Isental im Morgennebel - Foto: Klaus Leidorf Luftbilddokumentation www.leidorf.de

Gesellschaft & Kultur

„Der Ort, an dem wir Vertrauen erlernen“

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Das Volksbegehren „Betonflut eindämmen“ sieht die Heimat durch die Verbauung der Landschaften bedroht, die CSU durch Flüchtlinge. Doch was ist Heimat überhaupt? Darüber gründlich nachzudenken und eine breite gesellschaftliche Diskussion zu führen ist wichtig, denn der Begriff erregt die Emotionen – und wird deshalb leider oft instrumentalisiert.

Interview mit Christian Schüle

ÖkologiePolitik: Herr Schüle, Ihr Buch „Heimat“ trägt den Untertitel „Ein Phantomschmerz“. Warum?

Christian Schüle: Ähnlich wie die Gesundheit ist auch die Heimat normalerweise einfach da, ohne dass wir viel darüber nachdenken. Über sie nachzudenken beginnen wir erst, wenn wir merken, dass wir sie verloren haben. Oder wenn wir glauben, dass sie verloren geht. Man wird sich ihrer vor allem durch ein Gefühl des Verlustes bewusst. Heimat ist etwas sehr Komplexes, Diffuses, schwer Greifbares und vor allem ein Gefühl. Ich liefere in meinem Buch deshalb auch keine klare Definition, sondern kreise um den Begriff und beleuchte ihn aus immer wieder neuen Perspektiven.

Geht in Deutschland Heimat tatsächlich verloren?

Nicht physisch in dem Sinne, dass uns ein Stück Land weggenommen wird. Von diesem rechtsnationalen Heimatverständnis versuche ich mich auch entschieden zu distanzieren. Stattdessen möchte ich aufzeigen, dass Heimat vor allem etwas Kulturelles ist, ein offener Prozess, an dem jeder mitwirken kann – auch neu zu uns Kommende, egal ob geflüchtet oder nicht geflüchtet. Das Gefühl von Heimatverlust ist wohl vor allem ein Gefühl des Verlustes von Gewohnheiten, von Vertrautheit und Geborgenheit. Konkret: In ländlichen Regionen schließen Gaststätten, Jugendzentren, Buslinien, Postfilialen, Supermärkte. Und in verbliebenen Supermärkten verschwinden die Kassierer. Es gibt immer weniger reale soziale Orte für Begegnungen und Gespräche. Und dann verarmt die deutsche Sprache – vor allem auch durch die Digitalisierung, den mit ihr verbundenen Telegrammstil und den vielen Anglizismen: Whatsappen, Chatten, Skypen, Bloggen. Gleichzeitig kamen vom Ausland neue, uns völlig fremde Sprachen zu uns: osteuropäische, arabische, afrikanische. Das alles wird in der Summe von vielen Menschen als Verlust an Heimat empfunden. Und das sollte man ernst nehmen.

Aus dem Verlustgefühl entsteht Wut. Warum richtet sich die dann oft gegen Flüchtlinge?

Es gibt auch Protestbewegungen, die sich gegen anderes richten – z. B. gegen TTIP und die anderen Freihandelsabkommen, also gegen die ungesteuerte Globalisierung und die Dominanz international agierender Konzerne. Kurioserweise wurde TTIP dann aber von rechts abgewürgt: von Donald Trump. Obwohl die Proteste ja eher von links kamen. Auch das zeigt, dass viel durcheinandergeraten ist, dass das alte politische Koordinatensystem nicht mehr richtig greift, dass es schwierig geworden ist, sich zu orientieren. Wer kritisiert heute eigentlich wen und aus welchem Grund? Das war früher einfach und ist heute oft schwierig zu beantworten. Orientierungsverlust führt zu einem starken Unbehagen, zum Gefühl der Fremdheit, der Ungeborgenheit. Und die Digitalisierung verstärkt das noch: Auf der einen Seite werden die Räume unüberschaubar groß – durch die Verfügbarkeit von Unmengen entgrenzter Informationen. Auf der anderen Seite werden die Räume immer kleiner, weil man die Welt nur noch gefiltert und virtuell wahrnimmt, enorm viel Zeit vor dem PC verbringt und sein Zuhause kaum noch verlässt. Es gibt aber natürlich auch gegenläufige Phänomene: So hat z. B. das Wandern in den letzten Jahren stark zugenommen. Die Berge sind an den Wochenenden völlig überfüllt.

Ist die Landschaft etwas, was zur Heimat gehört?

Sicherlich. Heimat ist immer auch ein realer, leibhaftiger Ort mit starker Identität, an dem man sich wohlfühlt, an den man sich gut erinnert, an den man sich gerne erinnert. Da gehört die Landschaft mit dazu. Genauso unsere Städte und Dörfer. Und natürlich die vertrauten Menschen, die dort leben.

In letzter Zeit entstanden viele neue Genossenschaften und andere gemeinwohlorientierte Organisationen. Sind das auch Bewegungen gegen den Verlust an Heimat?

Ja, unbedingt. Diese Bewegungen, die sich wohl am besten unter dem Oberbegriff „Commonismus“ zusammenfassen lassen – abgeleitet vom englischen Wort „common“, deutsch: „gemeinschaftlich“ –, halte ich für enorm wichtig. Da haben sich ja in den letzten zehn Jahren zwischen Flensburg und Freiburg viele solcher mikrosozialer Gemeinschaften entwickelt – Kooperativen, urbane Gemeinschaftsgärten, Kommunalquartiere usw. –, die alle so etwas wie Heimat schaffen: weil da das „Wir“ im Mittelpunkt steht, weil sie keine geschlossenen Ideologien und Weltbilder propagieren, sondern konkretes Tun und konkrete Ziele, weil sie auf Begegnung, gegenseitige Wertschätzung und Vertrauen basieren. Heimat hat viel mit Vertrauen und mit Vertrautheit zu tun. Menschen anderer Kulturkreise können sich in diese Gemeinschaften einbringen und auf diese Weise aktiv eine neue Heimat mitgestalten.

Ist Heimat tatsächlich etwas, was sich einfach so „neu machen“ lässt?

Zumindest ist Heimat für mich nichts Starres, nichts ein für alle Mal Feststehendes, sondern etwas Dynamisches, das sich immer wieder verändert. Das war schon immer so – auch wenn die AfD das anders sieht und darstellt. Deutschland hat sich im Lauf der Jahrhunderte ständig verändert – und war vom frühen Mittelalter bis heute auch immer das Resultat großer Migrationsprozesse. Das „Deutsche an sich“ gibt es nicht. Auch der bundesdeutsche Wohlstand, den die AfD verteidigen will, wurde ja maßgeblich von den zahlreichen Gastarbeitern mitgeschaffen, die in unser Land kamen – zuerst Italiener, dann Türken. Von daher ist das Heimatverständnis der AfD nicht schlüssig, sondern fragwürdig. Was ich nicht fragwürdig finde, das ist, den Begriff „Heimat“ zum Thema zu machen und darüber eine gesellschaftliche Debatte zu führen. Viele machen sich darüber lustig und assoziieren damit Lederhosen, Dirndl und Weißwürste, aber das wird dem Begriff und dem Bedürfnis der Menschen nach Heimat nicht gerecht. Und dieses Bedürfnis ist viel zu wichtig, um die Auslegung des Begriffs den Rechten zu überlassen.

Wir haben jetzt auch in Berlin ein Heimatministerium. Was sollte das tun, um das Bedürfnis nach Heimat zu befriedigen? Ist die nationale Ebene dafür überhaupt geeignet?

Zunächst mal wäre es wichtig, den Begriff „Heimat“ aus der Vergiftung herauszuarbeiten, den er durch die Nazis erfahren hat. Das ist ja immer noch eine große Belastung. Allzu oft werden mit Heimat die Blut-und-Boden-Ideologie und der Rassenwahn assoziiert. Und ebenfalls unerträglich ist die Antwort der Nachkriegszeit darauf: die plumpe Heimattümelei der 1950er- und 1960er-Jahre mit ihren kitschigen Filmen. Deshalb sollten wir heute Heimat ganz neu definieren: als kulturellen, dynamischen Prozess – auf der Basis des Grundgesetzes, das ich übrigens für eines der reifsten und weisesten Dokumente der Weltgeschichte halte. Das Grundgesetz wäre sozusagen eine Absicherung nach unten, nach oben wäre die Neudefinition von Heimat offen. Ich finde auch den Begriff „Leitkultur“ gar nicht schlecht, solange man darunter Gepflogenheiten und Werte versteht, die sich bewährt haben und die uns leiten. Dazu gehören z. B. die Demokratie, der Parlamentarismus, die Gewaltenteilung, die Rechtsgleichheit, die Religionsfreiheit, die Meinungsfreiheit, die Pressefreiheit, die Trennung von Staat und Kirche, die Gleichstellung von Mann und Frau, auch unser duales Ausbildungssystem, die Tarifautonomie, der öffentlich-rechtliche Rundfunk. Diese Dinge haben unser Land geprägt und sich als gut und sinnvoll erwiesen. Sie sorgen für soziale Geborgenheit. Und Geborgenheit ist eine zentrale Eigenschaft von Heimat. Eine so verstandene Leitkultur grenzt nicht von vornherein aus wie die Idee einer „nationalen Identität“ oder eines „Christentums“, das ja oft nur wenig mit Christlichkeit zu tun hat, wie Jesus sie gelehrt hat. Eine Leitkultur als Verpflichtung auf allgemein verbindliche Normen unseres Gemeinwesens wäre ein zumutbares Angebot an jeden Neuankömmling. Wenn er dem zustimmt, ist er herzlich willkommen. Wenn er dem nicht zustimmen möchte, dann soll er sich überlegen, ob er nicht besser in ein anderes Land geht, das seinen Vorstellungen mehr entspricht. Da dürfen und müssen wir schon auch klare Ansagen machen und Grenzen ziehen. Aber für diejenigen, die eine solche Leitkultur akzeptieren, müssen wir offen sein. Integration ist ein langer Prozess und braucht immer die Bereitschaft, den Willen und das aktive Tun beider Seiten: der Eingewanderten und der Einheimischen gleichermaßen.

Zurück zum Gefühl des Heimatverlustes: Was kann ein deutsches Heimatministerium dagegen konkret tun?

Es sollte z. B. etwas gegen den Niedergang ländlicher Regionen unternehmen: für gleiche Lebensverhältnisse sorgen, in soziale Infrastruktur investieren, Jugendzentren und Sportzentren errichten, den ÖPNV und die Breitbandversorgung ausbauen, Zukunftsperspektiven eröffnen. Den Flächenfraß, die Zersiedlung der Landschaft sowie die Industrialisierung der Landwirtschaft und den dadurch verursachten Verlust an Biodiversität aufhalten. In den Städten: die Gentrifizierung stoppen.

Beim Begriff „Heimat“ denken viele Menschen zunächst an Brauchtumspflege. Wie wichtig ist die?

Das Pflegen von Traditionen und Bräuchen kann durchaus hilfreich sein, sollte aber nicht überbewertet werden. Heimat ist nicht das künstlich Inszenierte, nicht das kitschige Idyll für die Touristen, sondern das Echte, das Normale, der Alltag. Der Dialekt ist für das Heimatgefühl wohl wichtiger als rückwärtsgewandte Folklore. Der Bayerische Rundfunk und sein Fernsehen leisten hier übrigens durchaus Vorbildliches, versorgen das Bedürfnis der Bevölkerung nach Heimat mit qualitätsvollen Sendungen. Das von ihm jährlich in Oberammergau ausgerichtete „Heimatsound-Festival“ z. B. präsentiert alpenländische Bands aus dem Independent- und Neue-Volksmusik-Bereich, die auf Deutsch singen – mit mehr oder weniger starkem Dialekt. Der Dialekt ist hier keine plumpe Masche, um „volkstümlich“ zu wirken, sondern einfach die Alltagssprache der Musiker. Sie singen so, wie sie sonst auch reden. Das wirkt vertraut. Das wirkt echt. Das ist echt. Wohl deshalb kommt das Festival auch so gut an.

Hat Heimat also viel mit Vertrautheit zu tun?

Ja, mit Vertrautheit. Und mit Vertrauen. Und auch mit der Kindheit. Man kann sich zwar eine Wahlheimat aussuchen und sie sich immer mehr vertraut machen, aber die alte Heimat, aus der man stammt, in der man aufwuchs, die bleibt immer präsent, die wird man nie ganz los. Denn der Ort, wo man als Kind in seiner Familie aufwuchs, ist der, an dem man Vertrauen erlernte. Das ist eine ganz entscheidende Phase im Leben, deshalb bleibt der Ort der Kindheit immer im Gedächtnis. Man erinnert sich sein Leben lang an ihn: an Bilder, an Geräusche und Klänge, an den Geruch oder Geschmack bestimmter Dinge. Ich erinnere mich z. B. noch genau an den Klang der Kirchturmglocken und an den Geruch des frisch gemähten Grases in meinem Heimatort. Unter Tausenden von Klängen und Gerüchen würde ich die sofort wiedererkennen – und das wäre jeweils mit einem guten Gefühl verbunden. Die Heimat, wo man als Kind aufwuchs, die hatte man sich nicht gewählt, in die wurde man einfach reingeboren, die fiel einem schicksalhaft zu. Und da fühlte man sich geborgen. Je älter man wird, desto mehr erinnert man sich daran und desto stärker wird ja auch oft der Wunsch, die Orte der Kindheit wieder zu besuchen. Wie der Lachs kehrt auch der Mensch immer wieder zu seinen Wurzeln zurück.

Wie passt das jetzt mit der vorhin genannten Neudefinition des Heimatbegriffs zusammen?

Heimat ist etwas sehr Persönliches, hat mit den Prägungen in der Kindheit zu tun, aber nichts mit einer „nationalen Identität“, mit Abgrenzung und mit primitivem Freund-Feind-Denken. Die Kindheitserfahrungen, die jeder Mensch für die Entstehung seines Heimatgefühls gemacht hat, die kann ein Zugewanderter bei uns zwar nicht machen, seine Kinder aber sehr wohl. So verstanden ist Heimat nichts Absolutes, nichts Ewiges und hat nichts mit „Blut und Boden“ zu tun. Im deutschen Wort „Heimat“ schwingen auch viel mehr Bedeutungen mit als z. B. im englischen „homeland“ oder in vergleichbaren Wörtern anderer Sprachen. In anderen Sprachen geht es meist nur um Land, aber nicht um „Identität“. Auch das Wort „Heimweh“ ist typisch deutsch. Seine große, fast schon religiöse Bedeutung erlangte der Begriff „Heimat“ in der deutschen Romantik – und war da letztlich Ausdruck der Sehnsucht nach einer großen, überzeitlichen Geborgenheit. Diese Sehnsucht gibt es heute wieder, doch sie wird momentan von den Falschen bedient und politisch instrumentalisiert. Heimat kann man psychologisieren und literarisieren, aber man darf sie nicht politisieren. Das ist die große Herausforderung der nächsten Jahre. Da finde ich die Schaffung eines Heimatministeriums als durchaus gute und angemessene Antwort. Jetzt kommt es aber darauf an, was daraus gemacht wird.

Herr Schüle, herzlichen Dank für das interessante Gespräch.


Buchtipp

Christian Schüle
Heimat
Ein Phantomschmerz
Droemer, Mai 2017
256 Seiten, 19.99 Euro
978-3-426-27712-6
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