Spaltung, Selbsterkenntnis & Hoffnung
20. Mai 2021
Unsere Gesellschaft spaltet sich immer mehr. Der Psychiater und Psychoanalytiker Hans-Joachim Maaz macht in seinem neuen Buch eine zu geringe innerseelische Verankerung der Demokratie und eine tiefe Selbst-Entfremdung großer Teile der west- und ostdeutschen Bevölkerung dafür verantwortlich. Und rät, diese Psychodynamik zu untersuchen und zu verändern.
von Leif Grahn
Hans-Joachim Maaz war von 1980 bis 2008 Chefarzt der Psychotherapeutischen und Psychosomatischen Klinik im Evangelischen Diakoniewerk Halle. Seit vielen Jahren wirkt er auch als Autor und bringt sich in Presse, Funk und Fernsehen in gesellschaftlichen Debatten ein. Einige seiner Bücher habe ich mit einem Gewinn an Einsicht gelesen. „Der Gefühlsstau. Ein Psychogramm der DDR“ analysierte zur Wendezeit die DDR-Gesellschaft. 2012 folgte unsere westlich-kapitalistische Konsumgesellschaft in „Die narzisstische Gesellschaft. Ein Psychogramm“. „Das falsche Leben. Ursachen und Folgen unserer normopathischen Gesellschaft“ stellt ausführlich dar, von welchen Störungsbildern unsere Gesellschaft mehrheitlich geprägt ist, wie sich frühkindliche Entwicklungsstörungen in politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen zeigen und wie sie sich durch Beziehungskultur überwinden lassen.
„Das gespaltene Land“, erschienen 2020, bemüht sich, „die Quellen eines paranoischen Massenverhaltens, das feindselige Spaltungen fördert und den demokratischen Diskurs verhindert, zu erfassen und zu beschreiben.“ Demokratie, Freiheit und Liberalität bestehen bei uns äußerlich, sind aber in der Seele der meisten Menschen nicht verinnerlicht. Frühkindliche Beziehungsstörungen, verstärkt durch transgenerationell weitergegebene Kriegstraumatisierungen, verhindern auf jeweils spezifische Weise die Ausbildung echter Demokratie, Freiheit und Liberalität. Für innerlich unfreie Menschen kann äußere Freiheit zur Gefahr werden. „Eine nur äußere politische Demokratie fordert Anpassung aller Selbst-Entfremdeten, die entschädigt werden müssen, etwa durch versprochenen Wohlstand und soziale Sicherheit für alle. Geht diese Kompensation verloren, verliert auch die nur politisch durchgesetzte Demokratie an Überzeugungskraft.“
Mit „Normopathie“ bezeichnet Maaz eine Krankheit, die nicht erkannt wird, weil eine Mehrheit betroffen ist. Unsere heutige „narzisstische Gesellschaft“ ist genauso krank wie die im Nationalsozialismus oder in der DDR: „Wir sind längst mehrheitlich Opfer und Täter neuen falschen Lebens. Der Wohlstand ist schuldbeladen – um nur die wichtigsten Stichworte zu nennen: Umweltzerstörung, wachsende soziale Ungleichheit, betrügerische Produktion, unfairer Handel, Ausbeutung, prekäre Arbeitsverhältnisse …“
Schwächen sich die Kompensationen ab, weil immer weniger Menschen daran teilhaben, beginnt der Überlebenskampf. Es kommt zur Spaltungsabwehr mit gegenseitigen Beschimpfungen und Schuldzuweisungen. Abgewehrt wird die bittere Erkenntnis, selbst falsch zu leben. Das eigene Böse wird auf einen Außenfeind projiziert. Linke tun das ebenso wie Rechte, Globalisten ebenso wie Traditionalisten. „Die eine Seite hält die andere für das Problem und ist doch selbst ein Teil davon, indem sie der anderen das eigene verdrängte seelische Problem anhängt.“ Mainstream und rechte Protestler führen einen „Stellvertreterkrieg gegenseitiger Schuldzuweisungen, um die gemeinsam zu verantwortende Bedrohung durch unsere süchtige Lebensform zu verleugnen“.
Maaz hält den selbst erzeugten Zusammenbruch für möglich. Er erwägt, dass „die unterdrückten, tabuisierten, unentwickelten gesunden Selbst-Anteile, die in einer normopathischen Gesellschaft den Selbst-Entfremdungen zum Opfer fallen, sich unbewusst zur Wehr setzen. Sie bilden dann die Symptome, an denen die bisherige Gesellschaft zerfällt, kollabiert oder sich selbst zerstört, verbunden mit der Hoffnung auf Befreiung zu einem echteren Leben.“ So eröffne sich eine Chance für tiefere Erkenntnis und Veränderung. Bisherige Katastrophen führten in Deutschland nur zu äußeren Veränderungen. Sie wurden in ihrer tiefenpsychologischen Dimension nicht verstanden. Die deutsche Vergangenheit kann nur „bewältigt“ werden, indem man zu verstehen sucht, „wie Unfassbares doch real geschehen konnte. Das setzt die Fähigkeit und den Mut zur Selbsterkenntnis voraus, um nicht zum Täter projektiver Fremdbeschuldigung zu werden.“ Dem von ihm als „Monster-Komplex“ bezeichneten Phänomen widmet Maaz ein eigenes Kapitel.
Unsere konsumsüchtige Gesellschaft steuert jetzt auf ihre Selbstzerstörung zu. „Der Kapitalismus hat den Sozialismus besiegt, aber eigentlich ist der Sozialismus kollabiert, weil die versprochene Ideologie von Frieden und sozialer Gerechtigkeit gegenüber der realen konsumsüchtigen Befriedigung keine Chance hatte. Dabei haben wir aber übersehen, dass es sich um zwei pathologische Entwicklungen handelt und nur die gefährlichere von beiden gewonnen hat. Inzwischen haben die Umweltfolgen, die betrügerische Produktion, die Handelskriege, die soziale Ungleichheit mit Massenmigration eine kritische Grenze zur Selbstzerstörung erreicht.“ Wenn wir nicht lernen, ohne süchtiges materielles Wachstum zu leben, kommt es zum Crash auf mehreren Ebenen.
Im Schlusskapitel räumt Maaz ein: „Meine Analysen, Deutungen und Positionen sind sicher bitter und zuweilen bedrohlich.“ Der Zweck seines Pessimismus ist jedoch „das hoffnungsvolle Bemühen um ein gutes Leben“. Und so gibt er am Ende Hinweise, was jede und jeder Einzelne für ein besseres Leben tun kann:
(1) Wage Selbsterkenntnis! Erkenne die eigenen Selbst-Entfremdungen, spüre die schmerzhaften Gefühle von Angst, Hass, Wut, Schmerz und Trauer und bringe sie zum Ausdruck. Übe freieres, weniger gestörtes Verhalten ein. Suche dir dazu einen geschützten Rahmen (z. B. Selbsterfahrungsgruppen, Psychotherapie).
(2) Wahre deine Würde!
(3) Lebe Beziehungskultur! Begegne anderen Menschen mit folgenden Grundhaltungen: Ich bin immer auch das Problem! Der andere hat immer auch recht! Zuhören heißt wirklich hören! – Kommuniziere gewaltfrei. Macht euren Kindern Beziehungsangebote, die es ihnen ermöglichen, weniger entfremdet als ihr selbst aufzuwachsen.
(4) Engagiere dich dafür,
– dass Eltern finanziell und psychologisch in die Lage versetzt werden, ihre Kinder vor allem in den ersten drei Lebensjahren gerne und gut selbst zu betreuen
– dass unausweichliche Krippenbetreuung qualitativ besser wird
– dass Kinder und Jugendliche vor allem Gefühlskunde und Beziehungskultur lernen
– dass Demokratie, Freiheit und Liberalität zu innerseelischen Fähigkeiten werden.
(5) Sprich mit allen, auch mit Außenseitern und Querdenkern.
(6) Lebe mit weniger Energieverbrauch, weniger Konsum und besserer Beziehungskultur.
Die Corona-Krise ist im Buch noch nicht berücksichtigt. Selbstverständlich äußert sich Maaz jetzt auch zur Corona-Politik. Er kritisiert alle staatlichen Zwangsmaßnahmen und sieht eine Massenpsychose am Werk. Anders als Maaz sehe ich doch auch im Rechtsextremismus eine ernsthafte gegenwärtige Gefahr. Ich bin jedoch wie er „überzeugt davon, dass die Zukunft nicht mehr materiell profitorientiert, sondern beziehungsorientiert gestaltet werden muss“.
Buchtipp
Hans-Joachim Maaz
Das gespaltene Land
Ein Psychogramm
C.H. Beck, März 2020
219 Seiten, 16.95 Euro
978-3-406-75087-8