„Wir könnten mit halb so viel Arbeit weitaus besser leben“
29. März 2021
Wirtschaftswachstum schafft Arbeitsplätze. Deshalb werden Wachstum und Arbeit gerne verklärt – von Politkern, Arbeitgebern, Betriebsräten und Gewerkschaften. Nicht gefragt wird dabei nach dem Sinn der Arbeit. Es wird nicht unterschieden, ob sie tatsächlich notwendig oder eher vermeidbar oder sogar schädlich ist.
Interview mit Prof. Günther Moewes
ÖkologiePolitik: Herr Prof. Moewes, warum wird so gut wie nie zwischen notwendiger, vermeidbarer und schädlicher Arbeit unterschieden?
Prof. Günther Moewes: Weil auch vermeidbare und schädliche Arbeit Profit bringt – meist mehr als notwendige Arbeit. Und weil in den Augen der Politik „Arbeitsbeschaffung“ immer sinnvoll ist. Dabei schadet die meiste Arbeit – Stichworte: Transport- und Mobilitätswahn, Verpackung, Wegwerfproduktion, Pseudorecycling und Rüstung – der Natur und dem Klima weit mehr als notwendige, aber vernachlässigte Arbeit wie z. B. Sanierung, Reparatur, Bildung, Pflege, biologischer Anbau, Lebensmittelkontrolle und selbstbestimmte Entfaltungsarbeit. Weil erstere meist weit mehr Material und Energie bewegt und verbraucht als letztere.
Ein bei Ihnen häufig auftauchender Begriff ist „Entropie“. Warum?
Der Begriff stammt vom Physiker Rudolf Clausius, der 1865 die Wärmelehre schuf: Alle Arbeit, die Materie und Energie verbraucht, überführt sie in die ewige Vermischung und Unverfügbarkeit – es sei denn, die Energie kommt von der Sonne. Der Ökonom Nicholas Georgescu-Roegen und der Umweltjournalist Christian Schütze machten „Entropie“ dann zu einem Schlüsselbegriff der Ökologie – alles nachzulesen in meinem Buch „Weder Hütten noch Paläste“.
Argumentieren Rechtspopulisten und Nationalisten nicht auch gegen Vermischung?
Da wird der Begriff „Vermischung“ auf sehr verschiedene Dinge angewandt. Physik hat nichts mit Migration und biologischer Vererbung zu tun. Migration hat meist schreckliche Ursachen, aber ohne sie wären wir noch alle Jäger und Sammler in Afrika. Der eigentliche Sündenfall ist der Zugriff auf die fossilen Energien. Davor erfolgte alle Mobilität und Migration mit Körper-, Tier- und Windkraft, d. h. mit Sonnenenergie. Auch sonst geht hier ja einiges durcheinander: Fast alle verurteilen den Nationalismus in der Politik, feiern ihn aber in der Weltwirtschaft, wo jede Nation versucht, anderen Nationen negative Handelsbilanzen zuzufügen und Arbeitsplätze abzujagen. Die Globalisierung dient als Drohkulisse, um die notwendige Verkleinerung unseres ökologischen Fußabdrucks zu verhindern. Die stattdessen angebotenen technischen Lösungen strotzen vor Vergeudung. Sie unterschlagen meist große Teile der erforderlichen Herstellungsenergie für Rohstoffe, Planung, Gebäude und Transport bis hin zu allen Fahrten zu allen Arbeitsstätten. Es geht ja heute nicht nur um die künftige Verringerung des CO2-Ausstoßes, sondern vor allem um die Verringerung des bereits erzeugten.
Welche Auswirkungen hat die Globalisierung auf Architektur und Städtebau?
Globalisierung zerstört die Vielfalt und schafft ein Allerweltsgemisch. Evolution hat stets Entmischung und höhere Vielfalt erzeugt. Statt unverwechselbarer Fachwerkstädte, weißer Dörfer in Andalusien oder hanseatischer Backsteinarchitektur produziert die Globalisierung in Berlin ein Bundespräsidialamt aus schwarzem indischem Marmor oder in Dortmund ein Botta-Museum aus rotem schwedischem Sandstein. Überall der gleiche Architektur-Zoo, der gleiche Logo-Salat. Ursache sind profitabler Transportwahn und PR-Zwänge der Architekten. Eine Orientierung an der Region würde weniger Transport und größere Unverwechselbarkeit erzeugen.
Hat die Ökologie in Architektur und Städtebau inzwischen an Bedeutung gewonnen?
Kaum. Überall noch immer die alten Fehler: Ignorieren von Himmelsrichtung, richtigem Sonnenschutz und passiver Solarnutzung. Glasfassaden auf Nordseiten. Stadtraum als bloßer Immobilienabfall. Ein riesiges Entsorgungsproblem durch die Schaumstoffe. Keine vernünftige Nachverdichtung und Funktionsmischung. Im Mansarddach des alten Landgerichts lagern Akten in Südlage mit Fernblick, während nebenan die Alleinerziehende im dunklen Erdgeschoss in Nordlage an der lauten Straße wohnt. Überall Flächen- und Energieverschwendung. Supermärkte und Kindergärten werden nicht im Erdgeschoss von Geschossbauten untergebracht, sondern eingeschossig auf eigenem Grund. Die darüber fehlenden Wohngeschosse finden wir dann „auf der grünen Wiese“ vor der Stadt wieder. Die Innenstädte gehen immer weiter kaputt, trotz Festbeleuchtung, die millionenfachen Insekten- und Vogeltod erzeugt. „Künstler-Architekten“ mit neckischen „Ideen“ tun nicht das Notwendige und Sinnvolle, sondern jagen lieber nach dem noch nie Gesehenen, noch nie Dagewesenen.
Warum hat sich so wenig geändert?
Übermächtige private Besitzverhältnisse, Konzentrationsmechanismen des Kapitals, PR-Mechanismen der Architekten. Nötig wären bessere Raum- und Stadtplanung und großzügigere Ersatz- und Entschädigungsansprüche bei Enteignung. Stattdessen wird die Planlosigkeit als Ausdruck von Demokratie und Freiheit stilisiert.
Wieso haben Sie sich als Architekt so intensiv mit Ökonomie beschäftigt?
In den 1980er-Jahren wollten die Studenten ökologisch entwerfen – und es florierte eine banale „Latzhosen-Ökologie“, auch in vielen Medien. Das als Unsinn zu entlarven, ging nicht ohne Physik und ohne Ökonomie. Dabei stellte ich erstaunt fest, dass auch die Ökonomie voller Seltsamkeiten und unsinniger Annahmen war. Wenn Wissenschaft und Kunst in Gewohnheit, Fachblindheit, Akademismus, Historismus und Zeitgeist versinken, haben Fachfremde oder Autodidakten bisweilen den unbefangeneren Blick – und Durchblick. Die moderne Architektur wurde ja zum Teil von Gärtnern, Malern oder Reportern erfunden. Heute ist die Ökonomie derart aufbruchreif. Und überall entstehen alternative Konzepte und Netzwerke.
Was läuft in der Ökonomie verkehrt?
Natur und Klima werden zerstört. Und die soziale Ungleichheit nimmt zu – und wird immer krasser. Das BIP hat sich in den USA seit 2005 verdoppelt, in Deutschland seit 1992. Eigentlich müsste es nun allen doppelt so gut gehen, tatsächlich besitzen aber die 3 reichsten US-Milliardäre so viel wie die gesamte ärmere Hälfte der US-Bevölkerung. Superreichtum entzieht sich unserer Vorstellungskraft. Wenn ein 100-Dollar-Schein 0,1 mm dick ist, dann ist 1 Mrd. in 100-Dollar-Scheinen 1 km hoch. Das Vermögen von Elon Musk wäre in 100-Dollar-Scheinen 195 km hoch. Das eigentlich Irre ist aber nicht die Höhe der Supervermögen, sondern ihre jährliche Zunahme: Die Vermögen der 10 Reichsten der Welt betrugen 2010 zusammen 342 Mrd. Dollar, 2021 bereits 1.136 Mrd. Dollar – Zuwachs: 232 %. Die 2.189 Milliardäre dieser Welt besaßen 2010 zusammen 4 Bio., im April 2020 bereits 8 Bio. und Ende 2020 über 10 Bio. Dollar – Zunahme allein in den letzten 8 Monaten: 28 %. Ein Totalversagen staatlicher Rückverteilungspolitik.
Woher kommt das?
Wir geben zuerst Milliarden für eine falsche Wirtschaft aus und bekämpfen deren Folgen dann wieder mit Milliarden. Das ist Arbeitsvergeudung! Aber da freuen sich die Milliardäre. Diese monströsen privaten Kapitalanhäufungen auf der einen Seite erzeugen auf der anderen Seite weltweit den genau gleich großen Fehlbedarf bei der Existenzsicherung der Bevölkerungen. Da werden Arme notgedrungen zu Naturzerstörern gemacht, zu illegalen Goldwäschern, Überfischern und Singvogelessern. Wir alle bezahlen diese Monstervermögen mit Preisen, Mieten und Einkommensverlusten. Sowie mit fehlenden Leistungen bei Grundeinkommen, Pflege, innerer Sicherheit, Lebensmittelkontrolle usw. In den ärmeren Ländern geht das bis zu totalem Existenzverlust und Hungertod.
Wie hängen Ungleichverteilung und vermeidbare Arbeit zusammen?
In den Industrieländern wird ein „Arbeitsfehlbedarf“ von der Politik durch „Arbeitsbeschaffung“ kompensiert. Sinnvolle Arbeit in Pflege, Kitas usw. wird allerdings nicht so gern „beschafft“. Ungleichverteilung und vergeudete Arbeit sind zwei Seiten derselben Medaille. Die Arbeitsbeschaffer sind die Wasserträger der Milliardäre. Dieser katastrophale Anachronismus gilt als „Motor der Wirtschaft“, ist in Wirklichkeit aber die größte Abrissbirne für Globus, Klima, Natur und gesellschaftlichen Zusammenhalt.
Angela Merkel sagte einmal, den Schwachen könnte nur dann etwas abgegeben werden, wenn wir genügend Starke haben.
Politik als Reichenlobby! Etwas abgeben? Rückverteilung als Almosen! Rechtfertigungsmärchen wie die „Trickle-down-Theorie“: Wenn wir genügend Reiche haben, tropft für die Armen schon genug herab. Oder: Die steigende Flut hebt alle Boote. Auch China glaubt heute an solche Märchen. Was früher Pharaonentum, Gottesgnadentum und Franzosenhass waren, besorgt heute die Ökonomie. Real ist nur der grundsätzliche Zusammenhang zwischen Armut und Reichtum: „Wär ich nicht arm, wärst du nicht reich“, sagt bei Brecht der Arme zum Reichen.
Ist die Ökonomie eine Wissenschaft?
Vieles an ihr ist schlicht Bluff: Wenn die Einwohnerzahl einer Stadt jedes Jahr gleich zunimmt, also die Zunahme prozentual nicht steigt, ist das für Ökonomen „Nullwachstum“. Und beim BIP ist das genauso. Sogar bei jährlich fallenden Wachstumsprozenten steigt das BIP munter weiter an. Auch die ewigen Prozentvergleiche zwischen ungleich großen Ländern sind Bluff. Richtiger wären Pro-Kopf-Vergleiche. Auch das „Umlagesystem“ der Renten ist ein Trick, um die Kapitalseite zu schonen und die Risiken der Arbeitsseite und den Jüngeren anzulasten. Und erst recht das Wohltätigkeitsgehabe um die „Arbeitsbeschaffung“, die nur dazu dient, der Kapitalseite die Maschineneinkommen zuzuschanzen.
Wie hängen Automatisierung, Arbeitsbeschaffung und Ungleichheit zusammen?
Obwohl das Geld immer mehr von Maschinen verdient wird, bleiben die Einkommen der Mehrheit weiter an die ständig zurückgehende Arbeit gekoppelt. Das hat fatale Konsequenzen: Das von Maschinen erwirtschaftete Geld wird fast ganz den Kapitaleignern, Konzernherren und Finanzmärkten überlassen. Die von Maschinen übernommene Arbeit muss ständig durch neue Ersatzbeschäftigungen kompensiert werden. Diese vermeidbare Arbeit zerstört Globus und Klima. Und sie schafft keinen Wohlstand, sondern zerstört ihn, weil dann das Geld für wichtige und sinnvolle Aufgaben fehlt. Die gezielt erzeugte Angst vor Erwerbslosigkeit treibt die Arbeitenden an, nicht gegen Kohleabbau und Gülledüngung zu demonstrieren, sondern dafür.
Wieso wird das nicht durchschaut?
Der Zeitgeist betet immer etwas an: heute Wachstum und Arbeit. Die Milliardäre und ihre Wasserträger wollen nicht, dass wir sehen, wer wie stark von der Verdoppelung des BIP profitiert. Und dass wir längst mit halb so viel Arbeit weitaus besser leben könnten. Statt fremdbestimmter Qualarbeit könnten wir uns mehr selbstbestimmter Entfaltungsarbeit widmen. Das schüfe Emanzipation. Doch das ist von denen, die vom gegenwärtigen System profitieren, unerwünscht.
Was wäre der Ausweg?
Die Abhängigkeit der Einkommen von der Arbeit muss beseitigt werden. Indem man einen Teil des von Maschinen für Supermilliardäre verdienten Geldes per Reichensteuer oder Vermögensabgabe direkt an die Bevölkerungen zurückverteilt. Und damit alle diejenigen alimentiert, die ihre vermeidbare Arbeit aufgeben wollen oder müssen. Durch ein wie immer geartetes Grundeinkommen, durch Negativsteuern o. Ä. Das würde unsere Lebensgrundlagen erhalten und Emanzipation schaffen. Nur so könnte nach und nach die heutige wachstumsorientierte Angebots- und Beschäftigungswirtschaft in eine bedarfsorientierte Nachfragewirtschaft überführt werden.
Lässt sich das finanzieren?
Die im Zuge der Pandemie herausgehauenen Billionen haben dieses Argument und die alte Austeritätspolitik mit einem Schlag weggefegt. Ebenso die Vorstellung, man könne keine Kredite ausgeben, bevor sie nicht erarbeitet wurden. Mario Draghis Anleihekäufe und das von Geschäftsbanken durch Kreditvergabe geschöpfte Geld wurden ja auch nicht vorher erarbeitet. Das alles wäre gut und entspräche moderner Finanztheorie, wenn die Billionen nicht bei fossilen Konzernen und vermeidbarer Arbeit ankämen, sondern direkt bei der Bevölkerung – z. B. in Form eines pandemiefesten Grundeinkommens. Auch die viel beklagten, angeblich zu hohen Pensionslasten sind ja kreditfinanzierte Grundeinkommen. Sie destabilisieren nicht das Geldsystem, sondern stabilisieren die Binnennachfrage.
Die aktuelle Politik erhält bei den Wahlen immer wieder die Mehrheit.
Konservatismus ist Gewohnheit. Arbeit war immer das Los der Beherrschten. Viele möchten gern auf der Seite der Reichen und Sieger stehen. Oder glauben, dass sie von dieser Politik profitieren. Die Mittelschicht begreift nicht, dass nicht nur die Armen, sondern sie selbst für den Superreichtum ständig Federn lassen müssen – und wählen die, die angeblich „Vermögen schützen“.
Was können wir von Corona lernen?
Die Menschheit gibt es seit einer Weltraumsekunde. Aber die Biomasse aller lebenden Menschen und Nutztiere ist 24-mal so groß wie die aller wild lebenden Landsäugetiere. Und die Ökonomen wollen immer weiter Wachstum. Da freuen sich die Viren schon auf den „Kipppunkt“. Die Politik könnte die Pandemie nutzen und die Wirtschaft der Industrieländer ohne Gesichtsverlust auf ein verträgliches Maß reduzieren. Sie könnte umweltschädliche Konzerne der schöpferischen Zerstörung überlassen, wie es Schumpeter gefordert hat. Stattdessen macht sie das Gegenteil: schließt kleine Läden – und die großen Versandkonzerne werden immer größer und ihre Besitzer immer reicher.
Herr Prof. Moewes, herzlichen Dank für das interessante Gespräch.
Buchtipp
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