„Wer Teil des Problems ist, ist auch Teil der Lösung“
4. August 2021
Eine Wirtschaft ohne Wachstum wird sich schwer realisieren lassen, solange die Überzeugung vorherrscht, das persönliche Glück hänge von Besitz, Konsum und Statussymbolen ab. Dass wahres Glück ganz anders entsteht, betonen sowohl Psychologie als auch Religion. Ein buddhistischer Lehrer schrieb mit einem Postwachstumsökonomen darüber ein Buch.
Interview mit Manfred Folkers
ÖkologiePolitik: Herr Folkers, wie kam es zum Buchprojekt mit Niko Paech?
Manfred Folkers: Kennengelernt haben wir uns vor rund 25 Jahren, als Niko Paech städtischer Agenda-Beauftragter war und ich den Verein „Achtsamkeit in Oldenburg“ gründete. Vor ein paar Jahren lud er mich als Professor an der Universität Oldenburg ein, in der Ringvorlesung zur Postwachstumsökonomie einen Vortrag zum Thema „Suffizienz und Zufriedenheit“ zu halten. Von meinem Titelvorschlag „All you need is less“ war er begeistert und wir starteten dann auch bald unser gleichnamiges Buchprojekt.
Wie kamen Sie zum Buddhismus?
Meine friesische Herkunft erlebe ich als naturverbunden. Glaubenskonzepte liegen mir nicht. Ein überprüfbarer Blick ins Dasein gefällt mir besser. Aber ich mag nicht leugnen, dass ich als Mensch ein Wesen mit Geist bin. Dieser Aspekt hat mich schon in meiner Jugend fasziniert. Es hat allerdings etwas gedauert, bis ich Buddhas Lehre – das sogenannte „Dharma“ – als eine Methode begriff, die ohne Esoterik auskommt, also bodenständig und geistvoll zugleich ist. Sie analysiert das Dasein mit einer säkularen Spiritualität und wertschätzt es auf Basis des gesunden Menschenverstands. Seit ich unter Dharma weder eine Religion noch eine Ideologie verstehe, vermeide ich auch den Begriff „Buddhismus“.
Eine verbreitete Auffassung ist, in der Buddha-Lehre gehe es darum, sich aus der Welt „auszuklinken“, um ins „Nirvana“ zu gelangen. Sie aber engagieren sich gesellschaftspolitisch. Wie passt das zusammen?
Das suggeriert, „Nirvana“ sei etwas Außerirdisches oder mit dem Tod gleichzusetzen. Für den Dalai Lama bedeutet es jedoch ganz einfach „Frieden“, für andere „höchstes Glück“ oder „Befreiung von Angst und falschen Vorstellungen“. Manche meinen auch, es sei prinzipiell nicht zu beschreiben. Das „Ausklinken“ ist kein Verlassen der Welt, sondern Teil eines dialektischen Prozesses: Du hinterfragst Äußerlichkeiten und Gewohnheiten, um dich zu orientieren und neue Verhaltensweisen auszuprobieren. Du nutzt die Zeit deiner Anwesenheit in dieser Welt, um dein Leben kritisch zu betrachten und ihm selbst Sinn und Richtung zu geben. Dieses „Ausklinken“ vollzog ich vor 40 Jahren, als ich eine zentrale Frage nicht mehr beantworten konnte: Wenn mir klar ist, dass sich die Gesellschaft in eine zerstörerische Richtung entwickelt, und ich mich gezwungen sehe, mich mit all meiner Kraft an diesem Irrweg zu beteiligen – was soll ich tun? Um vor mir bestehen zu können, gab es zunächst nur einen Ausweg: dem Mainstream den Rücken kehren. Eine lange Reise als Rucksacktourist durch Asien sowie Praktiken wie Taijiquan, Meditation und Achtsamkeit haben mich zum Dharma geführt. Buddhas Lehre widmet sich zentralen Lebensfragen wie Leid und Tod, Sinn und Glück, Integrität und Gemeinschaft auf eine erfahrungsbasierte und vernünftige Weise. Wer buddhistische Methoden anwendet, entfaltet durch fundierte Einsichten ein umfassendes Mitgefühl, findet Freude an einem zufriedenen Leben sowie Gefallen am Bewirken. Dharma ohne Engagement geht eigentlich gar nicht. Wer sich mit Meditation erfrischt und Achtsamkeit praktiziert, möchte diese Haltung in den Alltag übertragen – was im hektischen und von Illusionen geprägten 21. Jahrhundert nicht gerade leichtfällt.
Was können wir vom Dharma lernen?
Wer heutzutage wie ein Buddha vorgeht, kommt im Grunde zu den gleichen Ergebnissen wie die moderne Wissenschaft, wird diese Befunde aber immer im Gesamtrahmen sehen und ihnen eine alltagsbezogene oder gar ethische Dimension geben. Anhand von zwei Aspekten möchte ich das verdeutlichen: Da ist zunächst die „Anitya“ genannte Binsenweisheit, dass alles unbeständig bzw. immerzu in Bewegung ist – ein zentrales Daseinsmerkmal. Ein Zeitgenosse Buddhas, der griechische Philosoph Heraklit, hat dieses Prinzip mit der Formel „Alles fließt“ zusammengefasst. Sowohl die Astro- als auch die Quantenphysik bestätigen dies. „Anatman“ heißt ein weiteres zentrales Daseinsmerkmal: Alles ist ohne eigenständiges Selbst. Weder ist etwas in mir zu finden, das nicht zu dieser Welt gehört, noch kann ich unabhängig von ihr existieren. Das wechselseitige Durchdrungen- und Einssein alles Existierenden ist meine Grundlage für das Erleben einer vollständigen Verbundenheit mit Raum und Zeit. Dieses wissende Gefühl enthält nicht nur eine von Angst befreite Bejahung meiner Anwesenheit auf dieser Erde, sondern ist auch das Fundament für die Einsicht in die Notwendigkeit, mich um das Leben aller hier lebenden Wesen zu kümmern. Auf diesem Hintergrund interpretiere ich auch das von Hans Jonas in seinem Hauptwerk postulierte „Prinzip Verantwortung“. Auf den Alltag bezogen lässt sich dieser Zusammenhang bildlich veranschaulichen: Wenn ich eine Dose in den Wald werfe, treffe ich meinen eigenen
Kopf. In einer vom Dharma beflügelten Lebenspraxis geht es eigentlich immer nur darum, präsent zu sein und achtsam anzuschauen, was gerade geschieht. Um nach der Devise „Das Heilsame tun und das Unheilsame lassen“ zu handeln. Dies ist übrigens eine beliebte Definition für die Buddha-Lehre.
Woher kommt unser Streben nach Immer-Mehr, nach Wachstum?
Seit Karl Marx wird versucht, dieses Phänomen zu analysieren – in der Regel mit ökonomischen Kriterien. Die Rolle des einzelnen Menschen und seine Beweggründe kommen dabei meist zu kurz. Buddha hat das Leben als eine individuelle Erfahrung umfassend erforscht. Da eine Gesellschaft sich aus vielen Einzelmenschen zusammensetzt, ist es durchaus möglich, dieses Vorgehen auch auf die Gesellschaft zu übertragen. Den Mittelpunkt des Dharma bildet die Überwindung von Angst und Leid. Bei der Suche nach deren Ursachen hat sich der Buddha weniger den menschlichen Aktivitäten als vielmehr den Motiven ihres Handelns gewidmet. Als Ursprung von Leid identifizierte er Gier, Hass und Verblendung, die auch mit den Worten Verlangen, Aggression und Selbstüberhöhung beschrieben werden können. Im überschaubaren Rahmen hat die Erfüllung eigensinniger Wünsche keine allzu schlimmen Auswirkungen auf den Zustand der Biosphäre. Seit rund 200 Jahren findet jedoch eine systematische ökonomische Verwertung dieser Antriebskräfte statt. Dieser Prozess hat sich mittlerweile global in ein Regelwerk verfestigt. Unser materielles Verlangen hat sich als Streben nach wirtschaftlichem Wachstum manifestiert. Aggression hat sich als konkurrierendes Gegeneinander und als planmäßige Ausbeutung der Natur und ihrer Ressourcen verankert. Und unsere Selbstüberhöhung führt zum ständigen Bagatellisieren der Folgen dieser Taten. Kurz gesagt: Mithilfe unserer eigenen Antriebskräfte haben wir uns in eine Lage manövriert, die uns immer schneller ans Ende einer Sackgasse peitscht. Heutzutage ist es weniger unsere individuelle Sehnsucht als vielmehr das Mehrungsprinzip des ökonomischen Systems, das unsere Zivilisation in eine fatale Richtung puscht. Besonders verhängnisvoll können sich die gigantischen Schuldenberge auf die Gestaltung der Zukunft auswirken, denn das neu geschöpfte Geld kurbelt zum einen das Wachstum an, was positive oder negative Auswirkungen haben kann, und die Pflicht zur Rückzahlung zwingt die künftigen Generationen, am Wachstumssystem festzuhalten.
Was kann man als Einzelner dagegen tun?
Angesichts der Brisanz der Lage gibt es im Grunde nur eine Regel: nicht länger warten. Weder auf andere noch auf die Gesellschaft, die als solche ja gar keine Hände hat. Denn es gibt nichts Gutes, wenn es niemand tut. Es empfiehlt sich, täglich in den Spiegel zu schauen und die eigene Integrität zu überprüfen. Auf diese Weise lassen sich viele Widersprüche entdecken – z. B. hinsichtlich des ökologischen Fußabdrucks. Es gibt überall eine zunehmende Zahl von Menschen, deren „Earth Overshoot Day“ im Januar liegt. In Deutschland liegt er durchschnittlich im Mai. Wer Teil des Problems ist, ist auch Teil der Lösung. Und es ist zu unterscheiden zwischen materiellem und persönlichem Wachstum. In dieser Hinsicht ist das Buch „Small is beautiful“ von Ernst Friedrich Schumacher hilfreich zu lesen – insbesondere der Schlussabsatz.
Wie kann eine ganze Gesellschaft „geheilt“ werden?
Delikate Frage – würzige Antwort: Das Mehrungswesen ist nicht zu retten und schon jetzt viel fragiler als es scheint. An einer umfassenden Transformation führt kein Weg vorbei. An ihr haben sich alle Menschen zu beteiligen, indem sie das Agenda-21-Motto „Global denken – lokal handeln“ aufrichtig beherzigen. Oberflächliche Maßnahmen wie die Reparatur von Schäden, das Nachjustieren von Stellschrauben oder das Umleiten von Kapitalströmen werden nicht ausreichen. Es ist ein Trugschluss, CO2-Neutralität oder ein „Green New Deal“ würde unsere Probleme lösen. Wir haben unsere gesamte Lebensweise neu auszurichten. Das schließt einen Austausch der Antriebskräfte ein. Diese Umstellung erfordert jedoch ein anderes Weltverständnis. Und schon lande ich wieder beim Dharma. Oder bei Hans Jonas, der 1992 in seinem letzten Interview sagte, dass die Philosophie eine neue Seinslehre erarbeiten muss, in der die Stellung des Menschen im Kosmos und sein Verhältnis zur Natur im Zentrum stehen sollte. Gleichzeitig sind konstruktive Perspektiven zu erarbeiten. Die Klima-Aktivistin Luisa Neubauer hat hier 6 „Bejahungen“ vorgeschlagen: Ja zum Erhalt der Lebensgrundlagen. Ja zu sauberer Luft. Ja zur Artenvielfalt. Ja zu gesicherten Arbeitsplätzen. Ja zur Freiheit auf einem sicheren Planeten. Ja zur gerechten Transformation. Diese Errungenschaften fallen aber nicht vom Himmel. Sie erfordern individuelles und politisches Engagement. Und sie erfordern mindestens 6 weitere Bejahungen: Ja zu Entschleunigung und Behutsamkeit. Ja zu gelebter Zusammengehörigkeit und einer Kultur des Genug. Ja zur Bevorzugung von Gemeinwohl gegenüber einem egoistischen Individualismus. Ja zu Zufriedenheit und zur Anerkennung natürlicher Grenzen. Ja zu Achtsamkeit und zur Pflege des eigenen Geistes. Ja zu intellektueller Aufrichtigkeit und zur Verantwortung für die ganze Menschheit und alle Wesen, also für die gesamte Biosphäre. Diese Vorschläge klingen allgemein, enthalten aber genügend Hinweise für ihre Ausfüllung im Alltag. Sie zeigen persönliche Entwicklungsmöglichkeiten auf, die der Prozess „Heilung der Gesellschaft“ enthält. Die „Deutsche Buddhistische Union“ (DBU), deren Rat ich seit 2009 angehöre, wird diese Intention im Projekt „Krisen und Transformation“ als „gemeinschaftlichen Wandel“ vorstellen.
Was ist zu tun, damit eine positive Veränderungsdynamik nicht – wie so oft in der Menschheitsgeschichte – wirkungslos verpufft?
Die Menschheit erlebt gegenwärtig eine paradoxe Phase. Wir Erdlinge müssen eine Wende wollen, bevor wir sie wollen müssen. Wenn wir sie nicht schleunigst vollziehen, wird sie uns von den Umständen diktiert. Viele von uns, die die sich rasant verschärfenden Krisen mit verursacht haben, werden deren Folgen noch selbst erleben. Wer zu spät handelt, wird vom Leben bzw. den Naturgesetzen genötigt. Die Corona-Pandemie enthält hier einen Vorgeschmack. Für sein Hauptmotiv „Mehrung“ sieht das Wachstumssystem keine Alternative. Nachhaltig positive Veränderungen mit neuartigen Orientierungen haben wir als Mensch zu verwirklichen. Entweder rechtzeitig und mit selbst gewählten Zielen. Oder unfreiwillig und in einem erzwungenen Rahmen. So oder so: Ein radikaler Wandel rückt näher. Als Design oder als Desaster. Mir ist klar, für welche Variante ich meine Kraft lieber einsetze.
Herr Folkers, herzlichen Dank für das interessante Gespräch.
Buchtipp
Manfred Folkers, Niko Paech
All you need is less
Eine Kultur des Genug aus ökonomischer
und buddhistischer Sicht
oekom, März 2020
254 Seiten, 20.00 Euro
978-3-96238-058-8