EU-Handelspolitik: Hunger in der Welt
9. März 2019
Eigentlich arbeiten in Entwicklungsländern die meisten Menschen immer in der Landwirtschaft. Doch in Afrika z.B. schwemmte die EU den Lebensmittelmarkt mit ihren hochsubventionierten Überschüssen. Das drückt dort die Preise und Einkommen, zerstört gewachsene Strukturen – und Zukunftsperspektiven. So erzeugt die EU Fluchtursachen.
Im Jahr 2017 stieg die Zahl der Milliardäre so stark an wie nie zuvor: jeden zweiten Tag einer mehr. 82 % des neu entstandenen Vermögens gingen an das reichste 1 % der Weltbevölkerung, während die ärmere Hälfte überhaupt nichts davon bekam. Die ungenügend bezahlte Arbeit von vielen erschuf den Reichtum einiger weniger: eine gefährliche Situation. Was das für die betroffenen Menschen bedeutet, zeigen die folgenden Zahlen:
Die Welthungerhilfe und das World Food Programme geben an, dass 2016 rund 795 Mio. Menschen unterernährt waren. Das sind mehr als 10 % der Weltbevölkerung. Jedes Jahr werden bis zu 20 Mio. untergewichtige Kinder geboren. Denn mangelernährte Mütter gebären oft mangelernährte Kinder. Dazu kommt noch der „verborgene Hunger“: Wegen eines Vitamin- oder Mineralstoffmangels (vor allem von Eisen, Jod, Zink oder Vitamin A) können sich Kinder körperlich und geistig nicht richtig entwickeln. Auch für Erwachsene besteht eine hohe Lebensgefahr. Davon sind rund 2 Mrd. Menschen betroffen. Dabei kostet eine Schulmahlzeit mit wichtigen Vitaminen und Nährstoffen lediglich 20 Cent. 98 % der weltweit hungernden Menschen leben in Entwicklungsländern, 60 % in Äthiopien, Tansania, China, Bangladesch, Indien, Pakistan und Indonesien. In Afrika müssen bis zu zwei Drittel der Bevölkerung mit weniger als 1 US-Dollar pro Tag leben. Aber mindestens 1 Mrd. Menschen leidet an Übergewicht und krank machender Fettleibigkeit.
Systembedingte Ungleichverteilung der Nahrungsmittel
Diese unvorstellbare Katastrophe darf uns nicht kaltlassen. Die Ursachen müssen untersucht und bekämpft werden. Denn unser Wirtschaftssystem und unser Lebensstil sind die wichtigsten Gründe dafür, wie im Folgenden gezeigt wird. Auch das Erbe der Kolonialherrschaft spielt insofern eine Rolle, als in vielen Ländern lange keine politische Elite heranwachsen konnte und deshalb Misswirtschaft und Korruption weiter verbreitet sind als anderswo.
Glücklicherweise hat sich die Situation in den letzten Jahren vor allem durch den Anbau von leistungsfähigeren Pflanzensorten etwas verbessert: Nach Angaben des World Food Program ist die Zahl der unterernährten Menschen zwischen 1990 und 2016 um etwa 216 Mio. gesunken. Auch die Zahl der jährlichen Todesfälle von Kleinkindern ging zwischen 1990 und 2015 weltweit von 12,7 Mio. auf knapp 6 Mio. zurück. Rund die Hälfte davon starb an Unterernährung. Mit anderen Worten: Trotz dieser Verbesserung haben wir zurzeit immer noch jede Minute mehr als 6 tote Kleinkinder infolge einer Mangelernährung.
Diese Hungerkatastrophe müsste nicht sein. Man kann sie nicht mit einer Überbevölkerung auf der Erde erklären. Wären nämlich die Ernteerträge weltweit gleichmäßig verteilt, könnte jeder Mensch 2.891 Kilokalorien (kcal) am Tag bekommen. Diese Zahl ist ein Skandal. Denn schon gut 2.000 kcal reichen für die Ernährung eines Menschen aus. Würde es sogar gelingen, die Verluste beim Transport, der Lagerung, im Handel und in den Haushalten zu vermeiden, und würde man keine Nahrungsmittel an Tiere verfüttern oder zu Kraftstoffen verarbeiten, hätte jeder Mensch mehr als 4.600 kcal am Tag zur Verfügung. Das bedeutet: Selbst wenn die Bevölkerung der Erde noch stark zunimmt, müsste niemand hungern.
Wenn wir also den Hunger auf der Welt bekämpfen wollen, müssen wir unseren Lebensstil ändern: Wir sollten mit den Nahrungsmitteln sorgfältiger umgehen und unser Speisezettel müsste weniger Kaffee und Kakao, vor allem aber weniger Fleisch enthalten. Denn Tiere verbrauchen sehr viel Futter, bis sie schlachtreif sind: Bei Geflügel sind es doppelt so viele Kalorien (also Nährwert), wie später das Fleisch enthält, bei Schweinen und Zuchtfischen dreimal so viele und bei Rindern das Siebenfache, wobei allerdings ein Teil des Futters aus Gras von Wiesen besteht, auf denen ein Nahrungsmittelanbau nicht möglich ist. Bei Milch und Eiern ist es nicht besser: Auch sie enthalten nur rund ein Drittel der Kalorien, die man für das Futter der Tiere benötigt.
Das sind abstrakte Zahlen. Was sie konkret bedeuten, sieht man daran, dass weltweit rund 80 % der landwirtschaftlichen Nutzfläche Weideland ist oder für den Futtermittelanbau genutzt wird. So wird in vielen Gegenden Südamerikas hauptsächlich Soja für die Tierzucht in Europa angebaut. Deshalb steht dort nicht genügend Nahrung für die Bevölkerung zur Verfügung. Der Erlös dieses Exports kommt aber nicht der einheimischen Bevölkerung zugute, sondern Großgrundbesitzern und den Agrokonzernen, die das Soja produzieren, exportieren und vermarkten.
Systematische Ausbeutung durch Freihandelsabkommen
Einer von mehreren Gründen für diese Zustände sind die „Economic Partnership Agreements“ (EPAs) und die Freihandelsabkommen mit der EU: Die Staaten verpflichten sich, alle Beschränkungen beim Landkauf abzuschaffen, etwa durch Agrarkonzerne, die nur für den Export und nicht für die Ernährung der eigenen Bevölkerung produzieren. Außerdem müssen sie viele Importe von Nahrungsmitteln praktisch zollfrei ins Land lassen. Auf diese Weise exportiert die EU vor allem Milch- und Getreideprodukte sowie Hühnerfleisch nach Afrika. Diese Länder werden von unseren Erzeugnissen, die oft von minderer Qualität sind, regelrecht überschwemmt. Da deren Produktion in Europa und in den USA hoch subventioniert wird, können die einheimischen Bauern damit nicht konkurrieren.
Zwischen 1999 und 2004 wurden dadurch z. B. in Kamerun 92 % der lokalen Geflügelproduzenten verdrängt und etwa 110.000 Arbeitsplätze gingen verloren. Die Bauern in Afrika haben dann nur noch die Wahl, entweder selbst für den Export zu produzieren oder ihr Land an einen Agrarkonzern zu verkaufen, und dann auf ihrem früheren Grund als unterbezahlte Arbeiter so wenig zu verdienen, dass es nicht reicht, damit eine Familie zu ernähren. Aber selbst wenn sie ihr Land behalten und für den Export Soja, Weizen, Kaffee, Kakao, Südfrüchte oder Blumen pflanzen, sind sie meistens nicht besser dran. Denn gewöhnlich gibt es nur eine einzige Firma, die ihre Waren aufkauft und exportiert, bestenfalls zwei. Diese diktieren dann den Preis.
Ende 2015 wurden auf der 10. Ministerkonferenz der Welthandelsorganisation in Nairobi die Bedingungen für die Bauern verschärft, sodass sie sich praktisch nicht mehr in Genossenschaften zusammenschließen können, um Mindestpreise für ihre Produkte festzulegen. Und den Staaten wurde ausdrücklich verboten, Mindestpreise festzulegen. Die Kartellbildung der Exporteure stellte dagegen niemand infrage. Es war eine Schande zu sehen, wie sich dort die Europäische Handelskommissarin Cecilia Malmström und der Verhandlungsleiter der US-amerikanischen Delegation Michael Froman (ein Mitglied des Council on Foreign Relations und der Trilateralen Kommission) gegenseitig die Bälle zuspielten.
Die Welthandelsorganisation hat auch verboten, dass die Länder Südost-Asiens große Nahrungsmittelvorräte anlegen. Diese sind nötig, weil dort das Wachstum der Pflanzen davon abhängt, wann der Monsun beginnt. Kommt er zur falschen Zeit oder fällt er ganz aus, reichen die Ernten nicht aus, um die Bevölkerung zu ernähren; es kann zu einer Hungersnot kommen. Für solche Fälle haben einige Länder begonnen, große Nahrungsmittelvorräte anzulegen. Auf diese Weise wird der enorme Preisanstieg verhindert, der immer mit einer Nahrungsmittelknappheit verbunden ist. Das stört aber die Spekulanten, die von den überhöhten Preisen profitieren. Durch das Verbot der großen Nahrungsmittelvorräte nimmt die Welthandelsorganisation bewusst Hungerkatastrophen in Kauf. Nach dem heftigen Protest der betroffenen Länder unter der Führung Indiens hat man sich wenigstens darauf geeinigt, dass wegen der Vorräte vorerst kein Schiedsgerichtsverfahren eröffnet wird, bei dem es um Milliarden Euro Schadensersatz an die Spekulanten gehen würde.
Ein weiteres großes Problem sind die Fischereiabkommen, die die EU mit vielen afrikanischen Ländern abgeschlossen hat. Ein Flüchtling aus Westafrika hat das im deutschen Fernsehen ungefähr so erklärt: „Ihr fischt mit euren Fischereiflotten unser Meer leer. Für uns bleibt nichts übrig. Und jetzt kann ich nicht in Deutschland bleiben. Ihr schickt mich als Wirtschaftsflüchtling wieder nach Hause.“ Die EU zahlt zwar etwas Geld an die Staaten, vor deren Küsten sie die Meere leer fischt. Davon kommt aber so gut wie nichts der Bevölkerung zugute.
Die Freihandelsabkommen bringen für diese Länder noch ein weiteres Problem: Dadurch, dass Industriegüter zollfrei importiert werden, kann sich keine eigene Industrie entwickeln – außer man würde so viel Geld investieren, dass die Produkte sofort auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig wären. So gibt es in den ärmeren Ländern bestenfalls Montagewerke für Industriegüter, in denen man den geringen Lohn der Arbeiter ausnützt.
Vielleicht erinnern sich noch einige ältere Leser, dass in den 1970er-Jahren für damalige Verhältnisse leistungsfähige Computer aus den USA, aber auch aus Deutschland auf dem Markt waren. Damals erhob Japan so hohe Zölle auf deren Einfuhr, dass sie sich auch große Unternehmen und Institute nicht leisten konnten. Stattdessen mussten sie japanische Produkte verwenden, über die wir damals nur lachten. Der Erfolg dieser Maßnahme ist bekannt: Durch den so erzwungenen heimischen Markt wurde ein ausreichender Absatz erreicht, der die nötigen Erfahrungen und vor allem das Kapital für weitere Entwicklungen brachte. Heute sind japanische Computer aller Art auf den globalen Märkten zu finden. Das wäre sicher nicht möglich, wenn Japan damals wegen eines Freihandelsabkommens keine Schutzzölle erhoben hätte.
In einigen Fällen hat die EU afrikanische Länder geradezu erpresst, ein Freihandelsabkommen abzuschließen. Hätten sie sich geweigert, wären sie total isoliert gewesen. Selbst der Handel mit ihren Nachbarländern wäre schwierig geworden, weil diese eine weitgehende Zollunion mit der EU hatten. Heute kann aber kaum noch ein Land völlig autark sein.
Dieser Artikel ist ein Kapitel aus dem Buch „Diktatur der Märkte“. Mit freundlicher Genehmigung des Verlags darf es in der ÖkologiePolitik veröffentlicht werden. Es wurde hierfür geringfügig überarbeitet.
Buchtipp
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Aufbruch in die sozio-ökologische Wende
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Onlinetipp
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Flucht, Vertreibung und Hunger
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