Ökologie und Özil
16. August 2018
Der Fall Özil beschäftigt Deutschland und ist weit tiefgründiger geworden als die Frage, wie es mit dem Deutschen Fußball-Bund weitergeht. Er geht weit über den Fußball hinaus und greift in die Substanz des Selbstverständnisses der modernen Bundesrepublik Deutschland: Gibt es das „Wir sind Deutschland“ noch?
Plötzlich ist sie da, die Integrationsdebatte, in einem Land, das sich im vergangenen Jahrzehnt durchaus zum Moralisierer in Europa und auch global entwickelt hatte, beflügelt vom Sommermärchen 2006 und von der Willkommenskultur 2015, die unser Land zu einem größeren Magneten für Migranten gemacht hat, als es die klassischen Einwanderungsländer USA, Australien und Kanada sind. Deutschland wurde – laut BBC – zum anerkanntesten und beliebtesten Land weltweit. Deutschland wurde zum unangefochtenen „Leader“ in der EU, nichts ging in Brüssel ohne oder gar gegen Berlin. Vorbei? Özils international viel beachtete Abrechnung jedenfalls, aber auch Seehofers irrlichternde Selbstzerstörung haben den entsprechenden Nimbus Deutschlands jäh gebrochen. Hat Deutschland mit seiner Moralisierung übertrieben? Was ist schiefgelaufen?
Die Kirche im Dorf lassen
Das eigentliche Problem der deutschen Debatte liegt in der Vermengung der bislang erfolgreichen Integrationsbemühungen Deutschlands mit der aufgeheizten Migrationsdebatte, die durch manche Politiker für eigene Wahlzwecke fahrlässig missbraucht wird.
Grundsätzlich hatte sich von Greifswald bis Freiburg eine Integrationskultur entwickelt, die durchaus den Begriff „Heimat“ für die nunmehr Integrierten öffnete. Mittlerweile hat ein Viertel aller Bundesbürger einen sogenannten Migrationshintergrund, Tendenz wegen des Rückgangs der autochthonen Gesellschaft steigend. Laut Statistischem Bundesamt hat von diesem Viertel rund die Hälfte die deutsche oder die doppelte Staatsbürgerschaft. Letztere mag ihren Teil dazu beigetragen haben, dass sich insbesondere junge Menschen aus der zweiten Generation nunmehr auch offen mit ihrer neuen Heimat identifizieren konnten. Darüber hinaus öffneten sich für Menschen mit Migrationshintergrund viele Türen auf allen Ebenen der beruflichen Weiterentwicklung. Ganz bewusst hat z. B. der öffentlich-rechtliche Rundfunk geradezu „Fernsehstars“ mit Migrationshintergrund aufgebaut. Auch die Fußball-Idole haben ihren Teil dazu beigetragen, eine stärkere Identifikation mit Deutschland auszulösen, die deutsche Nationalmannschaft war ein idealer Projektionsrahmen hierfür. Wichtig für eine gelungene Integration: Die Konzentration auf die deutsche Sprache und auf den Willen, zu diesem Land zu gehören, waren ausschlaggebend, nicht der Umgang mit dem Land der Ahnen.
Das galt auch für Özil (der bezeichnenderweise nur die deutsche Staatsbürgerschaft hat), solange er Leistung zeigte. Es galt im Übrigen auch für Podolski, der nie einen Hehl aus seiner Vorliebe für polnisches Essen und polnische Musik machte. Und jetzt gilt das plötzlich alles nicht mehr? Wegen eines unglücklichen Bildes und einer verkorksten Öffentlichkeitsarbeit des DFB? Wir sollten die Kirche im Dorf lassen! Deutschland ist nach wie vor eine Kulturnation von besonderem Rang mit herausragender Verantwortung für Europa und für die globale Entwicklung. Deutschland kann auch stolz auf das bislang Erreichte sein, wenn es um die Integration geht. Dieser Weg sollte allerdings weiter beschritten werden. Özil und Ökologie heißt an dieser Stelle zunächst einmal, aus der ökologischen Nachhaltigkeit auch die soziale Nachhaltigkeit abzuleiten. So wie wir im Bereich der Natur Prozesse durch sorgsame und fortgesetzte Pflege nachhaltig gestalten können, so können wir gesellschaftliche Prozesse durch Achtsamkeit verstetigen. Wir sollten unsere Integrationsbemühungen also unaufhaltbar fortsetzen, selbst ein In
nehalten birgt die Gefahr, dass sich mancher enttäuscht und zurückgewiesen wähnt. Mesut Özil glaubt zu fühlen, dass er hängen gelassen wurde. Zwar hat er durch seine mangelnde Kommunikation wesentlichen Anteil daran, aber ich kann ihm in gewisser Weise nachfühlen: Mir wurde als Sohn einer deutschen Mutter und eines griechischen Vaters kurzzeitig die deutsche Staatsbürgerschaft anlässlich meiner Hochzeit wegen eines Bürokratievorfalls entzogen. Plötzlich gehörte ich nicht mehr dazu, obwohl ich doch bislang Teil dieser Gesellschaft war. Ein schreckliches Gefühl, das in meinem Fall glücklicherweise bürokratisch geheilt werden konnte. Aber die moralische Zurückweisung, die jetzt Hundertausende Deutsche empfinden mögen, nur weil sie – Özil ähnlich – Gefühle für die Heimat der Eltern haben, könnte gravierende Ausmaße annehmen. Wir sollten andererseits Özils Rassismusvorwurf nicht unkommentiert lassen. Zu einem großen Teil hat er sich durch sein Verhalten selbst in die Bredouille gebracht, in die er jetzt nicht das ganze Land ziehen sollte. Um es klar zu sagen: Nicht jeder, der Özils Verhalten kritisiert, ist ein Rassist. Wir sollten uns diese vermeintliche Korrektheitsdebatte nicht aufdrängen lassen.
Integration aufgrund geteilter Werte und Regeln
Wehret also den Anfängen einer lange schwelenden und plötzlich akut erscheinenden Desintegration. Leider ist diese aber tatsächlich gerade in einer Zeit zu spüren, wo der NSU-Prozess aus der Sicht der Betroffenen unzureichend gehandhabt wurde. Wo abscheuliche AfD-Parolen Eingang ins hohe Haus des Deutschen Bundestages finden. Politik sollte sich jetzt nicht in Rechts-/Links-Debatten verheddern und die Menschen, um die es geht, aus den Augen verlieren. Klare Kante, pragmatisch und auch vernünftig: Wir sollten alle hier bei uns akzeptieren und voll integrieren, die
- zur Kooperation bereit sind und anderen Kulturen in unserem Land grundsätzlich tolerant gegenüberstehen,
- unser Grundgesetz und unsere europäischen Werte anerkennen,
- sich in unser Bildungssystem einbringen und an ihm teilnehmen,
- sich an die anerkannten hiesigen Regeln halten und
- letztlich mit Einsatz und Fleiß nachweislich am gesellschaftlichen Erfolg mitarbeiten.
Das Thema Ökologie kommt erneut ins Spiel, wenn wir Integration und Migration unzulässig vermischen. Seien wir ehrlich: Die Asyl- und Migrationsdebatte überfordert viele Parteien (auch uns als ÖDP!), weil sie nicht pragmatisch, sondern einerseits moralisierend-verklemmt und andererseits nationalistisch-abgrenzend geführt wird. Außerdem werden die Themen Asyl und Migration fahrlässig (insbesondere durch die CSU, durch rechtsextreme Parteien sowieso) miteinander vermengt. Als ÖDP sollten wir zunächst die klare Unterscheidung zwischen beiden Themen anmahnen und dann aber den Nachhaltigkeitsgedanken auch bei diesem Thema in den Vordergrund stellen.
Asyl (betrifft die allerwenigsten Migranten) ist und bleibt schützenswert und sollte nicht angetastet werden. Da dieses Prinzip so „heilig“ ist, sollten gleichwohl die Verfahren beschleunigt werden. So stellt man zum Beispiel in den Niederlanden jedem Asylbewerber einen Anwalt zur Verfügung und bringt das Verfahren innerhalb von vier Wochen zu einem Abschluss. Das Verfahren gilt als streng, aber fair. Asyl bleibt damit den Schwachen und Schutzbedürftigen vorbehalten, die es wirklich dringend brauchen.
Zu unterscheiden hiervon ist die Migration aus wirtschaftlichen oder auch aus ökologischen Gründen, die auch auf die Zerstörung von Lebensgrundlagen zurückzuführen ist. Sie hat es immer gegeben und sie wird es immer geben. Interessant ist die letztlich diskutierte Idee, den Asylschutz auf klimatisch bedingte Migration zu erweitern. So wird uns zum Beispiel eine viel größere Zahl von Migranten in Europa in naher und auch in ferner Zukunft aus Afrika erreichen wollen. Dies ist ein Kontinent, der massiv von klimatischen Veränderungen betroffen ist und gleichzeitig der letzte verbliebene Kontinent, wo die Bevölkerung in den nächsten zwei Jahrzehnten massiv (Vervierfachung!) wächst.
Europa kann zwar nicht alle Migrationswilligen hier aufnehmen, aber Europa hat durch seine Landwirtschaftspolitik (eines unserer ÖDP-Kernthemen) und Handelspolitik (dito, siehe TTIP) eine nachhaltige Kreislaufwirtschaft auf dem afrikanischen Kontinent zerstört, d. h. wir haben hier eine besondere Verantwortung. Aus dem ÖDP-Grundverständnis heraus gibt es also einen unmittelbaren Bezug zwischen der zerstörten Umwelt und Kreislaufwirtschaft auf dem Nachbarkontinent und der Migration. Würden die für uns entscheidenden Ur-Prinzipien ökologischer Nachhaltigkeit in Afrika beachtet, dann hätten dort mehr Menschen eine Lebensperspektive. Sowohl die Landwirtschafts- als auch die Handelspolitik der EU sind aber nach wie vor nicht darauf ausgerichtet, Märkte vor Ort zu entwickeln. Statt Fluchtursachen zu bekämpfen, versündigen wir Europäer uns weiterhin durch unsere gewinn- und konsumorientierte Wirtschaftsweise an einer nachhaltigen und gesunden Entwicklung Afrikas.
Konzentration auf Afrika
Es ist ein Erfordernis unserer Zeit, dass sich die EU auf den so wichtigen Nachbarkontinent Afrika konzentriert und endlich ein „Afrika-Konzept“ als Antwort auf die Migrationsproblematik erstellt. Hauptfokus: nachhaltige Lebensperspektiven vor Ort schaffen und damit Fluchtursachen bekämpfen. Neben dem Aufbau einer ökologischen Landwirtschaft in Verbindung mit regionalen Marktstrukturen ist aber auch die Produktion von erneuerbarer Energie ein Thema. Stichwort Desertec: Der deutsche Ingenieur Gerhard Knies entwickelte gemeinsam mit dem Club of Rome Anfang der 2000er-Jahre ein Konzept, im Norden des afrikanischen Kontinents Strom aus erneuerbarer Energie zu gewinnen. Zwar wurde das Projekt so wie geplant nie verwirklicht. Gleichwohl hat es Marokko geschafft, die weltweit größte Anlage für die Gewinnung von Strom aus Sonnenenergie zu bauen. Die Potenziale des sogenannten Maschrik-Raumes oder der gesamten MENA-Region (Middle East North Africa), aus Sonne Strom zu gewinnen, sind erstaunlich. Insgesamt würde die Fläche Spaniens mehr als ausreichen, um den Strombedarf der gesamten Welt nach heutigen Maßstäben zu decken. Eine Region, die heute entweder verarmt oder von Erdölexporten lebt, könnte zum Kraftfeld erneuerbarer Energieproduktion werden. Dies würde mehreren Generationen Berufs- und Arbeitsperspektiven eröffnen und gleichzeitig in Europa eine Wirtschaftsproduktion ohne Kohlenstoff ermöglichen.
Übrigens: Die ÖDP hatte diese Idee bereits vor weit mehr als 30 Jahren. Ich bin im „Tschernobyl-Jahr“ 1986 an meinem Studienort Bonn über ein Plakat der ÖDP zur Produktion von Solarstrom im Norden Afrikas auf dieses Thema aufmerksam geworden. Nach der entsprechenden Veranstaltung wurde ich Mitglied der damals noch jungen Partei. Manche Ideen müssen reifen, bevor sie verwirklicht werden können. Heute wären wir so weit!