„Auf Gleis 3 steht ein Zug mit funktionierenden Klos“
7. April 2020
Früher funktionierte das deutsche Bahnsystem nahezu perfekt und war Vorbild für viele andere Länder. Auch für die Schweiz, deren Bahnsystem heute so bewundert wird. Die deutsche Bahn dagegen macht zurzeit fast nur noch negative Schlagzeilen. Diverse technische Probleme führen oft zu Zugverspätungen und Zugausfällen. Nur vorübergehende Schwächen?
Interview mit Arno Luik
ÖkologiePolitik: Herr Luik, geht es mit der Bahn bergab?
Arno Luik: Ja. Und dieser Niedergang begann bereits in den 1960er-Jahren. Da wurden die Weichen umgelegt und es hieß: Vorfahrt fürs Auto! Rücksichtslos wurde diese unökologische Politik umgesetzt. Beispielsweise gab es in den frühen 1970er-Jahren in NRW unter der SPD/FDP-Regierung von Ministerpräsident Heinz Kühn für Kommunen oft nur Kredite, wenn sie sich einverstanden erklärten, ihre Bahnstationen schließen zu lassen. Aber so richtig kaputt gemacht wurde die Bahn mit der Bahnreform 1993/94. Die Bahn AG sollte privatisiert und an die Börse verhökert werden, sexy werden für Investoren. Und sexy heißt: sparen, wo es nur geht. Sparen an Menschen, Material, Kosten. Richtig verheerend wurde es für die Bahn dann unter der rot-grünen Bundesregierung von Gerhard Schröder und Joschka Fischer: Sie brachte Hartmut Mehdorn an die Spitze, ein Mann aus der Auto- und Luftfahrtindustrie. Ein Mann, der keine Ahnung vom komplexen System Bahn hatte. Ein Bahn-Azubi, der vor allem eins schaffte: sein Gehalt um viele Hundert Prozent zu steigern. Allein in den Jahren 2005/06 hat er es verdoppelt: auf 3,18 Mio. Euro. Und gleichzeitig schaffte er es – natürlich mit Unterstützung der Politik –, die Bahn systematisch zu demontieren. „Wie oft wird diese Weiche gebraucht?“, fragte er seine Leute. „Was, nur zehnmal im Jahr? Raus damit!“ Und wieder war eine Ausweichmöglichkeit verschwunden. Dieses Sparen rächt sich natürlich und ist ein Grund, weshalb heute die Züge so unpünktlich sind. Hatte die Bahn 1994 noch über 130.000 Weichen und Kreuzungen, so sind es heute gerade noch 70.000. Das strategische Denken und Handeln der für die Bahn Verantwortlichen wurde aufs Sparen, aufs Entlassen und aufs Verschlanken ausgerichtet. Das Desaster, das wir jetzt erleben, wurde also ganz kalt geplant. Seit Jahren erleben wir einen beispiellosen Verfall der gesamten Bahn-Infrastruktur. Nichts klappt mehr. Stattdessen erlebt jeder Reisende Dinge, die in einem Land, das stolz auf seine Techniker und Ingenieure ist, nicht passieren dürften. Im Januar 2018 bin ich von meinem Heimatort Königsbronn nach Ulm gefahren und beim Halt in Heidenheim meldete sich der Lokführer über Lautsprecher: „Sie haben wahrscheinlich schon bemerkt, dass unsere Klos defekt sind. Ich weiß auch nicht, warum das so ist. Auf Gleis 3 steht ein Zug mit funktionierenden Klos. Wenn Sie also unbedingt müssen: Gehen Sie bitte durch die Unterführung rüber. Wir warten auf Sie!“ Solch ein Satz im 21. Jahrhundert! Solche Sätze aber sind inzwischen Normalität. So wie falsche Wagenreihungen, Ausfälle des Bordrestaurants, Überfüllungen, nicht funktionierende Reservierungen, nicht funktionierende Klimaanlagen Normalität sind. So normal wie Zugverspätungen und Zugausfälle, die sich ständig häufen.
Häufen die sich tatsächlich?
Ja – und zwar stark. Die Lage ist desolat: 280 ICE-Züge hat die Bahn, davon sind knapp 50 derzeit nicht einsatzfähig. Und bei den 44 ICE-2-Zügen ist in diesen Monaten die sogenannte „Hauptuntersuchung“ fällig. Die ist aufwendig: Die Züge werden in ihre Einzelteile zerlegt, alles wird gecheckt, dann wieder zusammengeschraubt. Dass dieser wichtige Termin ansteht, hat die Bahn glatt verpennt. Und nun fehlt es an Werkstätten, Reparaturkapazitäten, Technikern, ja sogar Gleisen. Chaos total. Der Bahnkunde wird mal wieder leiden und wohl auch fluchen wegen überfüllter Züge, wegen alter Ersatz-Züge, wegen ausfallender Züge, wegen Zügen, die nur als Halbzüge fahren. Fahrplan ade. Es ist dramatisch, was sich dieser Konzern erlaubt, erlauben kann, erlauben darf. Nicht nur, dass regelmäßig Züge komplett ausfallen. Es gehen auch regelmäßig ICEs auf Fahrt, die nicht richtig gewartet werden, bei denen z. B. die Druckluftbremsen ausgeschaltet sind, bei denen sich deswegen das Bremsvermögen verringert und die nicht mehr schnell fahren dürfen. Fahrplan ade. Fatalistisch akzeptiert man das. Man akzeptiert auch, dass Türen oft nicht aufgehen. Dazu sagte Bahnvorstandsmitglied Ronald Pofalla – ohne rot zu werden! –, dass ICEs, die auf der linken Seite kaputte Türen haben, vorzugsweise mit der rechten Seite am Bahnsteig halten sollen. Doch was passiert mit Reisenden, die im Unglücksfall aus den Zügen fliehen wollen, deren Türen sich nicht öffnen lassen? Ein seriöses Unternehmen, dem die Fahrgastsicherheit am Herzen liegt, würde niemals einen Zug mit schadhaften Türen auf die Strecke schicken. Würde ein Flugzeug eine Starterlaubnis bekommen, obwohl eine Tür defekt ist? Undenkbar. Aber Zugtüren, die sich nicht öffnen lassen, sind inzwischen Standard. Apropos Flugzeug: Ohne Inlandsflüge – und das ist eines der bestgehüteten Geheimnisse der Bahn AG! – wäre die Lage der Bahn noch desolater: Fast jeden Tag – kein Witz! – fliegt die Bahn Lokomotivführer durch Deutschland, von Hamburg nach München, von München nach Berlin, von West nach Ost: Sie müssen einspringen, weil überall Lokführer fehlen. Gäbe es dieses Rumgefliege nicht, wäre die Verspätungsstatistik der Bahn noch verheerender. Die Zahl der Züge, die total ausfallen, nimmt seit Jahren zu: Über 140.000 waren es im Jahr 2017. Nach der verqueren Logik der Bahn ist das nicht schlimm, im Prinzip sogar gut, wenn man dem derzeitigen Bahnchef Rüdiger Lutz aufmerksam zuhört. Im März 2019 sagte er: „Ein Zug, der nicht losfährt, kann nun mal nicht unpünktlich sein.“ Ausfälle sind also gut für die offizielle Pünktlichkeitsstatistik. Die Fahrgäste scheinen der Bahn schnurzegal zu sein. Nach der Logik von Lutz wäre die perfekte Bahn eine, bei der gar kein Zug mehr fährt.
Ist Lutz der schlimmste Bahnchef? Oder wer war der schlimmste?
Ich möchte keine Hitliste. Wir sind inmitten eines geplanten Desasters. Die Täter dafür sitzen seit vielen Jahren im Berliner BahnTower, im Aufsichtsrat der Bahn, im Bundestag, im Verkehrsausschuss, dem Verkehrsministerium. Aber vor allem im Bundeskanzleramt. Dort wird entschieden, wer Bahnchef sein darf. Ist es ein Zufall in diesem autoverrückten Land, dass die Chefs der Bahn AG seit einigen Jahrzehnten aus der Auto- und Luftfahrtindustrie kommen? Würde der Fußballverein Bayern München, wenn er einen Topstürmer sucht, ihn von einem Handballverein holen? Der derzeitige Bahnchef Lutz scheint zwar eine Ausnahme zu sein, aber er hat als Finanzchef viele Jahre konsequent und brav exekutiert, was die Bahnzerstörer Heinz Dürr, Hartmut Mehdorn und Rüdiger Grube vorgaben. Als Hartmut Mehdorn 1999 die Konzernführung übernahm, machte die Bahn noch 95 % ihres Umsatzes in Deutschland und über 90 % mit dem Fahren von Zügen. Heute macht die Deutsche Bahn AG über 50 % ihres Umsatzes im Ausland und über 50 % mit – wie sie es nennt – „Non-Rail-Aktivitäten“. Sie ist in 140 Ländern aktiv – zu Luft, zu Wasser und auf dem Land, in Ländern wie Aserbaidschan, Usbekistan, der Mongolei, Sri Lanka, Mauritius, Trinidad-Tobago, Aruba oder Madagaskar. Deutsche Steuergelder, weit über 10 Mrd. Euro, wurden investiert, um die Deutsche Bahn AG zu einem weltweit operierenden Logistikkonzern zu transformieren. Ein finanzieller Großeinsatz, der sich nie amortisieren wird. Der Steuerzahler zahlt und zahlt und bekommt dafür hierzulande: Zerfall. Bahnhöfe auf dem Land sind baufällig, verdreckt, ohne Personal, ohne Service, trostlos. Tausende Bahnhöfe wurden ganz dichtgemacht, verscherbelt, verhökert. Mehdorn und auch Grube haben im großen Stil Volksvermögen zerstört und sind selber dabei reich geworden: Als Mehdorn wegen Bespitzelung von Mitarbeitern und Journalisten gehen musste, bekam er 6 Mio. Euro Abfindung. Als Grube keine Lust mehr hatte und plötzlich aufhörte, bekam er 3 Mio. Euro. Einfach so. Verrückt! Das ist für die einfachen Bahnmitarbeiter, die für ein geringes Gehalt täglich die Wut ihrer Fahrgäste abkriegen, natürlich äußerst frustrierend. Und viele haben schon lange innerlich gekündigt. Aber all die Bahnchefs waren und sind nur Exekutoren jener Kräfte, die unsere Gesellschaft im Sinne des Neoliberalismus umformen wollen. Der Zustand der Bahn zeigt nur besonders krass, was in unserem Land schiefläuft.
Was läuft schief?
Am Zerfall der Bahn zeigt sich, dass sich der Staat verabschiedet hat vom Gedanken des Gemeinwesens und Gemeinwohls. Er betrachtet es nicht mehr als seine primäre Aufgabe, sich wirklich um seine Bürger zu kümmern. Sich um alle seine Bürger zu kümmern – egal ob in der Stadt oder auf dem Land, ob gut oder schlecht verdienend, ob reich oder arm. Er ist kalt geworden. Roh. Dass die Agenda 2010, die Demontage des Sozialstaats, und die Demontage der Bahn nahezu zeitgleich stattfanden, ist wohl kein Zufall. So haben in den vergangenen 25 Jahren alle Bundesregierungen wohlwollend zugeschaut, wie die Deutsche Bahn AG sich vom grundgesetzlich vorgeschrieben Auftrag, dem Gemeinwohl zu dienen, verabschiedet hat: über 100 Mittel- und Großstädte wurden vom Fernverkehr abgehängt, darunter Chemnitz, Potsdam, Krefeld, Heilbronn, Bremerhaven, Trier, Gera, Dessau und Bayreuth. Für rund 17 Mio. Bürger wurde somit das Bahnfahren schwieriger und unattraktiver. Attraktiv solle das Bahnfahren vor allem auf den teuren Rennstrecken zwischen den Metropolen sein – für die Business-Leute. Die Menschen auf dem Land? Nicht so wichtig.
Warum geschah das?
Verkehrspolitik bedeutet in Deutschland: Stärkung des Autoverkehrs. In den vergangenen 25 Jahren wuchs das Straßennetz um gut 50 % von 600.000 auf 900.000 km, während das Schienennetz um 25 % auf heute 33.000 km schrumpfte. Die Autos wurden immer komfortabler, die Züge sind oft unkomfortabler. Beispielsweise sind die Sitzabstände des ICE-4 in der 2. Klasse im Vergleich zum alten ICE-1 um 15 % geschrumpft. Da wird das Reisen zur Tortur. Zudem gibt es weniger, dafür aber deutlich kleinere WCs, keine kleinen Abteile mehr, keine individuellen Leselampen und keine Fußstützen mehr. Saßen im ICE-1 in jedem Wagen 66 Personen, so sind es nun 88. Man ist kein Reisender mehr, sondern eher ein Stück Frachtgut. Zurzeit verkürzt die Bahn in Bayern viele Bahnsteigüberdachungen. Setzt sie darauf, dass der Klimawandel weniger Regen und Schnee bringt?
Bei großen Bahnhöfen gab es ehrgeizige Umbaumaßnahmen.
Protz in den Metropolen, Ruinen auf dem Land. Unsäglich viel Geld verschlingen schädliche Großprojekte: schädlich für den Verkehr, schädlich für die Ökologie, schädlich für die Ökonomie. Wie „Stuttgart 21“. Dort wollten sich ehrgeizige Bahnmanager und Politiker ein Denkmal setzen – auf Kosten des Bahnverkehrs, auf Kosten der Bürger, auf Kosten der Sicherheit und auf Kosten der Umwelt. Die völlig aus dem Ruder laufenden Kosten gefährden nun sogar die Existenz der verschuldeten Bahn AG. Ich habe bereits 2010/11 auf der Basis bahninterner Dokumente vorhergesagt, dass „Stuttgart 21“ über 10 Mrd. Euro kosten wird und auch nicht, wie damals fest versprochen, 2018/2019 fertiggestellt sein würde – so gut wie niemand wollte mir das damals glauben, und die Bahn AG verspottete mich als unverantwortliche Kassandra. Doch die für dieses verheerende Projekt Verantwortlichen wussten – mussten es wissen! –, dass der offizielle Kostenvoranschlag von 4,5 Mrd. Euro, der vor der Volksabstimmung 2011 verkündet wurde, nicht stimmt. Dass sie nun heute angesichts des sich abzeichnenden ökonomischen Debakels völlig überrascht tun, ist Heuchelei.
Was ist an „Stuttgart 21“ aus ökologischer Sicht auszusetzen?
„Stuttgart 21“ ist ein staatlich geduldeter und finanzierter Ökofrevel. Der Bau von 1 km Bahntunnel setzt so viel CO2 frei wie 26.000 Autos im Jahr hinauspusten, wenn sie jeweils 13.000 km fahren. Für „Stuttgart 21“ werden allein in Stuttgarts Untergrund 60 km Tunnelröhren gebuddelt. Dazu kommt noch die Neubaustrecke nach Ulm, die auch zu großen Teilen durch Tunnel führt – durch Tunnel, die vom tiefsten Punkt der Strecke auf den höchsten Punkt gehen, also extrem steil sind. Im Klartext: Die Loks schnaufen und schwitzen in den Tunneln den Berg hinauf, sie verbrauchen vor Anstrengung wahnsinnig viel Energie. Ich habe es für mein Buch von einem Experten ausrechnen lassen: Der Mehrverbrauch allein dieser Strecke verschlingt so viel zusätzlichen Strom wie eine Stadt mit 35.000 Einwohnern im Jahr verbraucht. Prinzipiell gilt: In Tunneln pulverisiert sich der Öko-Bonus der Bahn. Der Energieverbrauch bei Fahrten in einem eingleisigen Tunnel ist doppelt so hoch wie bei oberirdischen Fahrten. „Stuttgart 21“ wird aber noch aus anderen Gründen für immer ein Risikobau sein. Ein Problem, das fast tabuisiert ist: Feinstaub im Bahnverkehr. Die am Stuttgarter Neckartor ermittelten Feinstaubwerte haben dazu geführt, dass es in Stuttgart seit Anfang 2019 ein flächendeckendes Fahrverbot für ältere Dieselautos gibt – der Gesundheit wegen. Die Feinstaubbelastung im Tiefbahnhof „Stuttgart 21“ wird jedoch viel höher liegen. Denn die schweren Züge werden den Tiefbahnhof oft durch lange, steile Tunnel anfahren. Und die Bremsbeläge werden dort so belastet, dass sie heiß werden und qualmen. In der Bahnhofshalle wird es fürchterlich stinken. Der Aufenthalt in der Tiefe wird gesundheitsgefährdend – für die Reisenden und noch sehr viel mehr für die dort Arbeitenden. Als ich das Gesundheitsministerium und das Verkehrsministerium mit dem von Wissenschaftlern befürchteten Szenario konfrontierte, erhielt ich keine Antworten, nur den Rat, mich an die Bahn zu wenden. Und die sagte lapidar: „In Bahnhöfen gibt es keine Grenzwerte für Feinstaub.“
Was ist an der Sicherheit bedenklich?
Ein Brandschutzexperte, den ich das aktuelle Brandschutzkonzept durchchecken ließ, sprach von einer Katastrophe mit Ansage. Wörtlich sagte er: „Stuttgart 21 hat das Potenzial, Europas größtes Krematorium zu werden.“ Das Brandschutzkonzept, monierte er, sei völlig ungenügend. Die Fluchtwege in der Tiefe sind zum Teil nur 90 cm breit. Im Katastrophenfall werden sich die verzweifelt fliehenden Menschen dort stauen, Panik wird um sich greifen, und Rollstuhlfahrer haben sowieso überhaupt keine Chance. Erstaunlich, dass die Behindertenverbände bisher nicht rebellieren.
Warum wird so ein Projekt trotz aller Mängel realisiert?
Der Münchener Verkehrsexperte Karlheinz Rößler, ein in Fachkreisen überaus angesehener Experte, ist der Meinung, die Bahn sei bloß noch zum Schein ein Verkehrsunternehmen, in Wirklichkeit aber ein Betrugsunternehmen der Betonindustrie. Nur so, sagt er, lassen sich die überteuerten Großprojekte der vergangenen Jahrzehnte erklären. Es ist tatsächlich bizarr: Das Bahnnetz ist, wie gesagt, in den vergangenen Jahren dramatisch geschrumpft, aber die Zahl der Tunnel ist zwischen 2008 und 2018 dramatisch angestiegen: von 675 auf 793. Und die Gesamtlänge aller Tunnel hat sich fast verdoppelt: von 490 auf 763 km. Nutznießer dieser Entwicklung sind vor allem die Betonindustrie und die Tunnelbauunternehmen. Der Bau eines Tunnels kostet bei optimalen geologischen Bedingungen mindestens 50 Mio. Euro/km, bei nicht optimalen Bedingungen wie etwa beim Tunnelbau von Wendlingen nach Ulm auch schon mal über 100 Mio. Euro/km. Eine oberirdisch verlaufende Gleisstrecke dagegen kostet im Normalfall 12 Mio. Euro/km. Und nun wird es noch bizarrer: Neubauten – im Gegensatz zum Erhalt von der Infrastruktur – kosten die Bahn nichts, das zahlt der Steuerzahler direkt. Aber die Bahn streicht für ihre Planungsaufsicht bei Neubauten bis zu 20 % der Bausumme ein. Die Bahn AG hat also ein großes Interesse daran, dass diese Neubauten teuer werden, denn das verbessert ihre miesen Bilanzen. Der Bundesrechnungshof hat dies so oft wie folgenlos gerügt. Dieses volkswirtschaftlich irre Geschäftsmodell ist auch ein Grund, weshalb es für die Bahn AG lukrativ ist, Dinge verkommen zu lassen. Ist alles kaputt, muss neu gebaut werden – ideal für die Bahn AG, katastrophal für den Bundeshaushalt.
Wo ist anzusetzen? Was müsste vordringlich getan werden?
Die Bahn zu retten, ist eine Herkulesaufgabe für Jahrzehnte. All die erwähnten Missstände müssten beseitigt werden: Wir brauchen ein attraktiveres Preissystem, attraktivere Bahnhöfe, attraktivere Züge und attraktivere Streckennetze. Wie miserabel die Lage der deutschen Bahn ist, zeigt sich daran, dass das deutsche Streckennetz sofort um 25.000 km erweitert werden müsste, um auf Schweizer Standard zu kommen. Was eine Mindestanforderung für das Hochtechnologieland Deutschland wäre. Aber das lässt sich kaum mehr realisieren, denn: Es ist zu viel zerstört worden, wird weiterhin viel zerstört. Wertvolles Bahngelände wird teilweise zu Spottpreisen verkauft. Das ist dann weg – für immer. Wo früher Gleise und Rangierbahnhöfe waren, stehen Einkaufszentren, Büro- und Wohngebäude. 2017, in seinem ersten Amtsjahr, ließ Bahnchef Richard Lutz 344 Weichen abbauen, 242 Bahnhöfe schließen und 205 Haltepunkte wegfallen. Kürzlich wurde eine stillgelegte, aber für die Zukunft wichtige Strecke in Franken verkauft: die knapp 50 km lange Steigerwaldbahn. 570.000 m2 für 780.000 Euro – ein Schnäppchenpreis. Ein Schrotthändler hat die Strecke gekauft und reißt derzeit die Eisenschienen raus. Sie lernen nicht dazu. Sie machen weiter wie bisher. Im vergangenen Frühjahr wurde ein opulenter Ausbau von Autobahnen angekündigt, im vergangenen Frühsommer nahm die Lufthansa den Flugverkehr von Nürnberg nach München auf. Und Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer pries doch tatsächlich Flugtaxis als Mobilitätskonzept für die Zukunft an.
Was passiert mit dem vielen Geld, das die Bahn nun bekommen soll?
Es wird wohl nicht dem nötigen Ausbau des Bahnverkehrs auf dem Land zugutekommen, sondern weiterhin in verkehrlich und ökologisch unsinnigen Großprojekten verschwinden. Und in die Anschaffung eines neuen Signalsystems namens „ETCS“. Obwohl die Schweiz damit sehr schlechte Erfahrungen macht, wird es als alternativlos bezeichnet. Es ist sündhaft teuer. Seine Implementierung wird weit über 20 Mrd. Euro kosten – ein riesiges Subventionsprogramm für die Elektroindustrie. Und auf der Strecke bleibt ein vernünftiger Bahnverkehr.
Herr Luik, herzlichen Dank für das interessante Gespräch.
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