„Kämpfen statt auf Aktienkurse glotzen!“
3. Dezember 2021
Ein Kernproblem unseres umlagebasierten Rentensystems ist die zunehmende Verarmung weiter Bevölkerungskreise. Denn dadurch wird immer weniger einbezahlt. Finanz- und Versicherungskonzerne bieten deshalb private Altersvorsorgen an, doch die sind keine gemeinwohlorientierte Lösung, sondern verschärfen die Problematik.
Interview mit Dr. Werner Rügemer
ÖkologiePolitik: Herr Dr. Rügemer, ist unser staatliches Rentensystem mit Umlageverfahren zukunftsfähig?
Dr. Werner Rügemer: Das staatliche Rentensystem bringt schon jetzt für die Mehrheit der Rentner und vor allem Rentnerinnen nur noch eine Armutsrente. Das hängt aber nicht mit der demografischen Entwicklung zusammen, sondern hat mehrere andere Gründe: (1.) die durch die ersten drei „Hartz-Gesetze“ – erweiterte Leiharbeit, Werkvertragsarbeit, geringfügige und befristete Arbeit – vielfach gekürzten Einkommen der abhängig Beschäftigten, (2.) die vermehrte kurz- oder langzeitliche Arbeitslosigkeit, während der nichts in die Rente eingezahlt wird, (3.) die zunehmende Zahl der vorzeitigen Renteneintritte wegen Krankheit, Burn-out oder aussichtsloser Arbeitslosigkeit. Im heftigen Kontrast dazu steht die ebenfalls staatlich organisierte, hoch privilegierte Rente bzw. Pension der Beamten und der Abgeordneten. Daneben breitet sich zudem noch der Flickenteppich der privaten, teilweise staatlich geförderten weiteren Rentensysteme aus, also vor allem die private Zusatzrente für abhängig Beschäftigte – „Riester-Rente“ –, die privaten und die öffentlichen Betriebsrenten, die privaten Rentensysteme für Bestverdiener wie Topmanager sowie für kammerfähige Berufe wie Notare, Apotheker, Rechtsanwälte, Architekten, Ingenieure und Ärzte. Die Mehrheit der abhängig Beschäftigten, insbesondere die der Frauen, wird systemisch und schrittweise verarmen, auch gesundheitlich, sozial und kulturell. Dagegen werden die bereits privilegierten Gruppen weiter subventioniert. Die Bevölkerung wird wie in der Arbeit so auch in der Rente sozial aufgesplittert. Die soziale, klassenmäßige Ungleichheit wird forciert, ohne dass Verantwortliche und Profiteure politisch benannt werden.
Dann gehen wir die verschiedenen Rentensysteme mal durch: Wie steht’s mit dem staatlichen Rentensystem?
Das staatliche, gesetzliche Rentensystem basiert auf dem Arbeitseinkommen der abhängig Beschäftigten und den davon abhängigen Beiträgen zur Rentenversicherung. Der Staat organisiert das über die „Deutsche Rentenversicherung Bund“. Gleichzeitig sorgt er aber auch für eine Minderung der Arbeitseinkommen für immer mehr abhängig Beschäftigte. Der bekannteste Eingriff waren Anfang der 2000er-Jahre die „Hartz-Gesetze“: Mit ihnen wurden niedrigere Arbeitseinkommen verrechtlicht und verstetigt. Inzwischen kam noch die prekäre Schein-Selbstständigkeit hinzu – etwa bei den Fahrern von Lieferdiensten. Unter Arbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) wurde 2011 der bisher von den Jobcentern gezahlte Rentenbeitrag für Arbeitslose gestrichen. Das trifft die mit den sowieso schon niedrigsten Einkommen doppelt. Zusätzlich halfen die von der Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) geführten Bundesregierungen, dass die Zahl der kollektiven, branchenübergreifenden Tarifverträge immer weiter schwanden, während vor allem „christliche Gewerkschaften“ niedrigeren Tarifverträgen zustimmten. Deutschland hat unter Merkel im Vergleich zu anderen EU-Staaten die Einführung eines Mindestlohns um ein Jahrzehnt verzögert. Und der steht, gemessen an der Kaufkraft, im EU-Vergleich weit unten, wird millionenfach unterlaufen und selbst bei einem 40-Stunden-Job in die Renten-Armut führen. Außerdem werden jährlich etwa 1 Mrd. geleistete Überstunden nicht bezahlt. Gerade Frauen wurden unter der ersten weiblichen Bundeskanzlerin bei ihren Arbeitseinkommen und damit auch Renten besonders geschädigt. Unter Arbeitsminister Franz Müntefering (SPD) wurde dann 2007 das Renteneintrittsalter von 65 auf 67 Jahre erhöht, was schrittweise bis 2030 umgesetzt wird. Das bedeutet in vielen Fällen eine Kürzung der Rente, weil gegenwärtig etwa 60 % der abhängig Beschäftigten wegen Arbeitslosigkeit, Krankheit und Burn-out immer früher in Rente gehen und Abschläge hinnehmen müssen. Und nicht zu vergessen: Gut ein Fünftel ihres Geldes gibt die gesetzliche Rentenkasse für versicherungsfremde Leistungen aus.
Für welche Leistungen?
Für sozialpolitische Maßnahmen wie z. B. Renten für Spätaussiedler, für Ex-DDR-Bürger, für Opfer des NS-Staates, aber auch für Ex-SS-Mitglieder aus dem Baltikum, für Arbeitslose, die wegen Aussichtslosigkeit auf eine neue Arbeit frühzeitig in Rente geschickt werden, für Kindererziehungszeiten usw. Für diese Leistungen wurden keine Beiträge bezahlt, sodass sie die Renten zusätzlich absenken. 1990 bekam ein Rentner 55 % seines durchschnittlichen Arbeitseinkommens als Rente, 2020 waren es nur noch 47,9 %.
Wie hoch sind denn die Renten aktuell?
Bei den Frauen erhalten 69 % eine Netto-Rente zwischen 300 und 900 Euro pro Monat, 20 % eine zwischen 900 und 1.200 Euro, 8 % eine zwischen 1.200 und 1.500 Euro, 3 % eine zwischen 1.500 und 1.800 Euro und 1 % eine zwischen 1.800 und 2.100 Euro. Bei den Männern liegen 49 % unter 1.200 Euro, nur 23 % erreichen eine Netto-Rente zwischen 1.200 und 1.500 Euro. Zur besseren Einordnung dieser Beträge: Die Armutsgrenze liegt in Deutschland für einen 1-Personen-Haushalt bei 1.074 Euro.
Die „Riester-Rente“ wurde einführt, um die sinkenden Renten aus dem staatlichen Umlagesystem aufzubessern. Warum funktioniert sie nicht?
Die 2001 unter der rot-grünen Regierung von Bundeskanzler Gerhard Schröder eingeführte und nach dem damaligen Arbeitsminister Walter Riester (SPD) benannte private Zusatzrente stagniert seit 2013 bei den Neuabschlüssen. Und ein Fünftel der Verträge ist auf „ruhend“ gestellt. Es wird nichts mehr eingezahlt, weil die Rentenbeträge zu gering sind. Denn ein Viertel der eingezahlten Gelder kassieren die Anbieter. Der durchschnittliche Auszahlungsbetrag beläuft sich gegenwärtig auf lediglich 55 Euro pro Monat. 2014 wurde ein Reformgesetz beschlossen – ohne Wirkung. Die Anbieter haben die Verzinsungsgarantie auf 0,25 % gesenkt. Nur jeder vierte Beschäftigte hat eine „Riester-Rente“. Und gerade die Niedrigverdiener haben keine. Bilanz nach 20 Jahren: Die „Riester-Rente“ ist gescheitert! Es kommt ja noch ein Effekt hinzu, über den öffentlich nicht gesprochen wird: Der Staat fördert die „Riester-Rente“ steuerlich, erleidet also Haushaltseinbußen. Deshalb kann er die staatliche Rente immer weniger stützen. Und gleichzeitig verteuert er öffentliche Leistungen direkt oder durch Privatisierungen – was wiederum die Bezieher niedriger Renten am stärksten schädigt.
Für Besserverdienende gibt es die „Rürup-Rente“. Funktioniert die besser?
Die läuft besser – auch weil der betroffene Kreis viel kleiner ist. Diese private Zusatzrente wurde 2005, also einige Jahre nach der „Riester-Rente“, eingeführt und nach dem Regierungsberater Prof. Bert Rürup benannt. Sie wird vom Staat ebenfalls steuerlich gefördert und zielt auf gut verdienende Freiberufler, leitende Angestellte und Selbstständige wie Anwälte, Apotheker und Ärzte, die schon eine Rentenversicherung in ihrer Versorgungskasse haben. Warum es diese Rente gibt, ist vom System her völlig unsinnig, aber Rürup als Lobbyist hat den Versicherungsunternehmen dieses neue, staatlich subventionierte Geschäftsfeld erschlossen.
Was hat es mit der Erwerbsminderungsrente auf sich?
Beschäftigte können wegen verschiedener Erkrankungen teilweise lange vor dem regulären Renteneintritt eine Erwerbsminderungsrente bekommen. Im Jahr 2020 erhielten immerhin 1,6 Mio. Menschen eine solche. Sie ist naturgemäß niedriger als eine „normale“ Rente. Die volle Erwerbsminderungsrente beträgt zwischen 492 und maximal 1.000 Euro. Die 87.000 Teil-Renten dieser Art liegen noch niedriger. Das Zugangsalter betrug 2019 durchschnittlich 52,7 Jahre. Die Empfänger müssen bis zum regulären Renteneintritt also mehr als ein Jahrzehnt mit diesen niedrigen Renten auskommen – und ihre reguläre Rente wird dann ebenfalls niedrig sein. Seit unter von der Leyen 2011 der Rentenbeitrag für Arbeitslosengeld-II-Bezieher gestrichen wurde, können immer weniger eigentlich Betroffene die Erwerbsminderungsrente beantragen, denn die Voraussetzung ist weggefallen: vorher in die Rentenkasse eingezahlt zu haben. In der Merkel-Ära ist die Zahl der Erwerbsminderungsrentner mit etwa 1,6 Mio. zwar gleich geblieben, aber es wurden die Eingangsvoraussetzungen verschärft, immer mehr Anträge teilweise einige Jahre lang verzögert und die Hälfte der Anträge schließlich abgelehnt. Diese recht niedrige Rente wird also immer häufiger beantragt, aber auch immer häufiger abgelehnt.
Die „Grundrente“ soll die schlimmsten Ungerechtigkeiten korrigieren. Was bringt sie?
Sie soll die immer häufigeren niedrigsten Niedrigrenten aufbessern. Im Durchschnitt soll dabei für bisherige und neue Rentner ein monatlicher Zuschlag von 80 Euro herauskommen. Die CDU-Unternehmerlobby hatte erreicht, dass die ursprünglich geplanten 100 Euro um 20 Euro gekürzt werden. Für dieses Almosen sind die Hürden jedoch hoch: Mindestens 33 Beitragsjahre sind Voraussetzung, wenn auch mit einem Minijob. Schätzungsweise 1,7 Mio. der allerärmsten Rentner würden davon profitieren – eine Farce, auch wenn wegen der Existenznöte gerade für diese Betroffenen 80 Euro wichtig sind. Jetzt dauert es aber erst mal viele Monate, bis der Staat den Anspruch für die Betroffenen genau ausgerechnet hat.
Wie sieht es bei Berufskrankheiten aus?
Dafür sind traditionell die Berufsgenossenschaften der verschiedenen Branchen zuständig. Sie sollen gegen beruflich bedingte Erkrankungen vorsorgen und für dann doch eingetretene Berufskrankheiten, die arbeitsunfähig machen, eine Berufsunfähigkeitsrente zahlen. Aber auch dieses System ist weitgehend gescheitert. Die Berufsgenossenschaften haben staatlichen Charakter, werden staatlich beaufsichtigt, aber einseitig von den 3,2 Mio. Privatunternehmen finanziert. Die wollen möglichst niedrige Beiträge zahlen und möglichst wenige Fälle von Berufskrankheiten anerkennen. Unter den Arbeitsministern Ursula von der Leyen und Olaf Scholz wurde die staatliche Aufsicht weitgehend lahmgelegt. Und gleichzeitig haben die Bundesländer die Gewerbeaufsicht ausgedünnt, die eigentlich für Arbeitssicherheit und gesunde Arbeitsplätze sorgen und Berufskrankheiten verhindern soll. Im Sommer 2020 hat die massenhafte Corona-Infektion von migrantischen Fleischzerlegern gezeigt, dass die Gewerbeaufsicht versagt. Weil unter diesen Bedingungen die Berufskrankheiten immer mehr zunehmen – z. B. Erkrankungen des Nerven-, Muskel- und Skelettsystems –, bieten die gleichen Versicherungen, die auch die Riester-Rente anbieten, seit einiger Zeit eine Berufsunfähigkeitsversicherung an. Dachdecker z. B. können sich dort für 135,85 Euro pro Monat versichern, Eltern ihre Kinder schon ab dem Alter von 10 Jahren für 33 Euro pro Monat. Ich beurteile das als geschäftemacherische Anpassung an eine menschenrechtswidrige, pervers gewordene Arbeitswelt.
Was bringen die Betriebsrenten?
Da gibt es zwei verschiedene Systeme: die Betriebsrente des Öffentlichen Dienstes und die der privaten Unternehmen. Bei der Betriebsrente privater Unternehmen zahlen diese freiwillig für ihre Beschäftigten einen Beitrag in einen von einem Versicherungsunternehmen angebotenen Rentenvertrag ein. Im Wesentlichen machen das große Unternehmen. Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) wollte dies auch für kleinere Unternehmen und Geringverdiener attraktiv machen – die Unternehmer-Lobby aus CDU/CSU und FDP war dagegen. Deshalb erweist sich das „Betriebsrentenstärkungsgesetz“ von 2017 als Desaster. Denn erstens muss in jedem Unternehmen dazu extra ein Tarifvertrag abgeschlossen werden, was kompliziert ist, da aufseiten der Beschäftigten allermeist der Verhandlungspartner fehlt, weil es nur in 2 % der Unternehmen einen Betriebsrat gibt. Und zweitens befreit das Gesetz die Unternehmen vollständig aus der Haftung: Es dürfen keine Mindest- und Garantieleistungen mehr vereinbart werden. Möglich sind nur unverbindliche „Zielrenten“. Ergebnis des „Stärkungs“-Gesetzes: Die Betriebsrente wurde nicht gestärkt, sondern geschwächt, demontiert und auf eine schon privilegierte Gruppe beschränkt. Deshalb spielt diese private Betriebsrente nur für die Stammbelegschaften der großen Unternehmen eine Rolle. In über 3 Mio. mittlerer und kleiner Betriebe gibt es keine Betriebsrente. Und für die befristet und Teil-Beschäftigten, Leih-, Werkvertrags- und migrantischen Beschäftigten spielen Betriebsrenten keine Rolle, ebenso für Crowdworker und Scheinselbstständige, die in Subunternehmerketten arbeiten und mit der Digitalisierung von Plattform-Konzernen Aufträge erhalten – z. B. Uber, Lieferando, WeWork, Flaschenpost, Gorillas und Flink.
Wie sieht es mit der Betriebsrente für die öffentlich Beschäftigten aus?
Ein bisschen besser. Im öffentlichen Dienst – und auch in den Großkirchen – gibt es ja aus monarchischen Zeiten die scharfe Trennung zwischen den privilegierten Beamten auf der einen Seite sowie Arbeitern und Angestellten auf der anderen. Beamte sind praktisch unkündbar, verdienen viel mehr, müssen nichts für ihre Rente einzahlen und bekommen trotzdem eine, die sich am letzten Nettoeinkommen orientiert. Arbeiter und Angestellte verdienen viel weniger und müssen zudem Beiträge ins staatliche Rentensystem einzahlen. Um diese Ungerechtigkeit zumindest ein bisschen auszugleichen, richteten der Staat, staatliche Institute, aber auch die Großkirchen eine Zusatzversorgung ein. Die staatliche Rente wurde auf etwa 92 % des letzten Nettoeinkommens aufgestockt – doch dann unter der rot-grünen Regierung Schröder wieder gekürzt. Seither müssen Arbeiter und Angestellte 1,71 % ihres Bruttoeinkommens einzahlen. Die Aufstockung der Rente hängt von den Arbeitsjahren ab. Die höchstmögliche Aufstockung beträgt 84 % des letzten Nettoeinkommens. Gegenwärtig beträgt diese Zusatzrente im Durchschnitt 289 Euro pro Monat. Zusammen mit der Nettorente von durchschnittlich 861 Euro ergibt das 1.150 Euro. Das ist nur knapp über der Armutsgrenze von 1.074 Euro.
Wie sieht es mit den Pensionen der Beamten aus?
Die müssen keine Beiträge aus ihren Arbeitseinkommen bezahlen. Und gegenwärtig betragen ihre Pensionen im Durchschnitt 2.793 Euro pro Monat, also mehr als das Doppelte der privat und öffentlich Beschäftigten. Da Beamte auch länger leben, erhalten sie insgesamt ein nochmals sehr viel höheres Alterseinkommen. Zudem erhalten sie während ihres Arbeitslebens und während der Pension staatliche Beihilfen zu den Gesundheitskosten. 2.793 Euro sind aber nur der Durchschnitt. Beamte im höheren Dienst erhalten 4.870 Euro, Oberstudiendirektoren 5.072 Euro, Ministerialdirigenten und -direktoren 6.600 bzw. 7.800 Euro, Staatssekretäre, Generäle und Bischöfe 9.500 Euro – Zahlen noch aus dem Jahre 2016. Zum Vergleich: Selbst die bestbezahlten Beschäftigten in der Industrie erreichen maximal 2.900 Euro Rente. Die Ungleichheit zeigt sich auch drastisch bei den Hinterbliebenenrenten: Eine Witwe eines Beamten bekommt im Durchschnitt 1.750 Euro, die Witwe eines gesetzlich Versicherten in Westdeutschland 671 Euro und in Ostdeutschland 616 Euro.
Was kriegen denn die Chefs großer Konzerne?
Auch die Spitzenmanager brauchen für ihre Altersversorgung nichts einzahlen, erhalten aber trotzdem eine sehr hohe. Spitzenreiter ist Ex-Daimler-Chef Zetsche mit 210.000 Euro pro Monat. Ihm folgen die Ex-Chefs von BASF, Deutsche Post, HeidelbergCement, E.ON und VW mit etwa 100.000 Euro. Ihre Gesamteinkommen sind aber noch viel höher, weil sie Beraterverträge und Aktien oder andere lukrative Geldanlagen haben.
Und die Abgeordneten?
Die Abgeordneten des Bundestages zahlen wie Beamte und Spitzenmanager nichts für ihre Altersversorgung ein, erwerben aber pro Jahr einen Rentenanspruch von 250 Euro. Mit Renteneintritt können das dann 65 % ihrer Abgeordneten-Einkommen sein: 6.500 Euro pro Monat. Bei den Europa-Abgeordneten ist es noch üppiger. Schon nach einem Jahr können sie einen „Goldenen Fallschirm“ kriegen. Und wenn sie durchhalten, können sie schon im Alter von 63 Jahren mit 70 % ihres Abgeordneten-Einkommens in Pension gehen: mit etwa 6.000 Euro. Und immer bekommen sie Beihilfen für ihre Gesundheitskosten dazu. Die Abgeordneten der Landesparlamente sind nicht ganz so üppig ausgestattet, aber auch sie gehören nicht zum gesetzlichen Rentensystem und sind ungleich besser gestellt als Normalverdiener.
Wie sieht es bei den Freiberuflern und Selbstständigen aus?
Wirtschaftsprüfer, Notare, Anwälte, Ärzte, Apotheker, Architekten, Ingenieure, Unternehmens- und Steuerberater, Therapeuten, zusammen etwa 1 Mio. meist gut Verdienende, zahlen in private berufsständische Versorgungswerke ein. Sie könnten sich gesetzlich versichern, und einige machen das, aber sie sind von dieser Pflicht befreit. Wer in Westdeutschland mehr als 7.100 Euro und in Ostdeutschland mehr als 6.700 Euro pro Monat verdient, ist von der gesetzlichen Rentenversicherung befreit. Versicherungen und Fondsverwalter wie AXA, Allianz und PIMCO bieten für diese Besserverdiener „renditestarke Sicherungsvermögen“ an, die z. B. in Luxushotels angelegt werden. Da wird das Prinzip „Kapitaldeckung“ mit dem Prinzip „Umlage“ kombiniert, weshalb auch die Versorgungswerke ständig neue Mitglieder brauchen. Die Höhe der Rente kann schwanken, im Durchschnitt beträgt sie aktuell etwa 2.000 Euro pro Monat. Auch hier sind im Alter zusätzliche Einkommen aus Aktien, Immobilien und anderen Vermögensanlagen verbreitet.
Was ist von den sogenannten „Exchange Traded Funds“ (ETF) zu halten, die Finanzkonzerne wie BlackRock und Vanguard derzeit als „Volksaktie“ und lukrative Altersvorsorge anpreisen?
Das ist ein sogenannter „Indexfonds“: Man kauft damit nicht die Aktie eines bestimmten Unternehmens, sondern einen Anteil an allen Unternehmen eines Index. Einen Index bilden z. B. die 500 führenden US-Aktiengesellschaften im S&P 500 an der New Yorker Börse oder die 30 bzw. jetzt 40 führenden Aktiengesellschaften Deutschlands im DAX an der Frankfurter Börse. Dabei wird als Vorteil versprochen, dass das Risiko gestreut ist. Wenn etwa die Aktie der Deutschen Bank oder von Siemens im Wert fallen sollte, wirkt sich das im Gesamtwert aller Aktien kaum aus und der Verlust ist nur gering. Weil der Verwaltungsaufwand für ETF aufgrund der fast vollkommenen Digitalisierung nur minimal ist, fallen für die Käufer auch nur Gebühren von 0,2 % an, während die traditionelle Vermögensverwaltung mehr als 2 % kostet. Für BlackRock verkauft dessen Tochtergesellschaft iShares die ETF in großen Paketen an Versicherungen, Banken, Sparkassen und Vermögensverwalter. Und die verkaufen sie dann in kleinen Teilen an ihre Endkunden.
Was ist daran schlecht?
Die ETF können zwar zeitlich begrenzt sicher sein, nämlich in Phasen des allgemeinen oder jedenfalls durchschnittlichen Aufstiegs der börsennotierten Aktien. Aber es gibt keine Sicherheit, dass die Gesamt-Aktienwerte und damit die ETF-Werte dauerhaft ansteigen. Das Hauptproblem ist aber: BlackRock & Co. sorgen als führende Eigentümer der wichtigsten Unternehmen wie Amazon, Deutsche Post, Bayer mithilfe von Entlassungen, Leiharbeit und Auslagerungen gleichzeitig dafür, dass die Arbeitseinkommen und die Renten der abhängig Beschäftigten sinken. So haben also gerade diejenigen, die am nötigsten ihre Renten aufbessern müssten, nicht das Geld, um ETF zu kaufen. Deshalb sind es die Besserverdiener wie Ärzte, Anwälte, Architekten und Apotheker, die über ihre Versorgungswerke die meisten ETF kaufen.
Dient die Kopplung der Rente an Aktienkurse auch dazu, in der Bevölkerung eine „wirtschaftsfreundliche“ Grundhaltung zu erzeugen?
Ja, wobei „wirtschaftsfreundlich“ schon eine Verschleierung darstellt: „Wirtschaft“ heißt in diesem Fall: BlackRock, Vanguard und State Street, die „Big Three“ der Kapitalorganisatoren der Superreichen, die auch vier Fünftel des ETF-Marktes beherrschen. Und Lobbyisten wie Friedrich Merz (CDU) werben in Deutschland dafür, dass die Menschen nicht nur für die Altersvorsorge, sondern überhaupt mehr Aktien kaufen. Die Menschen sollen nicht dafür kämpfen, dass ihr Arbeitseinkommen steigt, sondern stattdessen darauf hoffen, dass die Aktienkurse steigen. Sie sollen sich nicht organisieren, nicht protestieren und nicht streiken, sondern gebannt auf die Börsennachrichten glotzen.
Wie sollte unser Rentensystem reformiert werden?
Nach der bisherigen Logik wird das Renten-Eintrittsalter immer weiter hinausgeschoben – auf 68 Jahre, 70 Jahre und noch weiter –, während gleichzeitig die Arbeitseinkommen für die Mehrheit weiter abgesenkt werden. So ähnlich läuft es übrigens in der ganzen EU, noch viel schlimmer in den USA. Die wichtigste Maßnahme besteht deshalb darin, die Arbeitseinkommen der abhängig Beschäftigten erheblich zu erhöhen, an die Produktivität anzubinden und die Arbeitszeiten gerecht zu verteilen. Die Arbeitseinkommen müssen, so heißt es in den Universellen Menschenrechten, ein menschenwürdiges Leben für die ganze Familie ermöglichen, einschließlich Bildung, Kultur, Gesundheit und sozialer Teilhabe. Auch bezahlbares und sicheres Wohnen ist ein Menschenrecht. Bei einer gerechten Verteilung muss das Renten-Eintrittsalter nicht auf 70 Jahre erhöht werden. Es könnte und sollte stattdessen auf 60 Jahre gesenkt werden! Dann kann die Rentenzeit als eine neue kreative Lebensphase gestaltet werden. Bekanntlich gibt es in anderen Staaten wie der Schweiz und Österreich schon bessere Lösungen. Die Sonderregelungen für Besserverdiener und Selbstständige, aber auch für Beamte und Abgeordnete müssen abgeschafft werden. Ziel: Ein gemeinsames Rentensystem für alle Erwerbstätigen, wie es ansatzweise etwa in der Schweiz und Österreich schon besteht. Versicherungsfremde Leistungen müssen aus dem allgemeinen Haushalt, nicht aus der Rentenkasse bezahlt werden. Die großen Finanz- und Versicherungskonzerne, die Besser- und Bestverdiener sowie die Unternehmerparteien fördern die soziale Zersplitterung und Unübersichtlichkeit – auch bei den Renten. Dagegen muss die große Mehrheit der inzwischen vielfältig Benachteiligten sich endlich eine Übersicht verschaffen und für gleiche Rechte und soziale Gerechtigkeit kämpfen – bei den Arbeitsverhältnissen, bei der Bildung, bei der Gesundheitsversorgung, beim Wohnen und eben auch bei der Rente.
Herr Dr. Rügemer, herzlichen Dank für das interessante Gespräch.
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