Gesellschaftliche Diskurse und mögliche Allianzen
27. März 2021
Wachstumskritik ist der „Markenkern“ der ÖDP. Allerdings hat sie damit bei Wahlen bisher nur mäßigen Erfolg. Ist die Kritik zu kopflastig? Ist die Botschaft zu negativ? Sind die Konzepte zu diffus? Wichtiger als Konzepte sind Visionen!
von Jens-Eberhard Jahn
Laut einer Umfrage der nicht gerade als kapitalismuskritisch bekannten „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ glauben gerade einmal 12 % der Deutschen noch, dass sie von einer wachsenden Wirtschaft ausreichend profitieren. Dagegen meinen 55 %, dass unser Wirtschaftssystem in seiner jetzigen Form mehr schadet als hilft. Diese gesellschaftliche Mehrheit ist sehr heterogen und daher politisch kaum repräsentierbar. Aber lautstarke Minderheiten in vielen unterschiedlichen Milieus können eine Meinungsführerschaft in der Gesellschaft erreichen. Es bedarf dann einer Vielzahl attraktiver Alternativvisionen, um das dominante Wachstums- und Wohlstandsmodell zu unterlaufen. Die Akteure müssen sich vernetzen und ihre Botschaften an gesellschaftliche Bedürfnisse, Debatten, Reformvorschläge und Kämpfe anknüpfen.
Bedürfnisse
Viele Menschen sind durch die Veränderung ihres Alltags in eine Krise geraten. Viele werden „nach Corona“ nun erst recht jedem Wandel skeptisch gegenüberstehen. Andere sind „durch Corona“ offener für einen gesellschaftlichen Wandel geworden, durch den die „guten Seiten“ der Krise als Chance genutzt werden können: weniger motorisierter Verkehr, weniger Stress, mehr Homeoffice. Das Bedürfnis nach Resilienz, nach größerer Krisensicherheit, werden wohl viele teilen. Das ist auch ein Bedürfnis nach verlässlichen und vorausschauenden Lösungen für die soziale und ökologische Krise. Und ein Bedürfnis nach Vertrauen. Die Chance der ÖDP, diese Bedürfnisse aufzugreifen und als Visionen authentisch vertreten zu können, hängt nicht zuletzt davon ab, wie krisenfest, stressfrei und vertrauenswürdig die Partei selbst ist.
Debatten
Von 2011 bis 2013 diskutierten die Fraktionen sowie zahlreiche Expertinnen und Experten in der Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ des Deutschen Bundestags über die Bedeutung des BIP, über das „gute Leben“ und über die Frage, welches Wachstum wir brauchen. Zum Abschlussbericht gab es wissenschaftlich und politisch auch heute noch interessante Sondervoten von der SPD, den Bündnis 90/Die Grünen, der Linken sowie vielen Expertinnen und Experten. Im 2013 ausgehandelten Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD fand sich allerdings keiner dieser Aspekte wieder. Man setzte auf Wachstum alten Stils. Ein Rückblick auf die Enquete-Kommission und eine Auswertung der dort geführten Debatten scheinen geboten.
Reformvorschläge
2014 fand in Leipzig der internationale „Degrowth-Kongress“ statt. Dabei war die Dichte und Vielfalt ökonomischer, kultureller, sozialer, spiritueller und ökologischer Visionen und Vorschläge überwältigend, ebenso die Präsenz prominenter Referentinnen und Referenten. Viele sahen die Bildung unter Postwachstumsbedingungen endlich frei von Verwertungszwängen. Andere argumentierten, ein ökologisches Grundeinkommen könnte beitragen, Teilhabe in der Postwachstumsgesellschaft zu ermöglichen und Umweltzerstörung einzudämmen. Postwachstumsinitiativen mit ihren Denkfabriken und praktischen Beispielen für lokales Handeln sind im vergangenen Jahrzehnt wie Pilze aus dem Boden geschossen. Deren Reformvorschläge sollten im kontinuierlichen Prozess von der ÖDP auf ihre politische Tauglichkeit geprüft und deren Potenzial strategisch genutzt werden.
Kämpfe
Schon Johannes Paul II. hatte 1991 in seiner Enzyklika „Centesimus Annus“ geschrieben, dass sich die Lebensweisen, die Modelle von Produktion und Konsum, von Grund auf ändern sollten. Papst Franziskus spricht in seiner Enzyklika „Laudato si’“ nicht mehr nur von Konsum, sondern von Missbrauch und Ausplünderung. Er sieht die globale soziale Frage untrennbar verbunden mit der ökologischen Frage. Bereits Karl Marx hatte diesen Zusammenhang erkannt und im „Kapital“ geschrieben, dass die Wirtschaft selbst „die Springquellen allen Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter“.
Kapitalismus braucht ständiges Wirtschaftswachstum. Dieses Wachstum setzt laut Franziskus „die Lüge bezüglich der unbegrenzten Verfügbarkeit der Güter des Planeten“ voraus, die dazu führt, ihn bis zur Grenze und darüber hinaus „auszupressen“. Nachhaltiges Wachstum sei ein Widerspruch in sich und nur eine Variante des „hemmungslosen Größenwahns“.
Die Worte des Papstes sind das Echo darauf, wie in vielen Gemeinden die Bibel als Quelle politischen Handelns gelesen wird. Natürlich auch in protestantischen und orthodoxen Gemeinden, in jüdischen, muslimischen und anderen, insbesondere im globalen Süden. Aber gerade die Kirchen wandeln sich von konservativen Autoritäten zu „Agenten des Wandels“, wie die Deutsche Bischofskonferenz das ausdrückte, zur Vorhut der „großen Transformation“. Eine Partei mit christlichen Wurzeln wie die ÖDP muss in der Lage sein, diese kämpferischen Visionen politisch zu übersetzen.
Fazit
Vielleicht können Konzepte überzeugen. Visionen können begeistern. Die ÖDP muss das Rad nicht neu erfinden. Sie braucht Visionen, Strategien und Allianzen, um es ins Rollen zu bringen.
Buchtipps
Frank Adler,
Ulrich Schachtschneider (Hrsg.)
Postwachstumspolitiken
Wege zur wachstumsunabhängigen Gesellschaft
oekom, Februar 2017
328 Seiten, 24.95 Euro
978-3-86581-823-2
Alberto Acosta
Buen vivir
Vom Recht auf ein gutes Leben
oekom, April 2015
224 Seiten, 16.95 Euro
978-3-86581-705-1
Onlinetipps
Deutscher Bundestag
Schlussbericht der Enquetekommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“
03.05.2013
www.t1p.de/yibb
Papst Franziskus
Enzyklika Laudato si’
24.05.2015
www.t1p.de/97xq
Papst Johannes Paul II.
Enzyklika Centesimus Annus
01.05.1991
www.t1p.de/25r3