„Ressourcen sind endlich, Geld ist es nicht“
1. April 2021
Derzeit etabliert sich in der Wirtschaftswissenschaft eine neue Denkschule: die Modern Monetary Theory (MMT). Neu an ihr ist die empirische Betrachtung von Finanzsystem und Makroökonomie. Eine zentrale Erkenntnis: Der moderne Staat – bestehend aus Regierung und Zentralbank – kann unbegrenzt Ausgaben tätigen. Was folgt daraus?
Interview mit Dr. Dirk Ehnts
ÖkologiePolitik: Herr Dr. Ehnts, was haben Gemeinwohl und Ökologie mit unserem Geldsystem zu tun?
Dr. Dirk Ehnts: Geld ist die Grundlage unseres Wirtschaftens und damit auch unseres Umgangs mit begrenzten Ressourcen. Wir können unser Wirtschaften nach dem Profit ausrichten – oder nach dem Gemeinwohl. Für das Gemeinwohl ist vor allem der Staat zuständig: von der Verwaltung über das Schulsystem und Gesundheitssystem bis hin zum Umweltschutz. Für diese Aufgaben muss er Geld ausgeben: für Arbeitskräfte, Güter und Dienstleistungen, Grundstücke, Maschinen, Rohstoffe und Energie. Wünsche nach einer Ausweitung der staatlichen Ausgaben werden häufig mit dem Argument zurückgewiesen, es wäre dafür nicht genügend Geld da. Das stimmt jedoch nicht. Der Staat hat das Monopol auf seine Währung. Nur er darf Geld erzeugen. Und das bedeutet, dass er so viel Geld ausgeben kann, wie er braucht. Nur seine eigenen politischen Gesetze wie die Schuldenbremse oder die Defizitregeln des Stabilitäts- und Wachstumspakts hindern ihn daran. Tendenziell könnten wir aber in unserem Geldsystem die Wirtschaft sehr viel stärker am Gemeinwohl ausrichten, als viele das denken. Geld ist genügend da. Entscheidend ist der politische Wille! Ein Green New Deal ließe sich auch in Deutschland sofort angehen. Wir brauchen nicht darauf warten, dass die Reichen endlich ihren gerechten Anteil an Steuern zahlen. So viel Zeit haben wir auch nicht. Wir müssen unseren Planeten jetzt retten, nicht irgendwann in ferner Zukunft!
Warum sollte der Staat dann überhaupt noch Steuern erheben?
Der Staat sollte Steuern vor allem deshalb erheben, um die Inflationsrate gering zu halten. Will er zur Stärkung des Gemeinwohls seine Aktivitäten ausdehnen, dann wird er viele Ressourcen kaufen müssen. Will auch der private Sektor diese Ressourcen haben, steigen die Preise. Schlauer ist es, die Steuern zu nutzen, um Haushalten und Unternehmen Kaufkraft zu entziehen. Steuern dienen aus makroökonomischer Sicht zur Inflationsbekämpfung, nicht zur Finanzierung des staatlichen Haushalts. Steuern eignen sich aber auch dazu, Einkommen umzuverteilen, wenn die Einkommens- oder Vermögensverteilung ungerecht ist. Oder dazu, gesundheitsschädlichen Konsum zu verteuern – wie bei Alkohol und Tabak.
Was passiert, wenn der Staat zu wenig Schulden macht?
Dann kann er weniger ausgeben. Und in der Wirtschaft lässt sich keine Vollbeschäftigung erreichen. Wir erleben das in der Eurozone seit Beginn. Die Arbeitslosigkeitsrate lag hier nie unter 7 %, was ein sehr hoher Wert ist. Die Beschäftigung hängt direkt davon ab, wie hoch die Gesamtausgaben von Haushalten, Unternehmen, Staat und Ausland sind. Unternehmen produzieren so viel, wie sie verkaufen können. Vor dem Hintergrund der Umwelt- und Klimaproblematik ist das zwar bedauerlich, darf aber nicht ausgeblendet werden. Wenn die Gesamtausgaben nicht hoch genug sind, dann ist das wie die „Reise nach Jerusalem“: Es fehlen Stühle: Arbeitsplätze! Und einige müssen stehen: vor dem Arbeitsamt! Die Lösung des Arbeitslosigkeitsproblems besteht darin, dass der Staat seine Ausgaben so lange erhöht, bis alle einen Arbeitsplatz haben. Alles andere ist Augenwischerei. Wenn es nicht genügend sinnvolle Arbeit gibt oder aus Umwelt- und Klimaschutzgründen die Nutzung der Ressourcen reduziert werden soll, dann kann über eine Verkürzung der Arbeitszeit bei vollem Lohnausgleich nachgedacht werden. Kurzfristig aber werden zu geringe Staatsausgaben zu erhöhter Arbeitslosigkeit, geringerer Inflation und mehr Ungleichheit führen. Und dann steigen die Staatsschulden trotzdem an, weil die Steuereinnahmen von der wirtschaftlichen Aktivität abhängen – und sinken, wenn die Wirtschaft schwächelt.
Was passiert, wenn der Staat zu viel Schulden macht?
Dann werden seine Ausgaben die Wirtschaft an die Grenze ihres Produktionspotenzials führen. Dann steigen die Preise. Die Inflation wird allerdings durch unser Steuersystem etwas abgefedert, denn mehr Umsatz bedeutet auch mehr Umsatzsteuer, d. h. dem Staat fließt mehr Geld zu. Japan hat eine Staatsverschuldung von deutlich über 200 % des BIP, hat jedoch nicht zu viel Schulden gemacht. Die Inflation ist dort niedrig. Aktuell herrscht sogar Deflation. Das Preisniveau sinkt auf breiter Front. Bei einer Arbeitslosigkeitsrate von etwa 3 % wäre es unverantwortlich, mit Hinweis auf die vermeintlich hohen Staatsschulden die Staatsausgaben zu senken und so die Deflation weiter anzuheizen. Die Arbeitslosigkeitsrate würde hochschnellen. Wozu? Weil eine Statistik bei den Wirtschaftspolitikern ein „ungutes Gefühl“ ausgelöst hat? In keinem anderen Teil unserer gesellschaftlichen Systeme herrscht ein derartiger Aberglaube wie im Bereich der Staatsverschuldung.
Warum ist unser Geld- und Finanzsystem so schwer zu begreifen? Warum gibt es so viele Missverständnisse?
Unser Geld- und Finanzsystem ist nicht schwer zu begreifen. Es ist eigentlich ganz einfach: Der Staat zwingt seine Bürgerinnen und Bürger, Steuern in einheimischer Währung zu zahlen. Dies erzeugt die Akzeptanz der Währung. Modernes Geld ist also nichts anderes als eine Steuergutschrift. Wir können uns damit unserer Steuerschulden entledigen. Die staatliche Zentralbank bekommt das Monopol auf die Währung. Staatliches Geld muss erst ausgegeben werden, bevor die Menschen damit Steuern zahlen können. Daher werden die Menschen dem Staat Güter, Dienstleistungen, Arbeit, Grundstücke, Maschinen etc. anbieten. Der Staat hat Geld und will Ressourcen. Banken haben dann ihren eigenen Geldkreislauf, wobei sie versprechen, dass die von ihnen erzeugten Bankguthaben eins zu eins in Bargeld getauscht werden können. Die Zentralbank ist nicht nur Hausbank des Staates, sondern auch Bank der Banken. Diese können sich gegen Sicherheiten Geld von ihr leihen. Das brauchen sie aber nur, wenn wir Bargeld halten wollen. Ansonsten reicht es, dass sie bei Überweisungen ihre Zentralbankguthaben entsprechend umverteilen. All dies war bereits Anfang des 20. Jahrhunderts bekannt. Ökonomen wie Knut Wicksell, John Maynard Keynes, Joseph Schumpeter und Georg Friedrich Knapp würden sich heute sehr wundern über die aktuell herrschende Sichtweise. Viele Ökonomen hängen gedanklich immer noch in der Zeit des Goldstandards fest und meinen, es sei legitim, eine vermeintlich vereinfachte Theorie zu präsentieren: kein Geld, alle Transaktionen mit Gütern als Realtausch. Da bräuchte der Staat dann tatsächlich zuerst Einnahmen in Form von Naturalsteuern, bevor er selber etwas ausgeben kann. Doch diese Sicht der Dinge war nie korrekt und ist gerade heute weit entfernt von der Realität. Der Staat schuldet Geld – und keine Güter. Und er kann und muss dieses Geld selbst erzeugen. Die Modern Monetary Theory (MMT) verursacht hier eine kopernikanische Wende. Und dabei gibt es einige Verlierer, die mit den Mythen der „schwäbischen Hausfrau“, der „schwarzen Null“, der „Trickle-down-Ökonomie“ und der „Globalisierung“ sehr gut gefahren sind. Alle diese Mythen verlieren nun ihre Wirkungskraft. Allerdings sitzen noch überall Leute an den Schalthebeln, die mit ihnen hochgekommen sind. Da sie gegen die MMT mit Argumenten nicht ankommen, stellen sie diese falsch dar und verbreiten viele Missverständnisse.
Was ist das größte Missverständnis?
Das größte Missverständnis betrifft die Frage, was die MMT eigentlich ist. Eine Theorie ist nach dem Duden ein „System wissenschaftlich begründeter Aussagen zur Erklärung bestimmter Tatsachen oder Erscheinungen und der ihnen zugrunde liegenden Gesetzlichkeiten“. Leider scheinen viele Kollegen zu glauben, dass eine Theorie ein Gleichgewichtsmodell sein muss. Das ist hanebüchener Unfug. Wenn ich verstehen will, ob eine Zentralbank oder eine Regierung zahlungsunfähig werden kann, dann kann ich das nicht mithilfe eines Gleichgewichtsmodells untersuchen. Da viele Kollegen uns nicht als Theoretiker anerkennen, meinen sie, dass die MMT eine Politikempfehlung sei, die man „anwenden“ könne. Das ist falsch, wird aber seit Jahren behauptet. Richtig ist: Die MMT ist eine empirisch überprüfbare Theorie unseres Geld- und Finanzsystems. Sie ist politisch neutral – und keine Ideologie. Das heißt nicht, dass aus politischer Sicht nichts folgt. Natürlich fragt sich auch die MMT: Wie erreichen wir Vollbeschäftigung und Preisstabilität bei nachhaltiger Ressourcennutzung? Die Antworten sind dann aber andere. Es ist zu erwarten, dass sich durch die MMT der gesamte politische Diskurs in der Achse verschiebt, ähnlich wie bei der Einführung des Wohlfahrtsstaates in der Bundesrepublik nach Ende des Zweiten Weltkriegs.
Wer „erfand“ die MMT?
Vor ziemlich genau 25 Jahren suchte der US-Investor und Automobilkonstrukteur Warren Mosler nach Ökonomen, die sich mit Geld und mit dem Staat beschäftigen und wie er erkannt hatten, dass der Staat, weil er ein Monopol auf Währung hat, das Preisniveau und die Beschäftigung wesentlich bestimmt. Er fand Randall Wray und Bill Mitchell, im Laufe der Zeit kamen noch Pavlina Tcherneva, Fadhel Kaboub, Scott Fullwiler und nicht zuletzt Stephanie Kelton hinzu, deren Buch „The Deficit Myth“ ein Bestseller wurde. Sie beriet zuletzt Bernie Sanders im Wahlkampf, der einen Green New Deal wollte. Berater der Abgeordneten Alexandria Ocasio-Cortez hatten diesen ausgearbeitet. Mosler war ursprünglich an der Frage interessiert, ob die Regierungen der Türkei und Italiens bankrott gehen könnten. Im Endeffekt erkannte er, dass dies nicht der Fall ist, denn solange es keinen festen Wechselkurs oder keine Staatsverschuldung in ausländischer Währung gibt, kann eine von ihrer Zentralbank unterstützte Regierung nicht zahlungsunfähig werden. Unterstützt die Zentralbank sie nicht, kann die Regierung die Gesetze ändern und die Zentralbank zwingen, sie zu unterstützen. Die demokratisch legitimierte Regierung ist mächtiger als die nicht demokratisch legitimierte Zentralbank. Dies ist eine wichtige Einsicht, gerade vor dem Hintergrund der Austeritätspolitik, die insbesondere Europa an den Abgrund getrieben hat.
Wie stießen Sie auf die MMT? Und warum wurden Sie ihr Verfechter?
Ich wurde 2011 auf die MMT aufmerksam. Damals war ich an der Universität Oldenburg als wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig und versuchte, die große Finanzkrise von 2008/2009 zu verstehen. Ich wollte ein Buch schreiben, das die Geld- und Kreditschöpfung so erklärt, dass wir sie wirklich verstehen können. Nachdem ich mich eingelesen hatte, wurde mir klar, dass fast nichts von dem stimmte, was mir im Studium über Makroökonomie und Geld beigebracht worden war: Banken sind keine Intermediäre, sondern schöpfen selber Geld. Staatsausgaben erhöhen die Ersparnis und erzeugen kein „Crowding out“, wie es in Lehrbüchern behauptet wird. Eine Erhöhung der Staatsausgaben führt dabei zu niedrigeren Zinsen, nicht zu höheren. Staaten können normalerweise nicht pleitegehen. „Fiskalischen Spielraum“ gibt es gar nicht. Der „natürliche Zins“ ist ein Mythos. Ebenso wie die Annahme, dass Zentralbanken die Inflation kontrollieren. Erstens können sie das nicht. Und zweitens führen niedrigere Zinsen zu weniger und nicht zu mehr Inflation. Als ich die MMT damals anhand von empirischen Fakten überprüfte, wurde mir klar, dass ich eine schwerwiegende Entscheidung treffen muss: entweder die MMT wegschieben und einfach so tun, als ob ich von ihr nichts mitbekommen hätte. Oder aber für sie eintreten und sie einem breiteren Publikum bekannt machen. Ich entschied mich für Letzteres. 2014 gründete ich mit dem Rechtsanwalt Erik Jochem und dem Investmentbanker Alex Hoffmann die gemeinnützige Pufendorf-Gesellschaft, um die Öffentlichkeit über die Funktionsweise des Geld- und Kreditsystems aufzuklären und wissenschaftliche Erkenntnisse zu transferieren.
Wer ist Pufendorf?
Samuel von Pufendorf war einer der ganz großen Staatsphilosophen des 17. Jahrhunderts und ein Vordenker der Menschenrechte. Er vertrat die Auffassung, dass der Staat die zentrale Instanz zur Herstellung und Garantie öffentlicher Güter ist. Und dass jedem Menschen durch Geburt bestimmte Rechte zustehen, die er nur dadurch verwirklichen kann, indem er sich mit anderen zu einer organisierten Gemeinschaft, dem Staat, zusammenschließt. Die zentrale Aufgabe des Staates ist deshalb, die Freiheit seiner Bürger und die angemessene Verteilung der Güter zu gewährleisten. Wir stehen auf seinen Schultern, wenn wir sagen, dass Geld der Kern unseres Gemeinwesens ist und dass wir uns alle über die politischen Regeln verständigen sollten, wie wir sorgsam mit unseren Ressourcen umgehen. Inzwischen hat unser Verein über 20 Mitglieder, richtete im Februar 2019 die erste Europäische MMT-Konferenz aus und wird im September 2021 die zweite ausrichten.
Wer würde von einer Wirtschaftspolitik nach der MMT profitieren? Und wer nicht?
Arbeitssuchende würden profitieren, denn Vollbeschäftigung ist ein Ziel, das sich einfach erreichen lässt. Die jetzige Strategie ist, Arbeitssuchende besser zu qualifizieren. Das löst aber das Problem nicht, wenn es in den Unternehmen zu wenig Arbeitsplätze gibt. Der Staat könnte aber einfach zusätzliche Arbeitsplätze erzeugen im Rahmen einer Jobgarantie, auf Bundesebene finanziert und auf lokaler Ebene verwaltet. Wer Arbeit sucht und keine findet, bekommt ein lokales Arbeitsangebot aus einer Datenbank. Gezahlt wird ein Grundlohn, der zum Leben ausreicht. Zu tun gibt es genug. Wir haben Krisen in vielen gesellschaftlichen Bereichen und könnten helfende Hände fast überall gut gebrauchen. Neben den Arbeitsuchenden würden also auch diejenigen profitieren, denen mit der Arbeit geholfen wird. Verlieren würden Unternehmen, die ihre Arbeitskräfte schlecht bezahlen, weil denen dann die Arbeitskräfte davonlaufen.
Um wie viel soll der Staat seine Ausgaben erhöhen?
Das sollte der Staat letztlich an den Zielen ausrichten, die er erreichen möchte. Dazu gehört – neben der eben erwähnten Vollbeschäftigung – vor allem auch die Durchsetzung von Rechten. Es gibt ein Recht auf Bildung, ein Recht auf Gesundheit, ein Recht auf körperliche Unversehrtheit und noch weitere Rechte. Dafür muss der Staat Schulen, Universitäten, Krankenhäuser, Polizei, Justiz und andere Einrichtungen finanzieren.
Ist eine Wirtschaftspolitik nach der MMT ökologisch ausrichtbar?
Eine Wirtschaftspolitik auf Grundlage der MMT ist auf das Gemeinwohl ausgerichtet. Was das Gemeinwohl genau ist, muss in einem demokratischen Prozess festgelegt werden. Die Ökologie ist heute natürlich von zentraler Bedeutung. Insofern ist die MMT eine gute Grundlage für einen Green New Deal. Alles, was produziert werden kann, ist finanzierbar. Die Ressourcen sind endlich, das Geld ist es nicht. Wenn es an Geld mangelt, dann nur, weil das politisch so gewollt ist. Die MMT erlaubt eine undogmatische Wirtschaftspolitik. Der Staat kann sowohl den privaten Sektor über Garantien, Zuschüsse und Käufe einbinden als auch den öffentlichen Sektor stärken, z. B. bei der Verkehrsinfrastruktur oder im sozialen Bereich, um die ökologische Transformation sozialverträglich zu gestalten. Bei einem Green New Deal muss die gesamte Bevölkerung mitgenommen werden, um soziale Härten, soziale Unruhen und politische Verwerfungen zu vermeiden.
Könnte die MMT für Wirtschaftspolitik zur Steigerung der Unternehmensprofite missbraucht werden?
Theoretisch wäre das durchaus möglich, aber es ist unwahrscheinlich. Denn die MMT ist mit ihrer Betonung des Gemeinwohls und des demokratisch legitimierten Staates seit jeher ein Gegenentwurf zum seit Jahrzehnten vorherrschenden Wirtschafts- und Politikverständnis.
Ist in der Eurozone eine Wirtschaftspolitik nach der MMT überhaupt machbar?
2014 schrieb ich in der 1. Auflage meines Buches, dass die Institutionen der Eurozone so umgebaut werden sollten, dass das Risiko eines Staatsbankrotts auf null reduziert wird. Und dass dies geschehen könne, indem das Ankaufprogramm der Europäischen Zentralbank (EZB) genehmigt wird. Im März 2020 setzte die EZB genau das um, indem sie ein Pandemic Emergency Purchase Programme (PEPP) startete. Sie versprach, Staatsanleihen in Höhe von Hunderten von Milliarden Euro anzukaufen – so viel und so lange wie nötig. Nun wissen die Investoren, dass sie immer an die EZB verkaufen können. Staatsanleihen sind risikofrei. Die nationalen Regierungen können diese immer an Banken verkaufen, weil die damit Geld verdienen können. Auch die Defizitregeln des Stabilitäts- und Wachstumspakts sind nun außer Kraft gesetzt, mindestens noch dieses Jahr, wahrscheinlich auch 2022. Damit können die Defizite der Nationalstaaten beliebig hoch ausfallen. Die EU-Kommission und die EZB haben so die Souveränität der Nationalstaaten in Bezug auf das Fiskalische wiederhergestellt, auch wenn es hinter den Kulissen Machtspielchen gibt. Die nationalen Regierungen sind aktuell nicht beschränkt in ihren Ausgaben. Erst wenn der Stabilitäts- und Wachstumspakt wieder eingesetzt und das PEPP abgewickelt wird, sind die Ausgaben wieder beschränkt. Es ist aber abzusehen, dass sich dann die Eurokrise von 2010 wiederholt. Da Italien und Griechenland auch 2019 noch nicht das BIP von 2007 erreichten, würde eine weitere Talfahrt wohl dazu führen, dass diese Länder aus dem Euro austreten. Und auch aus der EU. Es spricht also vieles dafür, die MMT-Erkenntnisse weiter zu verbreiten und die heutige Situation mit PEPP der EZB und ohne Stabilitäts- und Wachstumspakt festzuschreiben. Letztlich sind schon viele Erkenntnisse der MMT umgesetzt, aber die Welt tut sich noch schwer, das „neue Normal“ als solches zu akzeptieren. Und zu erklären, warum das alles gut ist. Die MMT ist die einzige Theorie, die erklären kann, warum hohe Defizite und hohe Staatsverschuldung mit niedriger Inflation kompatibel sind, warum die Geldpolitik des Inflationsziels am Ende ist und warum die Fiskalpolitik in Zukunft die Wirtschaft stabilisieren wird. Ob es den Leuten gefällt oder nicht: Wir leben schon in einer neuen Welt. Es fehlt nur noch die kopernikanische Wende in der Geldtheorie, um das empirisch Beobachtbare auch theoretisch begreifen zu können.
Wie gibt denn eigentlich die deutsche Bundesregierung Geld aus?
Wenn die Bundesregierung Ausgaben tätigt, wird die Bundesbank im Auftrag für sie tätig und erhöht den Kontostand der Bank des Empfängers. Die staatliche Zentralbank – Bundesbank und EZB – ist schließlich Schöpferin des Geldes und hat ein Monopol auf den Euro. Entgegen der landläufigen Meinung werden alle Ausgaben der Bundesregierung von der Bundesbank getätigt, immer im Auftrag des Bundesfinanzministeriums. Staatliche Schulden entstehen aufgrund der politischen Regel, dass staatliche Ausgaben das Zentralkonto des Bundes reduzieren, welches am Ende des Tages ausgeglichen sein muss. Hier landen unter anderem die Steuereinnahmen. Reichen die nicht aus, kann die Bundesregierung Staatsanleihen verkaufen an Banken, die mit Zentralbank-Guthaben bezahlen. Diese Staatsanleihen stellen die „Schulden“ des Staates da. Letztlich handelt es sich dabei aber lediglich um – momentan negativ – verzinste Steuergutschriften. Solange die Bundesregierung nicht durch politische Regeln behindert wird, führt dies zu keinem Problem. Es ist nicht vorgesehen, die Staatsverschuldung in Zukunft abzubauen. Dies ginge ja auch nur über Steuererhöhungen oder eine Kürzung der öffentlichen Ausgaben bei gleichzeitig stabiler Wirtschaft. Die Austeritätspolitik seit 2010 hat gezeigt, dass das nicht zusammenpasst. Ausgabenkürzungen des Staates bringen Wirtschaft und Steuereinnahmen zum Einbrechen. Und am Ende ist die Staatsverschuldung höher und nicht niedriger. Unsere Wirtschaftspolitik sollte sich an der Realität orientieren und nicht mehr an einer offensichtlich falschen Theorie bzw. Ideologie. Die MMT ist der Realität sehr viel näher.
Herr Dr. Ehnts, herzlichen Dank für das interessante Gespräch.
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