„Das BIP sagt nichts über die Lebensqualität aus“
6. Dezember 2020
Das Konzept der Gemeinwohl-Ökonomie entstand aus der Wahrnehmung eines eklatanten Widerspruchs zwischen dem Wertesystem der Wirtschaft und dem Wertesystem unserer demokratischen Verfassungen. – Interview Nr. 3 in einer Reihe von 8 Interviews mit jeweils identischen Fragen.
Interview mit Christian Felber
ÖkologiePolitik: Herr Felber, warum gilt in der Wirtschaftspolitik Wachstum als primäres Ziel?
Christian Felber: Weil es in der Wirtschaftswissenschaft als erstes Ziel gilt. Die weltweite Fixierung auf das BIP ist Ergebnis einer irregegangenen Ökonomik, die das Ziel des Wirtschaftens und damit das Ziel ihrer Disziplin aus den Augen verloren hat: die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse unter Einhaltung demokratischer Grundwerte innerhalb der ökologischen Grenzen des Planeten. So etwas lässt sich nie und nimmer mit einem monetären Aggregat messen. Das ist das Vermessenste, was einer Wissenschaft je einfallen konnte.
Welche sozialen Folgen hat es, wenn die Wirtschaft nicht wächst oder gar schrumpft?
Das hängt ganz davon ab, was unter „Wirtschaft“ verstanden wird und wie wir sie politisch organisieren. Drei Szenarien: (1) Bei einer linearen Fortschreibung des Status quo kommt es zu Massenarbeitslosigkeit und einer Verschärfung der sozialen Krise. (2) Wird hingegen die Arbeitsproduktivität verringert infolge einer stark erhöhten Ressourcenproduktivität und gleichzeitig der gesellschaftliche Reichtum über progressive Einkommens- und Vermögenssteuern sowie Mindestlöhne und Arbeitszeitverkürzung umverteilt, könnte das Beschäftigungsniveau gehalten oder sogar ausgebaut und gleichzeitig die soziale Ungleichheit verringert werden. (3) Ökonomisch effizient könnte auch heißen, dass dieselben Bedürfnisse mit geringerem monetären Aufwand befriedigt werden. Indem z. B. der Haushalt von Männern mit in Schwung gehalten wird statt von einer angestellten Reinigungskraft. Indem Regenwürmer und Lupinen die Arbeit von Pflügen und Kunstdüngern machen. Indem wir unsere Ziele zu Fuß, mit dem Rad oder allenfalls E-Moped erreichen statt mit dem Diesel-Auto. Oder indem wir in unseren Flüssen wieder baden oder aus ihnen sogar trinken können – und so weder Flugreisen noch Plastikflaschenwasser benötigen. All dies lässt das BIP schrumpfen, während die Lebensqualität steigt. Ein geringeres BIP sagt also per se nichts Verlässliches über eine steigende oder sinkende Lebensqualität aus.
Bedeutet Wirtschaftswachstum zwangsläufig auch ein Wachsen des Rohstoff- und Energieverbrauchs und damit der Umweltzerstörung?
Bisher ist keine absolute Entkopplung zwischen BIP-Wachstum und Ressourcenverbrauch empirisch beobachtbar. Zwar steigt die Ressourceneffizienz je BIP-Euro, doch nimmt auch der absolute Ressourcenverbrauch weiter zu, weil die Effizienz langsamer wächst als das BIP. Von daher müsste das gesamte Arrangement umgekehrt aufgezogen werden: Der Ressourcenverbrauch wird absolut begrenzt, die knappen Ressourcen werden entweder nach Gerechtigkeitskriterien verteilt oder auf Märkte geworfen, deren „Kräfte“ dann plötzlich in Richtung Ressourceneffizienz wirken würden – weil das Rohstoffangebot knapp ist.
Wie müsste eine Wirtschaftsordnung aussehen, die das Ziel „Nachhaltigkeit“ ernsthaft verfolgt und erreichen kann?
Wie gesagt, braucht es ein ökologisches Ressourcenmanagement auf die eine oder andere Art: Möglichkeit (1) ist ein globales Rohstoffmanagement im Rahmen der UNO, das die Entnahme nicht erneuerbarer Ressourcen reguliert – inklusive global gerechter Verteilung. Möglichkeit (2) ist die Begrenzung auf der Verbrauchs- oder Nachfrageseite in Form individueller Pro-Kopf-Verbrauchsrechte, die ich „ökologische Menschenrechte“ nenne, weil jeder Mensch das gleiche Recht bekäme, am Ressourcenkuchen der Erde Anteil zu nehmen. Selbst wenn alle Menschen alle Rechte verbrauchten, bliebe die Menschheit insgesamt innerhalb der ökologischen Grenzen der Erde. Diese Idee baut auf dem „Donut-Konzept“ von Kate Raworth auf. Und dies wiederum auf dem Konzept der „Planetaren Grenzen“.
Wie sinnvoll sind die aufgrund der Corona-Pandemie initiierten Rettungsfonds und Konjunkturprogramme?
Absolut sinnvoll, um eine schwere soziale Krise mit allen einhergehenden Gefahren – von sozialen Unruhen bis zum Polizeistaat – zu vermeiden. Allerdings hätten die Regierungen mit den Rettungsmaßnahmen einen wirkungsvollen Hebel in der Hand, nachhaltige und klimafreundliche Geschäftsmodelle und Produkte zu fördern. Sie könnten alle Rettungsmaßnahmen an eine Gemeinwohlbilanz oder -prüfung der betroffenen Unternehmen und Projekte knüpfen: je besser das Ergebnis, desto höher der Rettungsgrad, z. B. zwischen 50 und 100 % Ersatz des Geschäftsentgangs. Dadurch steigt die Überlebenswahrscheinlichkeit mit zunehmender sozialer und ökologischer Verantwortung der Wirtschaftstreibenden.
Birgt die Staatsverschuldung Gefahren?
Möglicherweise, aber nicht notwendigerweise. Die Gefahr liegt darin, dass Gelder, die zur Rettung der Wirtschaft – undifferenziert – verwendet werden, nicht mehr für soziale und ökologische Investitionen zur Verfügung stehen. Zum anderen ist die Staatsverschuldung in Deutschland nicht alarmierend. Mit innovativen geldpolitischen Instrumenten wie zinsfreien Krediten der Zentralbank an den Staat – heute noch total verboten – oder der Vollgeldreform könnte diese Situation spürbar entspannt werden. Dazu bräuchte es Reformen im Geld- und Finanzsystem. Aber vielleicht ermöglicht die aktuelle Krise diese ja am Ende.
Herr Felber, herzlichen Dank für das interessante Gespräch.
Buchtipp
Christian Felber
This is not Economy
Aufruf zur Revolution der Wirtschaftswissenschaft
Deuticke, September 2019
304 Seiten, 22.00 Euro
978-3-552-06402-7
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www.t1p.de/a051
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ÖDP München / YouTube, 24.10.2019
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