehr als den Aufenthalt in einer irgendwie gearteten Behausung. Es geht um ein gelingendes, dem Menschen als Menschen umfassend entsprechendes In-der-Welt-Sein. Mit anderen Worten: Es geht um das gute Leben im philosophischen Sinn. Das hängt natürlich nicht nur von Architektur ab, aber eben auch. Wenn Architektur dazu beiträgt, dass ein „Wohnen“ des Menschen gelingt, dann kann man davon sprechen, dass sie Heimat bietet. Diese Art von Heimat kann, muss aber nicht mit bestimmten traditionellen Bauformen, Materialien oder Landschaften zusammenhängen. Der Mensch ist dazu in der Lage, fast überall Wurzeln zu schlagen und Heimat zu finden. Umgekehrt kann er sich auch schon immer an einem bestimmten Ort befinden und trotzdem entwurzelt und heimatlos sein. Theodor W. Adorno sprach von der Obdachlosigkeit des modernen Menschen. Genau diese existenzielle Obdach- oder Heimatlosigkeit findet man leider in der aktuellen Architektur viel zu häufig – wenn nicht die Menschen im Mittelpunkt stehen, sondern ökonomische Interessen.
Und die historische Ebene?
Da polarisierte sich vor einem Jahrhundert die Architektur in zwei konträre Strömungen: Auf der Seite gab es den „Internationalen Stil“, der Heimat im Sinne einer regionalen Verwurzelung als völlig unwichtig betrachtete – Stichwort: „Bauhaus“. Auf der anderen Seite die sogenannte „Heimatschutzarchitektur“, die lokale, regionale und nationale Eigenheiten betonen wollte – Stichwort: „Stuttgarter Schule“. Auf beiden Seiten gab es gute Ideen und problematische Aspekte – und ambivalente Persönlichkeiten. Die Nazis schlossen das „Bauhaus“ sofort und konnten mit der „Stuttgarter Schule“ sehr viel anfangen. Nach dem 2. Weltkrieg wurde dann als Reaktion darauf ein internationaler und weithin gesichtsloser Funktionalismus zum Mainstream. Es dauerte lange, bis der sogenannte „Kritische Regionalismus“ dann ab den 1970er-Jahren wieder eine akzeptierte Position darstellte – eine Rückbesinnung auf traditionelle regionale Materialien, Formen und Handwerkstechniken, jedoch modern interpretiert und keine banalen Kopien alter Häuser. Das alltägliche Bauen ist allerdings nach wie vor geprägt von standardisierten und wirtschaftlich optimierten Gebäudetypen von Bauträgern und Projektentwicklern. Egal ob im Einfamilien- oder Bürohausbau, ob auf dem Land oder in der Stadt – es dominiert ein in ökologischer und architektonischer Hinsicht trauriger und uniformer Stil.
Gibt es positive Beispiele, die als Vorbild dienen können?
Es gibt hervorragende Projekte. Da lässt sich in Österreich Vorarlberg nennen, das bekannt ist für eine hervorragende heimatbezogene Baukultur. Vertreter wie Hermann Kaufmann interpretieren vor allem die Holzbautradition ihrer Heimat neu. Im Tessin gibt es schon seit den 1970er-Jahren eine maßgeblich von Luigi Snozzi beeinflusste Bewegung, die die Steinbauweise neu interpretiert. In der Schweiz gibt es Architekten wie Gion Caminada, der in seinem Heimatdorf Vrin in Graubünden faszinierende Bauten errichtet hat. Und in Bayern fallen mir spontan Anna Heringer und Peter Haimerl ein. Anna Heringer hat den Lehmbau „wiederentdeckt“ und macht ihn populär. Peter Haimerl stammt aus dem Bayerischen Wald und hat neben vielen anderen hochinteressanten Projekten schon verschiedene „Waldlerhäuser“ gerettet, indem er sie mehr oder weniger radikal umgebaut und neu interpretiert hat. Auch das ein sehr wichtiger Beitrag zu einer heimatbezogenen Architektur.
Warum sieht das „normale“ Bauen so ganz anders aus?
Wirtschaftliche Zwänge und ein rigides Korsett aus Normen und Vorschriften ermuntern nicht unbedingt zu architektonisch hochwertigen Projekten. Vor allem aber ist das Bewusstsein für die Bedeutung der gebauten Umwelt für unser aller Leben viel zu gering ausgeprägt.
Was sollte getan werden? Und von wem?
Genauso wenig wie es einen Schuldigen an der Misere gibt, gibt es eine Lösung. Der erste Schritt zu einer Verbesserung der Situation bestünde darin, anzuerkennen, dass wir es hier mit einem hochkomplexen System zu tun haben, das man nur mit differenzierten Maßnahmen für unterschiedliche Situationen – Land, Kleinstadt, Großstadt – und verschiedenen Maßnahmen gleichzeitig verbessern kann. Diese könnten z. B. sein: mehr generelle Bildung in Sachen Baukultur; mehr Mut zu Baukultur bei privaten und institutionellen Bauherren; mehr Wettbewerbe statt weniger; ein Bewusstsein dafür, dass billig nicht gleichbedeutend mit preiswert ist; und der Wille, für einen Zeithorizont jenseits von 30 Jahren zu bauen.
Herr Prof. Düchs, herzlichen Dank für das interessante Gespräch.
Buchtipp
Eric-Oliver Mader, Julia Mang-Bohn (Hrsg.)
50+1 Architektonische Gewissensfragen
beantwortet von Dr. Martin Düchs
Dölling und Galitz, September 2019
248 Seiten, 22.00 Euro
978-3-86218-127-8
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