„Heimat ist ein Basislager des Lebens“
29. April 2024
Ein Philosophieprofessor reflektiert seit Jahrzehnten über die Kunst des guten Lebens – und in diesem Kontext auch über Heimat. Er sieht in ihr ein menschliches Grundbedürfnis. Und prophezeit ihr eine große Zukunft – wenn es uns gelingt, sie vom eindimensionalen Verständnis der Vergangenheit zu lösen und neu zu denken.
Interview mit Prof. Dr. Wilhelm Schmid
ÖkologiePolitik: Herr Prof. Schmid, was ist Heimat?
Prof. Dr. Wilhelm Schmid: Heimat ist etwas, was uns vertraut und was verlässlich ist. Etwas, das unser Bedürfnis nach Wärme, Geborgenheit und Orientierung befriedigt. Jeder Mensch braucht in unserer großen, unübersichtlichen Welt einen Bereich, den er überblicken, in den er sich zurückziehen und in dem er ganz bei sich sein kann. Niemand kann in völliger Fremdheit leben, jeder braucht irgendeine Heimat. Sie ist ein Basislager des Lebens, von dem aus erst Erkundungen ins Neue und Ungewisse möglich werden. Am besten ist es, mehrere Heimaten zu haben, um nicht vor dem Nichts zu stehen, wenn eine Heimat einmal aus irgendeinem Grund verloren geht.
Welche Heimaten gibt es denn?
Es gibt geografische Heimaten: Ortschaften und Regionen, in denen wir aufgewachsen sind, in denen wir gelebt haben oder gerade leben oder zu denen es uns hinzieht. Es gibt aber auch geistige und emotionale Heimaten: Gemeinschaften mit Gleichgesinnten bezüglich Kultur, Kunst, Musik, Politik, Religion. Auch unsere Sprache ist eine Heimat. Und die Natur.
Welche Bedeutung hat die Natur?
Die Natur ist beharrlich, nicht-technisch, ursprünglich. Danach sehnen wir Menschen uns umso mehr, je stärker die Technik und immer rasantere Veränderungen unser Leben bestimmen. Die Natur ermöglicht eine Entgiftung – heute vor allem bei denen nötig, die zu tief in die digitalen Welten eingetaucht sind. Die Nähe zur Natur lässt uns durchatmen, macht uns gelassener, weitet unseren Blick, unsere Seele, unseren Geist und bringt uns unserem Ursprung wieder näher.
Wie wichtig ist der Ort der Geburt, Kindheit und Jugend?
Das ist der Ort, an dem die eigene Geschichte ihren Lauf nahm. Diesem Anfang wohnt ein ganz besonderer Zauber inne, der unser ganzes Leben vorhält. Ich besuche bis heute immer wieder gerne das kleine Dorf, in dem ich aufwuchs.
Warum haben Sie Ihr Dorf verlassen?
Weil mich in der Pubertät eine starke Lust erfasste, die große, weite Welt zu erobern – egal wie und warum. Ich zog in die Großstadt, weil die mich faszinierte, anzog, anregte, inspirierte. Anfangs tat ich mich allerdings schwer und drohte zu vereinsamen – bis ich auf eine Künstlergruppe stieß und mich ihr anschloss. Dort fühlte ich mich auf Anhieb besser verstanden als je zuvor. Fern der alten Heimat gab es nun eine neue Art von Heimat, von der ich bis dahin nicht einmal gewusst hatte, wie sehr sie mir fehlte. Und es war keine räumliche, sondern eine menschliche und geistige. Heimat entsteht auch oder vielleicht vornehmlich durch Beziehungen: in der Familie, in einem Freundeskreis und einer Gruppe mit gemeinsamer Sprache, gemeinsamen Werten, Kunst-, Musik- und Lebensstilen, Moden, Meinungen, Gewohnheiten, Eigenheiten, Tätigkeiten, Fantasien und Erinnerungen.
Welche Rolle spielt die Sprache?
Die Sprache ist auch eine Heimat. Sie ist die Grundlage unseres Denkens, Hörens, Lesens, Schreibens und Sprechens. Unsere Muttersprache ist uns vertraut und erzeugt in uns eine positive Resonanz – erst recht, wenn sie in unserem eigenen Dialekt gesprochen wird. In allen Kulturen umgibt die Sprache jeden Menschen wie eine Wolke. Die Sprache ist die wahre Cloud. In ihr sind auch die Intelligenz und die Sensibilität vieler Jahrhunderte gespeichert.
Was für einen Heimatbegriff hat die politische Rechte?
Sie hat einen sehr rückwärtsorientierten, klischeehaften und auf wenige Aspekte reduzierten Heimatbegriff. Er besteht nicht aus vielen Heimaten, sondern nur aus einer einzigen dominanten Heimat. Die soll die menschliche „Identität“ maßgeblich definieren – und selbst „identisch“ bleiben, sich also nicht verändern. Dieses Heimatbild wird der komplexen Wirklichkeit und den vielfältigen Bedürfnissen der meisten Menschen aber überhaupt nicht gerecht. Heimat sollte weniger für „Identität“ und mehr für „Integrität“ stehen. Sie sollte integrieren statt ausgrenzen. Sie sollte zwar beständig, vor allem aber auch veränderlich sein, offen für anderes und für andere. Eine so verstandene Heimat erleichtert auch die Integration derer, die auf der Suche nach einer neuen Heimat sind. So verstanden, hat die Heimat eine große Zukunft.
Kann die Heimat auch in der Zukunft liegen?
Ja, das kann sie! Es gehört zu den großen Fähigkeiten des Menschen, sich mit seiner Vorstellungskraft neue Wirklichkeiten ausdenken zu können. Wohl jede Weiterentwicklung der menschlichen Kulturen entstand aus Ideen, Fantasien, Hoffnungen und Utopien. Die waren für diejenigen, die sie hatten, sicherlich auch eine Wirklichkeit. Und eine Heimat.
Herr Prof. Schmid, herzlichen Dank für das interessante Gespräch.
Buchtipp
Wilhelm Schmid
Heimat finden
Vom Leben in einer ungewissen Welt
Suhrkamp, Mai 2022
480 Seiten, 14.00 Euro
978-3-518-47244-6