Ein junger, bislang unbekannter Produzent von Musik- und Comedyvideos ist seit kurzem prominentester Kritiker der Bundesregierung: Rezo. Eigentlich sollte der Bundespräsident kompetente Kritik üben und Debatten anstoßen. Doch das geschieht nicht mehr. – Screenshot: YouTube

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Politischer Megatrend: Anarchie

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Dass eine These „steil“ daherkommt, ist noch kein Beweis ihrer Ungültigkeit. Mannigfach sind die steilen Thesen, die es in die Wissenschaftsbücher geschafft haben – allen voran, die Erde sei ein Planet unter anderen und nicht Zentrum des Universums. Und jetzt diese These: Die Welt begibt sich allmählich in die Anarchie. Schauen wir uns das genauer an.

von Paul Holmes
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Der Rechtsstaat reicht nicht aus, um ein Gemeinwesen zu befrieden. In Deutschland haben wir im Bundesverfassungsgericht ein Staatsorgan, das sowohl zeitgemäß wie auch wirksam ist. Wenige andere Staaten der Welt leisten sich eine so effektive und quasi unabhängige Justiz. Mehr Beweis für ihre Wirksamkeit braucht man nicht, als dass sie gelegentlich Ziel von Schimpftiraden aus Richtung der Exekutive wird. Gut so. Aber diese Instanz stellt nicht einmal Gerechtigkeit fest, von Fairness gar nicht zu sprechen. Ihr Umfang beschränkt sich auf die Rechtmäßigkeit einer Sache.

Der Präsident der Europäischen Kommission, Jean-Claude Juncker, nähert sich dem Ende seiner Amtszeit. Er ist offensichtlich weniger bereit, die Mitgliedsstaaten mit Kritik zu verschonen. Ende des Jahres 2018 nannte er es eine „himmelschreiende Heuchelei“, dass diese die Frontex-Pläne der Kommission, die EU-Außengrenzen besser zu schützen, plötzlich mit Macht- und Geldvorbehalten durchkreuzen.

Jener Ausbruch im „fernen Brüssel“ wird in den Regierungen der europäischen Hauptstädte wohl wenige interessiert haben. Juncker sei schließlich keine moralische Instanz, also lassen wir ihn doch toben – so in etwa der Tenor. Aha. Könnte es sein, dass die Menschheit doch jemanden braucht, der ihr in regelmäßigen Abständen die Leviten liest? Die Werte, die man als wertkonservativer Mensch sucht, sind laut Ernst-Wolfgang Böckenförde die sozialen Normen des Zusammenlebens, mit denen sich jede Gesellschaft umgibt. Aber solche Normen werden selten rechtlich kodifiziert. Sie sind der Knigge des Alltags, die unausgesprochen dazu dienen, Reibungsverluste zu minimieren. Und diese entstehen zumeist, wenn sich jemand oder eine Gruppe von Menschen ungerecht behandelt fühlt. Dafür kann das Bundesverfassungsgericht nichts. Wer dann?

Es gehörte einst zum Selbstverständnis des Bundespräsidialamts, gesellschaftliche Schieflagen frühzeitig zu erkennen und wortgewaltig anzusprechen. Sowohl Theodor Heuss wie auch Richard von Weizsäcker verstanden es, soziale Missstände zu identifizieren und zu „politisieren“. Das ging den herrschenden Politikern oft zu weit – und gut so. Der Bundespräsident konnte und durfte nicht selbst politisch aktiv werden, aber er hatte für sich ein moralisches Gewicht im Staate ausbedungen, das eine Antwort der politischen Klasse regelrecht erheischte. Bundespräsidenten wurden zu „Vätern“ der Nation.

Mit großer Weisheit umgab sich die Menschheit mit vielen solchen apolitischen Instanzen, die als „einsame Rufer in der Wüste“ das Geziemende einklagen sollten: historisch gesehen das Papsttum, das Kaisertum, die Diözesanbischöfe, in neuerer Zeit der Generalsekretär der Vereinigten Nationen, der Präsident der Europäischen Kommission. Wenn ein Innozenz III., ein Sigismund von Luxemburg, in der Neuzeit ein Kofi Annan, ein Jaques Delors Empfehlungen aussprachen, wusste die Politik mit Respekt darauf zu reagieren. Sie hatten keine eigene Macht, dafür aber moralisches Gewicht. Wer ruft denn in unseren Tagen zur Ordnung?

Auf wen hört unsere Politik? Antwort: Auf keine „moralischen Instanzen“ mehr! In den Regierungen Europas hat man es sich bequem gemacht. Konstitutionelle Störenfriede wurden mittels politischen Einflusses „gezähmt“: darum ein José Manuel Barroso, ein António Guterres, ein Frank-Walter Steinmeier, eine Königin Elisabeth II. Mit auffälliger Geräuschlosigkeit walten diese ihres Amtes, unterschreiben treubrav die Gesetze. Doch die Missstände, selbst wenn nur „gefühlt“, nehmen in allen westlichen Gesellschaften zu: die Arm-Reich-Schere, die Plünderung und Verwüstung unserer Umwelt, das Mikromanagement des Individuallebens durch die Behörden. Die Politik hört lieber auf die Lobbys, sieht sich als verlängerten Arm der einheimischen Industrie. Doch die Industrie kennt keine Moral, nur ärgerlich-einschränkende Gesetze. Sie fühlt sich sogar in der nunmehr entmoralisierten Welt immer sicherer und fordert zum Beispiel für einen politisch bedingten Rückgang im Waffenexport Schadensersatz.

Doch der Souverän ist laut Grundgesetz das Volk, das durch legitime Wahl diese Politik gefordert hat. Weil das Verhältnis zwischen Regierung und Volk „Versprechen“ und nicht „gesetzliche Verpflichtung“ ist, kann man beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe gegen einen Bruch des Koalitionsvertrags keine Rechtsmittel einlegen. Es ist Sache der öffentlichen Moral, solche Versprechen einzuhalten. Passiert das nicht, gibt es mittlerweile weit und breit niemanden mehr, der eine Regierung ermahnend daran erinnert und dann auch noch gehört wird. Das, und nicht die Gesetzlosigkeit, ist der Weg in die Anarchie.

Wer jetzt den Ruf nach dem „starken Mann“ heraushörte, übersah womöglich die Persönlichkeiten jener, die exemplifiziert wurden: Es war von einem Frank-Walter Steinmeier und von einer Elisabeth II. die Rede. Das sind nicht einmal Kryptoautokraten. Ausschlaggebend ist, dass Oberhäupter weiterhin keine Macht besitzen, dafür aber Einfluss. Aus Angst vor Repressalien seitens der demokratisch Gewählten wird von diesem Einfluss in unseren Tagen kein Gebrauch mehr gemacht. Eine solche „Retourkutsche“ in Deutschland wären Verlautbarungen der Irritation seitens des Regierungssprechers (mit einhergehender medialer Verwertung), in England die regelrechte „konstitutionelle Krise“. Doch wem der moralische Kompass abhandengekommen ist, dem droht die gesellschaftliche Ziellosigkeit. Und allgemeine Ziellosigkeit: Das ist die Anarchie.

 

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