„Es ist ein klarer Wertewandel notwendig“
30. Juli 2021
Eigentlich ist jedem klar, dass wegen der ökologischen Krise der Konsum zurückgeschraubt werden müsste. Doch diese Einsicht mündet selten in entsprechendes Handeln. Denn unser Handeln wird nicht von unserer Vernunft bestimmt, sondern von unseren Wünschen. Was folgt daraus? Ein bekannter Lern- und Bildungsforscher hat sich mit dieser Frage intensiv beschäftigt.
Interview mit Prof. Dr. Kersten Reich
ÖkologiePolitik: Herr Prof. Reich, was hat Sie veranlasst, ein zweibändiges Buch über die ökologische Krise zu schreiben?
Prof. Dr. Kersten Reich: Zur ökologischen Krise gibt es bereits eine Vielzahl von Arbeiten, aber deutlich weniger wird thematisiert, warum es Menschen im Verhalten so schwerfällt, sich tatsächlich stärker Richtung Nachhaltigkeit zu orientieren. Bei einer Sichtung der neueren empirischen Befunde hierzu fällt auf, dass die Ergebnisse aus der nachhaltigen Verhaltensforschung besser verständlich werden, wenn wir sie in Bezug zur Kulturgeschichte setzen. Denn es gibt in der Menschheitsgeschichte einen wiederkehrenden Umgang mit Sorgen und äußeren Risiken oder Katastrophen, was verständlich machen kann, wo die Hindernisse oder Barrieren von Verhaltensänderungen liegen. Hierbei sind mindestens drei komplexe Bereiche zu unterscheiden, die immer zusammenwirken: erstens die Individuen, die alle einzeln und dann in ihrem Zusammenwirken bestimmen, wie nachhaltig auf der Erde gelebt wird. Hier ist es klar, dass alle Einzelnen einen Beitrag hinterlassen, der sich auf den Ressourcenverbrauch, die Treibhausgase, Wasser und Müll und anderes mehr auswirken. Zweitens jedoch treibt die Wirtschaft dies je nach Land mehr oder minder an, die reicheren Länder produzieren ebenso wie die reicheren Menschen einen deutlich negativeren Fußabdruck als die ärmeren, wenngleich die ärmeren Länder eine stärkere Überbevölkerung haben. Aber die kapitalistische Wirtschaftsweise mit Gewinn- und Wachstumsidealen erzeugt deutlich stärkere Schädigungen, die die ökologische Krise immer weiter verschärfen, solange die Nachhaltigkeit nicht selbst zum Gewinnziel wird. Drittens schließlich kann Politik die Welt mehr in Richtung eines Abwartens oder „Weiter so“ orientieren oder eine nachhaltige Agenda verwirklichen. Die Instrumente sind sehr klar: Bepreisung nicht-nachhaltiger Lebensweisen in Konsum und Produktion, Regulierung fehlender Nachhaltigkeit nach wissenschaftlichen und nicht nach wirtschaftlichen Kriterien, Belohnung durch Anreize, ökologisch nachhaltig vorzugehen. Um den Leserinnen und Lesern einen breiten Zugang in diese Themenbereiche zu geben, ist ein zweibändiges Werk entstanden, wobei jeder sich dort vertiefen kann, wo es interessant erscheint. Wie ein roter Faden durchzieht die gesamte Argumentation die Einsicht, dass wir uns heute informieren müssen, eine Übersicht über das Thema gewinnen sollten, um die Beliebigkeit der Erzählungen über das, was notwendig, sinnvoll und nützlich in der Nachhaltigkeit ist, zu überwinden. Wie wollen wir die nachfolgende Generation zu mehr Nachhaltigkeit erziehen, wenn uns selbst die Priorisierung unserer Handlungen nicht klar genug ist?
Warum haben Sie es „Der entgrenzte Mensch“ genannt?
Vor 50 Jahren, als die Konsumgesellschaft die ersten Wellen des Überflusses über die reichen Länder verteilte, hätte man vom eindimensionalen Menschen sprechen können, wie ein berühmtes Buch von Herbert Marcuse hieß, weil die Vielseitigkeit der menschlichen Talente und Begabungen sich immer mehr auf den Konsum als Sinn des Lebens fixierte. Letztlich hat der Konsum gesiegt. Heute haben wir es mit den umfassenden Wirkungen eines solchen Konsums zu tun, der unsere Gedanken- und Lebenswelt im Sinne von Entgrenzungen dominiert: Wir können uns Glück und Zufriedenheit kaum jenseits einer Vergrößerung unseres Fußabdrucks auf dem Planeten vorstellen. Dort, wo wir leben, verdichten, versiegeln und vermüllen wir alles, um einen Wohlstand zu manifestieren. Dort, wo wir nicht sind, wollen wir mit entgrenzter Mobilität immer hingelangen können, um unsere Freiheit zu spüren. Als massenhafter Effekt bildet diese Entgrenzung eine Bedrohung für die Grenzen der Erde, die das Überleben vieler Arten einschließlich des Menschen langfristig gefährdet. In Erziehung und Verhalten haben wir es uns angewöhnt, im ständigen Wachstum der materiellen Werte des Konsums ein Glück zu konstruieren, das unsere Freiheit als Zughörigkeit zu einer gewinnorientierten Geldwirtschaft mit ständiger Kapitalisierung aller Lebensverhältnisse sieht. Verrückt an einer solchen Gesellschaft ist, dass in dem Moment, wo man so viel Geld besitzt, dass man im Wohlstand angekommen ist, sich selbst als einmalig und erfolgreich erscheint, obwohl man nur zu einer Masse von beeinflussten Konsumenten gehört. Der Konsum soll die Menschen unterscheiden, aber er macht sie gleich. Die Reichen und die Schönen im Symbolbild des erfolgreichen Kapitalismus verkörpern die Illusion eines Menschen der Gegenwart, der im glücklichsten Zeitalter angekommen zu sein scheint. Leider ist die Schwäche dieser neuen Helden, dass sie einfältig recht triviale Dinge gemeinsam wünschen und dabei rücksichtslos die Ökologie und damit die Zukunft des Lebens zerstören.
Sind diese „Konsum-Zugehörigkeiten“ überwindbar?
Als Konsumenten werden Menschen durch Anstupser aus der Werbung und durch sozialen Vergleich dessen, was sozial als erfolgreich gilt, dazu getrieben, immer schwach zu werden und alles zu kaufen, was anderen Gewinne bringt. Sie sind starke Konsumenten, weil sie dem folgen, was alle tun. Ein erster Schritt in die eigene Stärke wäre es, kritisch zu prüfen, was man davon wirklich braucht und was ein erfülltes Leben bedeuten kann.
Warum ist in unserer Gesellschaft das Wachstumsstreben so stark verankert und von so zentraler Bedeutung?
Früher drückte die Klassenspaltung immer sehr klar aus, wo der Mensch auf der sozialen Leiter steht und was er vom Leben zu erwarten hat. Mit der Entwicklung der Wohlstandsgesellschaft insbesondere in den reichen Ländern ist zwar der Abstand zwischen Arm und Reich in Relation sogar größer geworden, aber die Freiheiten und Wahlmöglichkeiten der Individuen sind angewachsen. Der Überfluss hat die Massen erreicht, deutlich sichtbar an den Müllbergen und dem Plastik im Meer. Selbst bei bescheidenem Wohlstand ist nicht von der Hand zu weisen, dass ein Wachstum dieses Wohlstands, eine bessere Absicherung der Gesundheit, eine Verlängerung der Lebenszeit, eine Vergrößerung im Wohnen oder ein Anspruch auf viele Reisen zum Lebensziel fast aller geworden sind. Wer gegen das Wachstum redet, bringt fast alle gegen sich auf.
Was muss sich in Erziehung und Schule ändern, damit Nachhaltigkeit die zentrale Rolle erhält?
Corona hat gezeigt, dass Menschen zu Einsichten fähig sind, wenn der Tod in eine erfahrbare Nähe rückt. Zumindest so lange, wie die Bedrohung realistisch erscheint, sind Menschen zum Handeln und hierbei auch zu Verzicht bereit. Aber dies setzt voraus, dass eine gewisse Bildung vorhanden ist, die ein Vertrauen in die Wissenschaft hat und nicht bloß vom eigenen subjektiven Erleben ausgeht. Die deutsche Schule ist leider kein vorbildliches Modell für nachhaltige Erziehung und Bildung, weil sie das Thema in seiner Breite weder verbindlich macht noch im Lehrplan priorisiert. Bisher hängt es vom Wohlwollen einzelner Lehrkräfte ab, das Thema überhaupt anzusprechen. Und das komplexe Thema wird in Schulfächer aufgeteilt, die, wenn überhaupt, recht zusammenhangslos einzelne Fragen durch überwiegenden Frontalunterricht abhandeln. So kann weder ein hinreichend breites und tiefes Verständnis für Nachhaltigkeit als Wissen erworben werden, aber vor allem wird so keine Verhaltensänderung im nachhaltigen Handeln erreicht.
Wie bringt man Erwachsene dazu, ihr Verhalten zu ändern? Ihr Weltbild, ihre Lebenseinstellung, ihre Wertehierarchie?
Individuelle Einsichten sind die Voraussetzung, um selbstwirksam nachhaltig zu handeln. Ich brauche einen Plan, was ich nachhaltig tun will, ich benötige Erfolgserlebnisse, damit mir das gelingt, ich bin ein Vorbild für andere, es mir gleichzutun. Hier gibt es Handlungen, die leichter gelingen können, etwa in der Ernährung, beim Wiederverwenden oder beim Recyceln von Konsumgütern, auch im Verzicht oder in der Umstellung schädlicher Gewohnheiten in der Mobilität oder beim Müll. Es gibt aber auch Grenzen der individuellen Nachhaltigkeit dort, wo das Individuum zwar indirekt zum schlechten Fußabdruck einer Gesellschaft beitragen mag, aber es weniger direkt als Produzent verursacht. Als Individuum wünsche ich mir in der Nachhaltigkeit mehr Unterstützung durch Wirtschaft und Politik, aber sie wird nur durch Kampf und Widerstand gewährt und benötigt dafür Mehrheiten. Wirtschaftlich bedarf es einer Umstellung von einer Gewinnorientierung um jeden Preis hin zu einer ökologisch nachhaltigen Wirtschaftsweise, die ihre Gewinnvorstellungen immer an die nachhaltigen Folgen bindet und wieder stärker am Allgemeinwohl und nicht bloß an persönlichen Gewinnen ausrichtet. Das wird allerdings nur durch Regulierungen und neue Anreizsysteme möglich sein. Politisch sind deshalb die Bepreisung fehlender Nachhaltigkeit und die strikte Regulierung jener Bereiche, die nicht durch Preise gesteuert werden können, notwendig. Und hier wird es entscheidend sein, die soziale Intelligenz vermehrt darauf zu richten, wie wir es schaffen können, Menschen für Nachhaltigkeit zu belohnen und fehlende Nachhaltigkeit zu begrenzen. Der größte Erfolgsfaktor hierbei ist, dass Menschen sich stets mit anderen vergleichen, also sozialen Gruppendruck erleben. Bisher wirkt dieser Druck in Richtung immer mehr Konsum, um Anerkennung zu finden, sich zufrieden zu schätzen. Hier ist ein klarer Wertewandel notwendig, der in der Erziehung in der Familie beginnen, vom Kindergarten bis in die Schule vertieft werden müsste, um dem Allgemeinwohl wieder einen stärkeren Platz in unserer Gesellschaft zu geben. Dies bedeutet einen Wandel in den persönlichen Werten, die nicht mehr vornehmlich darauf schauen, was dem Individuum egoistisch gefällt, sondern die darauf sehen, was der Natur und Umwelt guttut, damit das Individuum zufrieden sein kann. Je mehr Menschen hierfür ein positives Gefühl entwickeln, desto stärker steigen die Chancen für Nachhaltigkeit an.
Inwiefern verhindern Wirtschaft und Politik eine Kurskorrektur?
Die Wirtschaft sieht die Umwelt in der Regel eher als Kostenfaktor, sie nutzt alle Ressourcen, die sie möglichst billig bekommen kann, um die eigenen Kosten zu senken und die Gewinne zu steigern. Ohne regulierte Anreizsysteme können wir kaum erwarten, dass die Wirtschaft von sich aus die Ökologie priorisiert. Zwar können Konsumenten durch ihr Kaufverhalten Druck ausüben, aber es braucht klare ökologische Rahmenbedingungen, Gesetze und Vorschriften, um fehlende Nachhaltigkeit national und global zu begrenzen. Die Politik ist ein Spiegel unterschiedlicher Interessen von Menschen, sie ist nicht von vornherein ökologisch nachhaltig orientiert, wenn sie nicht dahin getrieben wird. Und hier drehen wir uns gegenwärtig ja gerade deshalb im Kreis eines „Weiter so“, wo immer mehr über Nachhaltigkeit gesprochen und Programme verkündet werden, aber dann in der Tat zu wenig dabei herauskommt. Wir haben bisher mehr Fragen als konkrete Antworten.
Herr Prof. Reich, herzlichen Dank für das interessante Gespräch.
Buchtipp
Kersten Reich
Der entgrenzte Mensch und die Grenzen der Erde
Band 1: Wie Erziehung und Verhalten die Nachhaltigkeit erschweren
Band 2: Wie Ökonomie und Politik die Nachhaltigkeit verhindern
Westend, März 2021, 848 Seiten, 44.00 Euro
978-3-86489-320-9
Onlinetipp
Podcast mit Kersten Reich
reich & nachhaltig
Westend, März–Mai 2021
www.t1p.de/m1un