„Die Entwicklung steht erst am Anfang“
13. März 2018
Die Notwendigkeit einer gesellschaftlichen Transformation wird von alternativen Wirtschaftsmodellen wie der Postwachstums- und Gemeinwohl-Ökonomie betont. Was allerdings unsere Gesellschaft momentan tatsächlich transformiert, das ist die Digitalisierung. Ein ehemaliger Spitzenmanager eines IT-Konzerns beschäftigt sich intensiv mit beiden Themen.
Interview mit Andreas Dohmen
ÖkologiePolitik: Herr Dohmen, Sie halten Vorträge zu den Themen „Digitale Transformation“ und „Postwachstumsalternativen“. Wie hängen die beiden Themen zusammen?
Andreas Dohmen: Die hängen nicht zwangsläufig zusammen. Gemeinsam ist ihnen allerdings das Dachthema „Transformation“, das mich schon lange interessiert und fasziniert. Die Digitalisierung greift tief in unsere technische und ökonomische Alltags- und Arbeitswelt ein und zwingt uns eine Transformation auf. Und die Grenzen der ökologischen Belastbarkeit, aber auch die zunehmenden sozialen Verwerfungen, wie die Schere der Vermögensverteilungen, zwingen uns ebenfalls zu einer Transformation. Werden notwendige Transformationen nicht rechtzeitig eingeleitet und nicht richtig gesteuert, dann kippen und kollabieren Systeme, zerfallen, gehen von einer höheren Ordnung in eine niedrigere Ordnung über. Transformation bedeutet umgekehrt: bewusst von einer niedrigeren in eine höhere Ordnung überzugehen. Ein Symptom für ein drohendes Kippen unserer freiheitlichen, demokratischen und rechtsstaatlichen Gesellschaftsordnung erleben wir gerade durch eine neue Irrationalität in der Politik: durch das Erstarken rechtsextremer Strömungen weltweit – von Donald Trump bis hin zur AfD. Die sind aber nur ein Symptom, nicht die Ursache des Kulturverfalls.
Lassen sich die Themen „Digitalisierung“ und „Postwachstum“ verknüpfen?
Ja, sicherlich. Zum einen zwingt uns die Digitalisierung zum Nachdenken, zur Neubesinnung, zum grundlegenden Durchdenken unserer gesamten Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Und wenn sich eh sehr vieles ändern muss, dann können auch gleich Ideen der Postwachstumsbewegung in die Neugestaltung einfließen – vor allem die der Gemeinwohl-Ökonomie, die ich persönlich für das durchdachteste und sinnvollste Konzept halte, weil es ans unternehmerische Denken anknüpft und es geschickt nutzt, statt es nur plump abzulehnen und zu bekämpfen. Dadurch ist die Gemeinwohl-Ökonomie für viele Unternehmer verständlich und akzeptabel – und somit auch politisch viel einfacher durchsetzbar. Wenn unsere Wirtschaftsordnung aufgrund des Digitalisierungsdrucks sowieso gründlich überarbeitet und neu definiert werden muss, dann sollten wir auch gleich eine Verpflichtung zur Gemeinwohlbilanz und ein gemeinwohlorientiertes Steuersystem integrieren. Die erste Verknüpfungsmöglichkeit ist also die politisch-gesetzgeberische Ebene. Und die zweite Verknüpfungsmöglichkeit ist die pragmatische Ebene. Die neuen digitalen Möglichkeiten können natürlich auch dazu genutzt werden, Umweltprobleme auf technische Art und Weise zu reduzieren: durch eine effizientere Nutzung von Energie und Rohstoffen; durch die Entwicklung einer Kreislaufwirtschaft ohne große Abfallmengen; durch eine Veränderung des Lebensstils, bei dem Technik nicht mehr als Statussymbol dient, sondern zur Lösung von Problemen und zur Befriedigung von Bedürfnissen. So könnte ja zum Beispiel eine Künstliche Intelligenz wesentlich dazu beitragen, das noch nicht gelöste Problem der Kernfusion zu lösen oder eine hochleistungsfähige Batterie für Elektroautos zu entwickeln, die mit wesentlich weniger raren Ressourcen funktioniert als die heutigen. Die Digitalisierung zwingt uns dazu, alles auf den Prüfstand zu stellen und uns klar zu werden, wer wir sind, was unser Menschsein ausmacht, was wir tatsächlich brauchen, auf was wir verzichten können und vor allem auch wollen!
Worin liegt die hohe Bedeutung der Digitalisierung? Was ist das Besondere an ihr?
Neu ist die Geschwindigkeit der Veränderungen: die Geschwindigkeit technischer Innovation, noch mehr aber die Geschwindigkeit, mit der neue Produkte und Geschäftsmodelle den Markt, unsere Gesellschaft und unseren Alltag durchdringen. Das Festnetztelefon brauchte 75 Jahre, um 100 Mio. Nutzer zu erreichen, das Mobiltelefon 16 Jahre, das Internet 7 Jahre, Facebook 4 Jahre, WhatsApp 2 Jahre. Sogenannte Plattform-Geschäftsmodelle prägten innerhalb weniger Jahre den Markt verschiedener Branchen: Amazon wurde größter Buchhändler, ohne einen einzigen Buchladen zu haben; Apple zum größten Musikhändler, ohne eine einzige CD verkauft zu haben; Uber vermittelte über 5 Mrd. Taxifahrten, ohne ein eigenes Taxi zu haben; Airbnb vermittelte über 3 Mio. Zimmer, ohne ein eigenes Gebäude zu haben. Europa hat diese Entwicklung verschlafen und deshalb gibt es eine bedenkliche Dominanz US-amerikanischer Konzerne. Nur China hat schon früh damit begonnen, dem eigene Entwicklungen entgegenzusetzen, um hier in keinerlei Abhängigkeit zu geraten. Deshalb befinden sich unter den größten Online-Plattformen der Welt nur US-amerikanische und chinesische IT-Konzerne. Und viele US-Unternehmen haben dabei in China nur einen sehr geringen Marktanteil.
Und alle sammeln wie wild unsere Daten.
Ja, denn Daten sind ein Milliardengeschäft. Anhand von Personenprofilen lassen sich Werbebotschaften zielgruppengerecht platzieren. Streuverluste werden minimiert, das Aufwand-Nutzen-Verhältnis verbessert sich, der Erfolg wächst. Wir haben deshalb einen richtigen Datensammelwettbewerb um Kundendaten und einen lukrativen Handel mit ihnen – und wir alle machen freiwillig mit. Beim Datenschutz herrscht noch eine große Naivität und Unwissenheit, teils aus Bequemlichkeit, teils aus Überforderung. Die IT-Konzerne nutzen das aus. Eigentlich kann jeder von uns Auskunft über die von ihm gespeicherten Daten verlangen, aber kaum jemand macht das. Hier müssen die Bürger viel besser über ihre Rechte und Möglichkeiten aufgeklärt werden – am besten schon in der Schule. Gerade wir Europäer sollten unsere Freiheits- und Bürgerrechte verteidigen und uns als Gegenmodell zur marktradikalen USA verstehen. Und natürlich genauso zum totalitären China. Dort sollen bis 2020 alle Datenbanken – die staatlichen und die der IT-Konzerne – miteinander verbunden sein, um jegliches Verhalten jedes Bürgers möglichst lückenlos zu erfassen, zu bewerten, zu belohnen oder zu sanktionieren. „Social Credit System“ (SCS) nennt sich das. Das ist eine bedenkliche Fehlentwicklung, die wir in Europa tunlichst vermeiden sollten, denn sie ist ein Großangriff auf die bürgerlichen Freiheitsrechte.
Brauchen wir also ein starkes Europa?
Ja, unbedingt. Ein politisch handlungsfähiges, aber natürlich keinesfalls ein totalitäres. Die alte nationale Gesetzgebung greift bei den neuen Entwicklungen nicht mehr richtig und sieht sich internationalen Geschäftsmodellen gegenüber. Viele große IT-Konzerne spielen die Staaten geschickt gegeneinander aus und verführen sie zu einem Wettlauf um die niedrigsten Steuern und die laschesten Datenschutzgesetze. Der großen Macht der IT-Konzerne kann nur eine ebenbürtige politische Macht etwas entgegensetzen. Nur ein starkes Europa kann deren Profitinteressen klare Grenzen setzen. Dafür braucht es auch einen entsprechenden Verwaltungsapparat, der für eine einheitliche europäische Gesetzgebung – u. a. bei der Besteuerung von Unternehmensgewinnen – und für deren Durchsetzung sorgt. Die nationale Politik ist hier völlig überfordert und hechelt der Entwicklung nur hinterher.
Datenschutz scheint angesichts der sonstigen Umwälzungen, die gerade oder demnächst passieren, auf der Prioritätenliste nach hinten zu rutschen.
Im Mai 2018 tritt die neue EU-Datenschutz-Grundverordnung in Kraft – ein verbraucherfreundliches, gutes Gesetz, von dem aber kaum jemand weiß. Darüber müsste die Regierung uns Bürger viel offensiver aufklären. Und wie schon gesagt: das am besten bereits in der Schule. Als Pflichtfach! Denn durch das neue Gesetz wird das Handeln mit Daten zwar schwieriger, aber nicht unmöglich. Es wird weiter versucht und auch gemacht werden, denn dahinter verbirgt sich ein Milliardengeschäft. Gesetze ersetzen keine Selbstverantwortung und keinen Selbstschutz.
Aktuell wird statt über Datenschutz vor allem über „Industrie 4.0“ diskutiert. Warum?
Kurzer Überblick: „Industrie 1.0“ war die Einführung der Dampfmaschine im frühen 19. Jahrhundert, „Industrie 2.0“ die Einführung der Fließbandarbeit im frühen 20. Jahrhundert und „Industrie 3.0“ die Einführung von IT in die Produktionsumgebung. Mit „Industrie 4.0“ ist die Vernetzung aller Beteiligten im Produktions- und Konsumprozess über das Internet sowie eine zunehmende Bedeutung von Robotik und „Künstlicher Intelligenz“ (KI) gemeint. Die Digitalisierung hat ja nicht nur zu neuen Geschäftsmodellen und Handelsplattformen geführt, sondern ermöglicht auch eine Veränderung der Produktion. Damit einher geht aber auch die Diskussion um einen möglichen Verlust von Millionen von Arbeitsplätzen. Klar – Roboter schlafen nicht, brauchen keine Ruhepausen, haben keine Durchhänger, kündigen nicht und streiken nicht. All das – und natürlich auch die große Lücke im Fachkräftebereich – macht die Automatisierung für Arbeitgeber so interessant. Deshalb ist Automatisierung auch nichts Neues, sondern eine Entwicklung, die schon lange im Gange ist. Neu ist heute allerdings die Geschwindigkeit, mit der die Veränderungen geschehen. Das lässt keine Zeit mehr für langsame Übergänge und Anpassungen. Alles geht wahnsinnig schnell.
Werden tatsächlich Millionen Arbeitsplätze verloren gehen?
Nun, es werden sicherlich viele neue Arbeitsplätze entstehen, aber auch viele alte verschwinden. Ein großer Teil der heutigen Berufe wird sich in seinen einzelnen Tätigkeitsfeldern signifikant verändern. Betroffen sein werden nicht nur „Minderqualifizierte“ in der industriellen Produktion, sondern auch „Mittel- und hoch Qualifizierte“ in den Büros. So beschäftigte z. B. der Finanzkonzern Goldman Sachs vor ein paar Jahren im New Yorker Headquarter 600 Aktienhändler, heute nur noch 2. Die Arbeit der anderen 598 erledigen nun Algorithmen. Ähnliches wird mit vielen Berufen geschehen. Alles, was sich automatisieren lässt, alles, was rein prozessorientiert ist oder wo es um die Analyse und Verarbeitung von Informationen geht, wird mit großer Wahrscheinlichkeit in den nächsten Jahren teilweise oder auch ganz von Robotern oder KI-Systemen erledigt werden. Viele Berufe werden jedoch nicht komplett verschwinden, sondern nur ihren Charakter ändern, d. h. Roboter und KI-Systeme werden einen Teil der Arbeit übernehmen und der restliche Teil wird weiterhin von Menschen ausgeübt. Handwerkliche Berufe werden eher überleben als industrielle, kreative eher als verwaltungstechnische. Ein Jurist z. B., der lediglich Verträge auf „Compliance“ untersucht, wird wohl eher arbeitslos als ein Dachdecker. Alles, was mit emotionaler Intelligenz zu tun hat und zur Ausübung Empathie braucht, also die sozialen Berufe an Kindergärten, Schulen, Krankenhäusern, Altenheimen usw., wird sich im Kern mittelfristig eher wenig ändern, denn Roboter lassen sich hier allenfalls unterstützend einsetzen, was ja durchaus positiv sein kann.
Schon heute sind soziale Berufe in der Regel schlecht bezahlt und bieten unattraktive Rahmenbedingungen. Wenn mehr Menschen in die sozialen Berufe drängen, dann wird die Situation dort nicht besser.
Die aktuelle Unattraktivität sozialer Berufe ist das Resultat politischer Entscheidungen – und lässt sich deshalb korrigieren. Wir brauchen hierfür nur eine breite gesellschaftliche Debatte: Wie gut soll unsere Krankenversorgung künftig sein – und was ist sie uns wert? Wie gut soll unsere Altenpflege künftig sein – und was ist sie uns wert? Wie gut sollen unsere Kindergärten und Schulen künftig sein – und was sind sie uns wert? Kostenentwicklung, Kostenstruktur und Finanzierung blieben ja bisher weitgehend diffus und intransparent. Das muss jetzt alles endlich mal auf den Tisch, ergebnisoffen diskutiert und demokratisch entschieden werden. Es fehlt uns seit Langem an solchen Grundsatzdiskussionen. Und es fehlt uns an einer konkreten Vision: Wie soll Deutschland im Jahr 2040 aussehen? Und vor allem: Wie kommt Deutschland dorthin? Welche konkreten Schritte sind dafür notwendig? Und wie setzen wir als Gesellschaft die richtigen Prioritäten?
Kann uns KI dabei helfen?
Sie kann uns sehr gut dabei helfen, komplexe Szenarien durchzurechnen und Alternativen klar aufzuzeigen, aber sie kann und sollte uns keine Grundsatzentscheidungen abnehmen. Grundsatzentscheidungen müssen wir immer selber treffen, denn sie basieren auf menschlichen Werten und Bedürfnissen. Wir dürfen das Denken und Entscheiden nicht den Maschinen überlassen, denn Maschinen haben keine Gefühle und sind – Stand heute – auch nur in einem Teilbereich der Intelligenz wirklich gut und uns Menschen überlegen: im logischen „Denken“. Ich sehe eine der größten Gefahren durch KI eher darin, dass die Menschen aus Bequemlichkeit „verdummen“. Wer sich beim Autofahren nur noch blind auf sein Navi verlässt, verliert seinen Orientierungssinn. Ähnliches wird in allen Lebensbereichen passieren, wenn wir unsere eigenen Fähigkeiten verkümmern lassen, indem wir Aufgaben nur noch an Algorithmen delegieren. Wir müssen unser Leben künftig viel bewusster leben und unsere Fähigkeiten trainieren. Unser Gehirn ist ein hochkomplexes Organ, das vielfältige Anregungen braucht, um sich richtig zu entwickeln. In unseren Schulen muss deshalb viel mehr die Persönlichkeitsentwicklung im Mittelpunkt stehen und weniger das Lernen von Wissen. Denken lernen, Querdenken lernen, Zusammenhänge verstehen, Kreativität lernen – das ist das, auf was es in Zukunft verstärkt ankommt. „Bildung ist das, was übrig bleibt, wenn man alles vergessen hat, was man gelernt hat“, brachte es schon Werner Heisenberg auf den Punkt.
Wie leistungsfähig ist KI heute? Und welche Entwicklung ist noch zu erwarten?
KI ist erst seit Kurzem extrem leistungsfähig, das aber verblüffend. Die Forschung daran begann in den 1950er-Jahren, aber zunächst verlief die Entwicklung sehr schleppend. Erst 1997 gewann ein KI-System erstmals gegen den Schachweltmeister, das war allerdings hauptsächlich das Resultat einer riesigen Datenbank von vorher eingepflegten Schachspielen, die das KI-System bei jedem Zug nach analogen Spielsituationen und Erfolg versprechenden Lösungen durchsuchte. Die Überlegenheit gegenüber dem Menschen resultierte also auf der vorher eingegebenen Informationsmenge und auf der Geschwindigkeit, diese zu analysieren und zu nutzen. 2016 aber schlug ein KI-System (AlphaGo) erstmals den Go-Weltmeister. Go ist ein altes japanisches Brettspiel, vielfach komplizierter als Schach. Man hatte dem KI-System zwar einige berühmte Spiele großer Meister eingegeben, um sie zu analysieren, aber im Spiel selbst erfand es dann verblüffende Züge, völlig neuartige Zugkombinationen, die vorher noch nie ein Mensch so gemacht hatte. Und bis heute können sich selbst die Programmierer des Systems nicht erklären, wie AlphaGo auf diese Entscheidungen kam. 2017 wurde ein neues KI-System für Go entwickelt, dem nur noch die Spielregeln eingegeben wurden – und das dann gegen das KI-System, das 2016 den Go-Weltmeister geschlagen hatte, spielte und hochüberlegen gewann. 2017 gewann ein KI-System auch erstmals ein Poker-Turnier gegen vier Top-Profis. Die heutigen KI-Systeme lernen selbst – und sind darin extrem gut und schnell. „Deep Learning“ nennt sich die neue Methodik, Computer zu programmieren. Statt ihm genau zu sagen, was er zu tun hat, zeigt man ihm Beispiele, trainiert ihn – und er lernt daraus. Die Entwicklung steht erst am Anfang. Grenzen sind nicht erkennbar.
Wo führt das hin? In welche Richtungen wird geforscht?
Na ja, zunächst vor allem in die bekannten Einsatzgebiete: personalisierte Werbung, Mensch-Maschine-Interaktion, Sprachassistenten, Suchmaschinen, Chatbots, autonomes Fahren, Computerspiele, Haushaltsroboter und vieles mehr. Die großen IT-Konzerne in den USA und in China, aber auch deutsche DAX-Unternehmen investieren da massiv. An der Spitze der Grundlagenforschung steht u. a. die Mensch-Maschine-Kopplung, die auch Teil der Transhumanismus-Bewegung ist. Das ist allerdings nur die Spitze des Eisbergs und ein eher skurriler und umstrittener Forschungszweig, der jedoch die Gemüter heftig bewegt. Seit 2015 gibt es in Deutschland sogar eine Transhumane Partei.
Worum geht es beim Transhumanismus?
Ziel ist die Erweiterung der menschlichen Möglichkeiten durch den Einsatz technologischer Verfahren – also nicht nur durch eine Kopplung des menschlichen Gehirns an einen Computer, sondern auch durch genetische Manipulation, synthetische Biologie und anderes. Im klassischen Humanismus ging es immer darum, das Beste aus der menschlichen Natur zu machen. Im Transhumanismus wird die Natur als inakzeptabel unvollkommen betrachtet und deshalb angestrebt, sie mittels Technik zu überwinden – wie wir es bereits ja heute schon teilweise tun. Es soll ein evolutionärer Sprung, eine neue kulturelle Entwicklungsstufe bewusst eingeleitet und erreicht werden. Der Transhumanismus ist aber keine homogene Strömung. Unter dem Dachbegriff sammeln sich verschiedenste Ideen, Konzepte und Forschungsprojekte. Eines der Aufsehen erregendsten ist wohl die Initiative „2045“ des russischen Medienmoguls Dmitri Itzkow, bei der auch Ray Kurzweil, Chefingenieur bei Google und Träger von 19 Ehrendoktortiteln, eine der treibenden Kräfte ist. Ziel dieses Projekts ist nichts weniger als Unsterblichkeit. Bis 2045 wollen die Akteure so weit sein, ein menschliches Gehirn komplett, also mitsamt seinem Bewusstsein, seinen Gedanken, Gefühlen und Erinnerungen, in ein digitales Hologramm „auszulagern“, sodass es dann außerhalb des menschlichen Körpers in einem Roboter bzw. Avatar weiterexistieren kann. Aber das ist jetzt ein extremes und auch umstrittenes Projekt – mit noch völlig offenem Ausgang. Grundsätzlich geht’s beim Transhumanismus um eine Steigerung der menschlichen Fähigkeiten mittels Technik.
Ein Übermensch? Das klingt stark nach Nietzsche. Und auch nach Scientology.
Ja, wie so einige Ideen und Weltverbesserungspläne, die manchmal aus dem Silicon Valley kommen – und mittlerweile auch aus China. Umso wichtiger ist es, dass wir Europäer uns aus der technologischen Abhängigkeit vom Silicon Valley befreien und dem etwas Eigenes entgegensetzen. Und natürlich darf man solche Entwicklungen generell nicht profitorientieren IT-Konzernen überlassen. Angesichts solcher Bestrebungen und auch Möglichkeiten wird eine ethisch-moralische Begleitung immer wichtiger, wird Philosophie immer wichtiger. Die sollte künftig einen viel höheren Stellenwert in unserer Gesellschaft erhalten. Und an den Schulen und Hochschulen Pflichtfach werden oder zumindest in Schulfächer wie Ethik und Wirtschaft verstärkt mit einfließen. Genauso wie Digitalisierung und Datenschutz. Die Menschheit steht heute wieder einmal an einer wichtigen Wegkreuzung und wir müssen heute richtige Entscheidungen treffen und richtig handeln, um uns in 10 Jahren nicht zu wundern, wo wir hingekommen sind.
Herr Dohmen, herzlichen Dank für das interessante Gespräch.
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