Revolution in der Sackgasse
17. Juli 2018
1817 erfand ein Beamter die erste Laufmaschine und rumpelte damit 12,8 Kilometer durch Mannheim. Heute nennt sich diese Maschine das Fahrrad. Deutschland hätte Grund, diese Erfindung verkehrspolitisch zu würdigen, zumal ca. 300.000 Arbeitsplätze in diesem Industriezweig rund 20 Mrd. Euro Umsatz jährlich erwirtschaften. Doch obwohl das Rad boomt – Deutschland verschläft die notwendige politische Wende. Eine Momentaufnahme.
Trotz Dieselkrise, Klimakollaps und Verkehrsinfarkt – eine zukunftsweisende bundesweite Verkehrspolitik in Deutschland ist nicht in Sicht. Das wohl umweltfreundlichste Verkehrsmittel ist das Fahrrad, das sich gerade in Ballungsräumen einer steigenden Beliebtheit erfreut. Wer Fahrrad fährt, weiß: Die Straßen-Infrastruktur ist wie ein Platten im Reifen, denn sie bremst den steigenden Bedarf erheblich aus! Kaum vorhandene Radwege in vielen deutschen Städten, dazu in schlechtem Zustand, zugeparkt und nicht an die steigenden Bedürfnisse einer neuen Radfahrergeneration angepasst. Politische Lösungen hinken kilometerweit einem sich veränderten Mobilitätsverhalten hinterher, weil sich deutsche Verkehrspolitik viel zu einseitig am Wohl der Autofahrer orientiert. Dabei wäre mit sehr geringem finanziellen Aufwand viel zu erreichen. Auch im Jahr 2018 werden Radfahrer nicht ausreichend in der Verkehrspolitik gewürdigt. Das hat schwerwiegende Folgen für die Verkehrsentwicklung in Deutschland.
Die Verkehrspolitik hinkt dem Bedarf hinterher
Die Räder werden dank neuester Entwicklungen größer und schneller. Ob mit oder ohne Motor können sie Lasten bis zu 300 Kilogramm transportieren und dies ganz ohne Emissionen an Lärm und Abgasen. Internationale Studien zeigen: Wer die Infrastruktur für den Radverkehr stärkt, erntet eine Zunahme an gesundheitlich aktiven Pendlern, die sich auch über eine Verbesserung ihrer Sicherheit im Verkehr freuen. Weltweit entscheiden sich mehr und mehr Städte, in den Radverkehr zu investieren, denn er ist flächensparend und sehr umweltfreundlich und ermöglicht es, neue städtebauliche Konzepte zu realisieren. Da wir aber in Deutschland unsere Städte nicht neu bauen werden, ist der vorhandene Platz begrenzt. Ohne eine Verringerung der Park- und Straßenfläche für den motorisierten (Lasten-)Verkehr wird es nicht gehen. Selbst in Städten wie Berlin, mit breiten, um die Jahrhundertwende entstandenen Straßenzügen, tobt ein aggressiver Straßenkampf um Raum. Nicht selten verhalten sich dabei auch die Radfahrer rücksichtslos, doch lässt sich dieses Verhalten auf ein hohes Maß an Benachteiligung in der städtischen Infrastruktur zumindest teilweise zurückführen. Dies gilt im Übrigen auch für Fußgänger. Dieser Kampf um Raum ist oft ein Kampf um das Überleben, denn in Berlin sterben beispielsweise pro Jahr ca. ein Dutzend Radfahrer im Stadtverkehr, alle zwei Stunden passiert im Schnitt ein Unfall. Kein Wunder, dass sich gerade ältere Menschen nicht aufs Fahrrad trauen.
Lichtgestalt auf der Fahrradkarte: Kopenhagen
Die dänische Stadt Kopenhagen hat früh begriffen und setzt seit Jahrzehnten auf den Ausbau des Radverkehrs. Mit überwältigendem Erfolg: Gegenwärtig werden über 36 % des innerstädtischen Verkehrs auf mindestens 2,2 Meter breiten Radwegen zurückgelegt. Hinzu kommen Ampelschaltungen, die grüne Wellen bei Tempo 20 garantieren, also langsames (Rad-)Fahren begünstigen oder die kostenlose Mitnahme von Rädern in der S-Bahn. Aber auch eher ästhetische Maßnahmen symbolisieren die große Hingabe der Stadt zum Fahrrad, wie z. B. Mülleimer, die so konstruiert sind, dass man seinen Müll während der Fahrt einwerfen kann, oder Fußstützen vor Ampeln. Parallel dazu führte man eine City-Maut für den motorisierten Verkehr ein.
City-Maut versus Fahrverbote
In Deutschland ist die Rechtslage beim Thema City-Maut bisher unklar, die Regelungskompetenz für die Einführung einer City-Maut in einzelnen Städten liegt derzeit weder auf Bundes- noch auf Landesebene vor. Auch hat die CSU das Thema Maut politisch verbrannt. Dabei sind Mautsysteme gegenüber Fahrverboten die bessere Lösung, auch für Autofahrer. Auch alte Autos verlieren hierbei nicht so stark an Wert. Politisch hofiert man in Deutschland die Autoindustrie, mit freundlicher Unterstützung des ADAC, und versucht gute Vorschläge zu verhindern. Auch wird in der Diskussion über eine City-Maut immer wieder darauf verwiesen, dass solche Maßnahmen zur Verwaisung der Innenstädte führen würden. Dabei zeigen internationale Beispiele, dass dies so nicht richtig ist und die Attraktivität des Standorts Innenstadt gar effektiv gesteigert werden kann, wenn man das Verkehrsmittel Auto weniger stark in der urbanen Verkehrsplanung priorisiert. Prioritäten wandeln sich, wenn man die Infrastruktur oder die Kosten der Verkehrsteilnehmer verändert: In Stockholm sind mittlerweile 70 % der Bürger für die dort eingeführte City-Maut.Vor der Einführung waren 70 % dagegen. Umso mehr Leute auf ihr Auto verzichten, desto mehr Platz wird auf den Straßen frei. Platz, der nicht nur für den Radverkehr, sondern auch für Fußgänger, Begrünungen oder Cafés genutzt werden kann. Wer dennoch unbedingt ein Auto benötigt, sollte, wenn möglich, auch auf clevere Sharing-Modelle zurückgreifen können. Dabei muss das Ziel solcher Maßnahmen sein, alle Fahrzeuge so klein wie möglich zu halten. Gegenwärtig ist ca. jedes dritte in Deutschland verkaufte Auto ein SUV. In manchen Städten werden in der Folge hastig die Parkplätze für die PS-Monster vergrößert. Sowieso sind ganze Städte zugeparkt mit Autos. In Berlin kostet ein Bewohnerparkausweis (meistens ist das Parken innerhalb des S-Bahn-Rings komplett kostenlos) für ein Jahr sage und schreibe 20 Euro! Ein Kettenwechsel am Rad dürfte teurer sein.
Berliner Wende?
Im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg will die Post zukünftig Pakete auf den letzten fünf Kilometern mit Lastenrädern ausliefern. Ein spezielles Liegerad mit Motor und großer Transportbox wurde dafür entwickelt. Doch dieses Fahrrad wird auf den bestehenden Radwegen in große Schwierigkeiten geraten. Dabei ist gerade der stark gewachsene Lieferverkehr sehr für das Blockieren von Rad- und Fußwegen verantwortlich und fördert zudem unnötig das Verkehrsaufkommen in dicht besiedelten Räumen. Unter einer rot-rot-grünen Landesregierung und mit dem Druck eines geplanten Volksentscheids, verstärkt durch breiten zivilgesellschaftlichen Protest, hat sich Berlin seit Kurzem ein neues Mobilitätsgesetz geschrieben, das den neuen Bedürfnissen an die urbane Mobilität Rechnung trägt. AfD, CDU und FDP wetterten massiv dagegen. Auch in der SPD gab es große Vorbehalte, Bürgermeister Müller gilt nicht als Rad-Freund. Zwar wird das Berliner Mobilitätsgesetz noch vor der Sommerpause beschlossen werden, doch die Umsetzung des Gesetzes, das z. B. breite und gut gesicherte Radwege an allen Hauptverkehrsstraßen der Metropole vorsieht, Radschnellwege auf 100 km schaffen will und etliche Nebenstraßen in Fahrradstraßen umbauen will, quietscht enorm. In den Bezirken, die maßgeblich für den Bau der neuen Wege zuständig sind, wird mit längst überholten Gegenargumenten der Gang runtergeschaltet. Derweil sterben weiter Radfahrer, nicht nur auf den Straßen der Hauptstadt. In der dicht befahrenen, zwei Kilometer langen Oranienstraße in Berlin-Kreuzberg gab es zum Beispiel allein 2017 76 Radfahrerunfälle. Für einen kostenlosen Parkstreifen auf beiden Seiten der gesamten Straße ist gleichwohl noch genug politische Luft im Schlauch. Immerhin ist in Berlin das Thema mittlerweile in den verkehrspolitischen Fokus gerückt. In anderen Städten wie München oder Bamberg wird, teilweise auch mit ÖDP-Beteiligung, der zivilgesellschaftliche Druck massiv erhöht. Dagegen ist leider eine bundespolitische Steuerung unter Verkehrsminister und Autolobbyist Andreas Scheuer nicht zu erwarten. Dabei wäre eine Steigerung des Radverkehrs auch ein dickes Plus für genervte Autofahrer. Auch sie kämen schneller durch die Stadt, je mehr Menschen das Rad ihren mit einer Person besetzten Großraumkarossen vorziehen würden.
Radfahren ist beliebter denn je
Im September 2017 veröffentlichte die Bundesregierung den letzten „Fahrrad-Monitor“. Aus dieser repräsentativen Online-Befragung lässt sich gut ablesen, dass Fahrradfahren im mobilen Trend liegt. Das Rad wird von 77 % der Befragten zwischen 14 und 69 Jahren mindestens selten genutzt. Ein Drittel der Befragten nutzt das Fahrrad täglich oder mehrmals pro Woche. Jüngere (unter 29 Jahren) nutzen dabei das Fahrrad wesentlich häufiger als ältere Radfahrer. Bei den meisten Fahrradfahrern wächst die Beliebtheit dieses Verkehrsmittels. Die aktuelle Fahrradpolitik sehen die meisten Befragten aber sehr kritisch. Rund 87 % der Befragten erachten die Radpolitik der Bundesregierung auf einer Schulnotenskala als befriedigend oder schlechter. Die meisten Befragten wünschen sich mehr Radwege, sichere Stellplätze sowie eine Trennung der Radwege von Fußwegen. Besonders ältere Personen und Eltern mit Kindern fühlen sich auf dem Rad unsicher, dabei sind gerade diese Verkehrsteilnehmer, die sich aktuell mit dem Rad unsicher im Verkehr fühlen, der Ausrichtungsmaßstab einer sinnvollen Radverkehrsstrategie. Bei den im urbanen Raum zurückgelegten Wegen unter 5 Kilometern wird immer noch viel zu oft das Auto benutzt und dies bei Durchschnittsgeschwindigkeiten in deutschen Großstädten zwischen 15,5 km/h in Berlin und 19,8 km/h in Ulm. Das Sicherheitsempfinden hat sich Untersuchungen zufolge in den letzten Jahren auch kaum verbessert. Der Allgemeine Deutsche Fahrradclub (ADFC) konstatiert resigniert: „Seit Inkrafttreten des ersten Nationalen Radverkehrsplans (NRVP) 2002 stagnieren die Bundesmittel für den Radverkehr. Während der Straßenbau-Etat in Milliardenhöhe aufgestockt wurde, sanken die Mittel für den Ausbau und Erhalt von Radwegen an Bundesfernstraßen zwischen 2012 und 2016 sogar.“
CSU-Minister blockieren die Wende
Der verkehrspolitische Irrtum ist kein großes Wunder, denn seit 2009 steht an der Spitze des zuständigen Bundesministeriums ein autofreundlicher Mann mit CSU-Parteibuch. Von Ramsauer bis Dobrindt haben sie alle kläglich versagt, eine bundeseinheitliche Vision für den Radverkehr in Deutschland zu entwickeln. Garniert bekommt man diese rückwärtsgewandte Haltung mit Millionenspenden aus der Autoindustrie. Immerhin konnten sich die Verkehrsminister der Länder darauf einigen, einem Vorschlag aus dem Land Berlin zu folgen und die Bußgelder für Raser, Drängler, aber auch für gefährlich falsch geparkte Fahrzeuge endlich zu erhöhen. Denn die Rechtslage ist im Autofahrerparadies Deutschland mehr als absurd: Wer mehr als dreimal schwarzfährt, kann schnell ins Gefängnis wandern, während man täglich einen Rad- oder Fußweg gefährlich zuparken kann (Bußgeld: 10 Euro), ohne bei mehrfachem Vergehen auch nur einen Punkt in Flensburg zu erhalten. Auch sind andere Bußgelder absolut autofahrerfreundlich und bewegen sich im Preisbereich einer soliden Fahrradklingel. Die Polizeigewerkschaften fordern seit Langem, dass sich Bußgelder stärker an der Gefährlichkeit der Verstöße orientieren sollten.
Eine Hauptunfallursache für Unfälle mit Radfahrerbeteiligung sind Kreuzungen. Hier werden Radler schnell im Trubel des dichten Verkehrs übersehen. Auch beim Parken vergessen Auto- und Lkw-Fahrer gerne mal den Blick in den Spiegel. Die Folge sind Tausende Unfälle mit Toten und Schwerverletzten. In Berlin geschieht das mehrmals pro Woche. Unfälle zwischen PKWs und Radfahrern mit nur 15 km/h führen bei ca. 30 % zum Tod der Radfahrer. Dabei wäre die Lösung bei Abbiegeunfällen rein technisch kein Problem. Doch bisher sträubt sich Verkehrsminister Scheuer, eine generelle Umrüstpflicht mit entsprechenden Abbiege-Assistenten, die bereits für einige Hundert Euro zu erhalten sind, gesetzlich auf den Weg zu bringen. Auch ist es nur sehr schwer zu begreifen, dass Tag für Tag in Deutschland Straßen nach einer Modernisierung oder einem Neubau eröffnet werden, ohne dass man hier an den Radverkehr ausreichend gedacht hätte. Die zugeparkte Sackgasse ist noch sehr lang …
Und natürlich könnte auch bei den finanziellen Anreizen für den Umstieg auf das Fahrrad noch viel passieren: Das fängt bei bundeseinheitlichen Kaufanreizen für (Lasten-)Fahrräder an und ginge z. B. über die steuerliche Besserstellung von Diensträdern oder über eine Reform der Pendlerpauschale, denn hier sind Radfahrer mit dem motorisierten Verkehr gleichgestellt. Auch könnte eine Klagemöglichkeit für Bürger im Bereich Verkehrssicherheit den Druck auf die Politik erhöhen.
Im Bereich der Verkehrsüberwachung durch Ordnungsamt und Polizei muss ebenfalls noch sehr viel passieren. Hier mangelt es an der richtigen Wahrnehmung der Gefahrenquellen für Radfahrer im Verkehr durch die Bediensteten der öffentlichen Hand, aber vor allem auch an Personal. Im Berliner Mega-Bezirk Neukölln patrouillieren für die rund 330.000 Einwohner aktuell z. B. nur 9 Streifen des Ordnungsamts (OA) mit je 2 Personen pro Einsatzschicht den ruhenden Verkehr, nebst vielseitigen und wachsenden weiteren Aufgaben. Damit hat eine Neuköllner OA-Streife ca. 43 lokale Straßenkilometer zu überwachen. Der Riss der Fahrradkette ist leichter zu beheben.
Die radpolitische Wende ist relativ schnell möglich und kostet nicht allzu viel. Bei dieser Wende können alle Verkehrsteilnehmer nur gewinnen. Man müsste nur endlich die Ausfahrt aus der langen, mit Autos zugeparkten Sackgasse finden.
ONLINETIPPS
Ausstellung: FAHR RAD! Die Rückeroberung der Stadt
Deutsches Architekturmuseum in Frankfurt a. M. (bis 02.09.2018)
http://www.dam-online.de/portal/de/Ausstellungen/Start/0/0/89922/mod891-details1/1594.aspx
Leserbilder über absurde Radverkehrssituationen beim Berliner Tagesspiegel:
http://www.tagesspiegel.de/mediacenter/fotostrecken/berlin/galerie-mit-leserbildern-abgefahren-ihre-unbeliebtesten-radstrecken/4031388.html
Netzwerk und Kampagnenorganisation von Berliner Radaktivisten:
http://www.changing-cities.org/
Berliner Mobilitätsgesetz:
http://www.berlin.de/senuvk/verkehr/mobilitaetsgesetz/