Präsident Assad ist im syrischen Alltag omnipräsent. Foto: Kristin Helberg.

Gesellschaft & Kultur

„Man macht die Syrer zu Marionetten“

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Der Syrienkrieg geht in sein achtes Jahr. Europa agiert planlos und nicht im Sinne des Aufbaus von Demokratie und Frieden. Die Politik von Trump verunsichert die Region. Doch was genau sind westliche Interessen in Syrien? Und wie ist Frieden möglich?

Interview mit Kristin Helberg

ÖkologiePolitik: Frau Kristin Helberg, Sie haben von 2001 bis 2008 in Damaskus (Syrien) gelebt. Wie erlebten Sie das Land und die Bevölkerung in dieser Zeit?

Kristin Helberg: Ich habe die Syrer als offen, herzlich und gastfreundlich wahrgenommen. Man konnte oberflächlich ein gutes Leben führen, wenn man sich an bestimmte Regeln hielt. Denn das Assad-Regime durchdringt die gesamte Gesellschaft über die Geheimdienste. Jeder Aspekt des Alltags wird vom Regime dominiert. Man kann also nicht alles sagen, was man denkt, leidet unter staatlicher Willkür und Korruption. Die meisten Menschen hatten über die Jahrzehnte gelernt zu schweigen, das politische Leben war tot. Als ich 2001 nach Syrien kam, war Präsident Bashar al-Assad gerade ein Jahr an der Macht. Es gab große Hoffnungen, doch Bashar erwies sich als Modernisierer, nicht als Reformer. Er hat das Land wirtschaftlich geöffnet, mit neoliberalen Reformen wie Privatisierungen, ausländischen Investitionen, dem Abbau von Subventionen. Dadurch spaltete sich die Gesellschaft in wenige Gewinner und viele Verlierer. Beamte und Angestellte brauchten einen zweiten oder dritten Job. Wer vorher schon wenig hatte – als Arbeiter, Bauer, Kleinunternehmer oder Handwerker – kämpfte um die Existenz. Damit hatte Bashar ausgerechnet diejenigen abgehängt, die ursprünglich die Basis des sozialistischen Baath-Regimes gewesen waren. Gleichzeitig blieb politisch alles beim Alten, es galten die gleichen roten Linien wie zuvor. Allgemeine Kritik war erlaubt, aber wer die Herrschaft der Assads infrage stellte, landete im Gefängnis.

Warum begehrten die Menschen in Syrien ab 2011 gegen das Assad-Regime auf?

Es waren die Verlierer der ersten Bashar-Dekade, die ab Frühjahr 2011 den Mut hatten zu demonstrierten. Sie hatten nichts mehr zu verlieren und fragten sich irgendwann, warum sie sich weiterhin jeden Tag vom Staatsapparat erniedrigen lassen sollten, warum sie sich vor der Willkür der Geheimdienste fürchten und ständig Schmiergelder an korrupte Beamte bezahlen sollten, während sich einige wenige hemmungslos die Taschen füllten. Der Gesellschaftsvertrag, den Assads Vater mit dem syrischen Volk geschlossen hatte – politische Unfreiheit gegen eine gesicherte Existenz – war außer Kraft. Bashar selbst hatte ihn mit seiner neoliberalen Wirtschaftspolitik aufgekündigt und damit den Boden für gesellschaftlichen Unfrieden bereitet. Auf dem Land verschärfte eine mehrjährige Dürre die Lage zusätzlich – Hunderttausende wanderten ab in die Städte, wo sie im Elend informeller Vorstadtsiedlungen landeten. Genau dort begann die syrische Revolution – auf dem Land und in den Vororten der großen Städte. Sie war anfangs eine breite und friedliche Massenbewegung, die sich aufgrund der gewaltsamen Reaktion des Regimes schnell im ganzen Land ausbreitete. Der Bewegung fehlten aber eine zentrale politische Führung, eine innere Strategie und Organisation. Die Syrer hatten gesehen, was Massenproteste anderswo in der arabischen Welt bewirkt hatten. Gerade die junge Generation war euphorisch und ließ sich mitreißen. Viele hofften auf die Unterstützung des Westens, denn es ging ihnen ja um ein Leben in Würde, um Freiheit und Gerechtigkeit. Als der Westen die Revolution zwar verbal begrüßte, aber nichts für die Aktivisten tat, war die Enttäuschung groß.

Gab bzw. gibt es in Syrien noch eine gemäßigte Opposition, die sich für eine freiheitliche, demokratische Entwicklung einsetzt?

Die Oppositionellen im Land hatten stets Reformen von innen gefordert – etwa die Aufhebung des Ausnahmezustands und ein Mehrparteiensystem. Sie wollten nie eine Einmischung von außen wie im Irak, sondern einen syrischen Weg. Doch für diese moderaten Forderungen kamen sie ins Gefängnis – auch unter Bashar. Diese zumeist älteren Herren hatten die Revolution von 2011 nicht kommen sehen, denn es war anfangs eine spontane Bewegung von bis dahin eher unpolitischen Leuten. Wer wie diese Oppositionellen die Methoden des Regimes aus eigener Erfahrung kannte, wusste, wie blutig es in Syrien werden würde. Bis heute gibt es zivilen Widerstand in Syrien, also Aktivisten, die sich für Freiheit und Demokratie einsetzen. Aber sie werden von so vielen Kräften bekämpft – Assad, den Dschihadisten, syrischen islamistischen Gruppen –, dass sie wenig Handlungsspielraum haben und große Gefahr auf sich nehmen. Viele von ihnen leben deshalb mittlerweile im Ausland.

Die antike Oasenstadt Palmyra vor ihrer Zerstörung durch den IS im Jahr 2015. Foto: Kristin Helberg.

Hat der Westen syrische Oppositionelle unterstützt?

Anfangs dachten westliche Politiker, das Assad-Regime würde innerhalb von Wochen oder Monaten zusammenbrechen. Das war reines Wunschdenken und bezeichnend für die außenpolitische Ahnungslosigkeit des Westens in Syrien. Die USA und Europa ergriffen von Anfang an Partei für die syrische Opposition und gegen Assad, aber zwei entscheidende Dinge haben sie nicht gemacht: erstens, die friedlichen Proteste zu unterstützen. Und zweitens, Zivilisten zu schützen. Egal welche Waffen Assad einsetzte – Scharfschützen, Boden-Luft-Raketen, Kampfjets, Fassbomben, Chemiewaffen –, der Westen hat nichts zum Schutz der syrischen Zivilbevölkerung getan. Er hat lieber ab 2014 den Islamischen Staat (IS) bekämpft und dabei ebenfalls Zivilisten getötet. Dadurch hat er seine Glaubwürdigkeit verspielt und zur Radikalisierung der Menschen beigetragen. Extremisten konnten die Leute leicht für sich gewinnen, indem sie sagten: „Seht her, dem Westen sind eure verschütteten Kinder unter den von Assad zerbombten Häusern völlig egal. Er führt in Wahrheit einen Krieg gegen den Islam.“

Was sind die Ziele der syrischen Rebellen? Der Schweizer Historiker Dr. Daniele Ganser behauptete in unserem letzten Heft: „Täten die ‚Rebellen‘ das bei uns, was sie in Syrien tun, würden wir sie als Terroristen bezeichnen und verfolgen.“

Eine Revolution ist immer der Umsturz einer bestehenden Herrschaftsordnung, die keine legitime Form des Widerstandes duldet. Insofern kann man Deutschland und Syrien nicht vergleichen. Wer dies tut, hat keine Ahnung von den Zuständen in Syrien. In Deutschland gibt es diverse Wege der oppositionellen Arbeit, im Parlament und außerhalb, es gibt Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit, sogar ein Widerstandsrecht in unserer Verfassung. In Syrien herrscht dagegen ein totalitäres Verständnis von Macht. Entweder bist du für oder gegen den Herrscher – Freund oder Feind. Und wer gegen das Regime ist, ist ein Terrorist. Die syrische Armee ist die Armee Assads und führt Krieg gegen Zivilisten, deshalb ist Widerstand legitim und sollte nicht mit Terror verwechselt werden.

Wer waren bzw. sind die maßgeblichen militärischen Kräfte in Syrien und von wem werden sie unterstützt?

Aufseiten des Regimes gibt es die Überreste einer Armee, massiv unterstützt durch Russland. Es gibt Milizen mit teils sehr mächtigen lokalen Anführern, die für Assad am Boden kämpfen. Iran befehligt in Syrien viele Tausend Söldner, außerdem kämpft die erfahrene libanesische Hisbollah für Assad.
Auf der anderen Seite haben wir eine komplexe Szene – Abspaltungen, Umbenennungen, wechselnde Allianzen. Inzwischen ist die Gruppe der Regime-Gegner vor allem von Islamisten geprägt. Der Ursprung des bewaffneten Aufstandes waren im Sommer 2011 Deserteure der syrischen Armee, die sich geweigert hatten, auf friedliche Demonstranten zu schießen, und die Freie Syrische Armee (FSA) gründeten. Diese war jedoch nie eine wirkliche Armee, sondern ein Sammelbecken für bewaffnete Gruppen ohne zentrale Hierarchie- und Befehlsstruktur. Aus dem Flickenteppich der zivilen Proteste wurde so ein Flickenteppich des bewaffneten Widerstandes. All diese Gruppen mussten ihre Finanzierung und Bewaffnung selbst organisieren. Amerikaner und Europäer haben immer viel versprochen, aber die Hauptunterstützung für die Rebellen kam nicht aus dem Westen, sondern aus Katar, Saudi-Arabien und der Türkei. Damit einher ging eine zunehmende Islamisierung des Aufstandes, denn ein islamisches Auftreten brachte mehr Geld und Waffen. Wie abhängig und fremdbestimmt manche FSA-Einheiten sind, zeigt sich gerade in Afrin, wo syrische Rebellen als Söldner der Türkei gegen die Kurden kämpfen, statt sich auf ihr eigenes Ziel – den Kampf gegen Assad – zu konzentrieren. Heute ist die Provinz Idlib das letzte große Rebellengebiet, sie wird militärisch vom extremistischen Bündnis Hayat Tahrir al-Sham dominiert, stärkste Fraktion ist die ehemalige Al-Nusra-Front, die wegen ihrer Verbindungen zu Al-Qaida international als Terrororganisation gilt. Das östliche Umland von Damaskus wird von verschiedenen islamistischen Verbänden kontrolliert, gemäßigtere Rebellen sitzen vor allem im Süden des Landes.

Wie sehen Sie den Zusammenhang mit dem Dschihadismus, insbesondere dem IS? Wer hat den IS maßgeblich bekämpft?

Die Dschihadisten kamen zunächst aus dem Irak. Dort hatte sich infolge der US-Besatzung ab 2003 Al-Qaida im Irak gegründet, aus der sich der Islamische Staat im Irak und in der Levante (ISIS) entwickelte. Dieser spaltete sich von Al Qaida ab und wurde zum IS. Als die Dschihadisten nach Syrien expandierten, gingen sie in die vom Regime befreiten Gebiete im Osten des Landes. Das war Assad sehr recht, denn die Extremisten bekämpften dort seine eigentlichen Feinde: den zivilen und gemäßigten Widerstand. Mancherorts gibt es Nachweise für eine militärische Kooperation zwischen Regime und IS, etwa nördlich von Aleppo, wo der IS eine Rebellenhochburg angriff, die zeitgleich von Assad aus der Luft bombardiert wurde. Auch aktuell stellt sich die Frage, wie der IS nach seiner Zerschlagung im Osten des Landes ausgerechnet im Süden der Provinz Idlib wieder auftauchen konnte, wo er in dem Moment oppositionelle Orte angriff, als das Regime und Russland ihre Offensive zur Rückeroberung von Idlib starteten. Jedenfalls war der IS jahrelang Assads Lieblingsfeind, weil er ihn stets als das geringere Übel erscheinen ließ.

Autoren wie Jürgen Todenhöfer oder Dr. Daniele Ganser sagen, die USA, Großbritannien, Frankreich, die Türkei und andere hätten syrische Rebellen mit Waffen und Geld unterstützt.

Das ist korrekt. Der Westen hat syrische Rebellen finanziell und auch mit Waffen direkt unterstützt, aber eben ziemlich planlos und halbherzig. Das heißt, es hätte nie gereicht, um eine militärische Wende des Konfliktes herbeizuführen. Man hat viel versprochen und wenig geliefert, weshalb sich die Rebellen dann wie erwähnt den radikaleren Finanziers zugewendet haben.

Dr. Daniele Ganser behauptete in unserer letzten Ausgabe, die CIA hätte 1 Mrd. Dollar in die Stärkung der syrischen Rebellen und damit in einen illegalen Regime-Change investiert, der in 400.000 Kriegsopfer mündete. Was sagen Sie dazu?

Die CIA hat zwischen 2013 und 2017 die syrischen Rebellen finanziell unterstützt. Dafür gab es ein eigenes Programm. Das Interessante ist, dass diese Unterstützung bald an die Bedingung geknüpft wurde, dass die Rebellen den IS bekämpfen. Das heißt, es ging den USA eben nicht um einen „Regime-Change“ in Syrien, sondern nur um den sogenannten „Krieg gegen den Terror“. Die Rebellen verloren dadurch an Rückhalt in der Bevölkerung, die ja in den meisten Gebieten unter den Bomben Assads und ab 2015 auch Russlands litt. In den Augen vieler Syrer waren diese Kämpfer Vasallen des Westens, der den Staatsterror Assads ignorierte und sich nur um die Dschihadisten kümmerte nach dem Motto: „Assad tötet ja nur Syrer, aber der IS ist auch für uns eine Gefahr.“ Ein gutes Beispiel dafür, wie ignorant und kontraproduktiv westliche Einmischung wirken kann. Denn am Ende waren es die syrischen islamistischen Gruppen, die das Regime am effektivsten bekämpften und dadurch die Menschen vor Ort für sich gewannen.

Foto: Kristin Helberg.

Welche Interessen verfolgen die USA und Europa in Syrien? Welche Interessen haben Russland, Iran und Saudi-Arabien in der Region?

Die USA bekämpfen in Syrien den IS und wollen mit 2.000 bis 4.000 Soldaten im Land bleiben, um ein Wiedererstarken des IS zu verhindern, wie sie sagen. Ihre Hauptverbündeten sind die Syrian Democratic Forces, die von den kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) angeführt werden. Diese lassen sie gerade im Kampf gegen die Türkei im Stich, weswegen sich die Kurden wieder einmal verraten fühlen. Daneben will Präsident Trump vor allem den iranischen Einfluss in der Region eindämmen. Sein Motto – „make America great again“ – bedeutet im Nahen Osten, möglichst viele amerikanische Waffen zu verkaufen, damit die dortigen Regime den Terror bekämpfen. Das ist ein Freibrief für alle Autokraten in der Region, ihre politischen Gegner als Terroristen zu bekämpfen. Ob Saudi-Arabien, Katar oder Ägypten – jeder Herrscher hat seine eigene Definition von Terroristen. Mal sind es Blogger, mal die Muslimbrüder, woanders ein Fernsehsender, ein Prediger oder eine Nichtregierungsorganisation. All diese Leute dürfen jetzt mit Trumps Waffen bekämpft werden. Das ist ein verheerendes Signal. Europa hat in Syrien keinen wirklichen Plan. Hauptsache, es kommen keine Flüchtlinge mehr. Insofern arrangiert sich Europa lieber mit Diktatoren, als deren Gegner zu unterstützen. Ägypten und Saudi-Arabien sind Beispiele dafür, wie Europa autokratische Regime als vermeintliche Stabilitätsgaranten hofiert. Das ist nach den Erfahrungen mit den arabischen Revolten eine ausgesprochen kurzsichtige Außenpolitik. Denn der Nährboden für Extremismus setzt sich aus Perspektivlosigkeit, Unterdrückung und Ungerechtigkeit zusammen. Wer jungen Menschen, die in diesen Ländern die Hälfte der Bevölkerung stellen, keine Chance auf Bildung, Arbeit, sozialen Aufstieg und ein selbstbestimmtes Leben gibt, sondern sie unterdrückt und erniedrigt, schafft genau den Frust, den radikale Gruppen für sich zu nutzen wissen. Der nächste Relaunch des IS ist unter diesen Vorzeichen nur eine Frage der Zeit. Insofern ist Europas Politik absolut kontraproduktiv für die eigenen Ziele, da sie die Radikalisierung von Menschen nur weiter vorantreibt.
Russland möchte als Weltmacht behandelt werden und die Amerikaner als regionale Ordnungsmacht im Nahen Osten beerben, beides ist bereits gelungen. Außerdem hat sich Russland in Syrien wichtige Militärbasen gesichert. Jetzt würde Präsident Putin Syrien lieber aus der Ferne lenken, denn die Intervention ist für Russland sehr teuer. Er will einen zentral gesteuerten, autoritär geführten Staat in Syrien, ob mit oder ohne Assad. Die Iraner sind dagegen nach Syrien gegangen, um dort zu bleiben. Sie haben nicht nur enormen politischen und militärischen Einfluss, sondern sind auch wirtschaftlich und gesellschaftlich präsent. 2017 haben Damaskus und Teheran einige Abkommen unterzeichnet – im Bereich der Phosphorförderung, zur Wiederherstellung des Stromnetzes, für eine eigene Mobilfunklizenz und den Bau eines Mittelmeerhafens. Das heißt der Iran wird Syrien dauerhaft prägen, weshalb manche Syrer bereits von einer „iranischen Besatzung“ sprechen. Faktisch ist der Iran zum Hegemon in der Levante aufgestiegen. Das beunruhigt natürlich Israel und die USA, die von Russland erwarten, den iranischen Einfluss in der Region zurückzudrängen. Dafür ist es allerdings zu spät.
Saudi-Arabien ist in Syrien aktuell weniger engagiert als zuvor, weil es sich im Jemen mit einer kostspieligen und katastrophalen Militärintervention verkalkuliert hat. Die iranische Dominanz in der Region betrachtet Riad mit großer Sorge. Die Türkei will vor allem eine kurdische Autonomie im Norden Syriens verhindern und greift deshalb die von den YPG kontrollierten Gebiete an. Für Präsident Erdogan sind diese wegen ihrer Nähe zur PKK Terroristen, für die USA dagegen die wichtigsten Verbündeten im Kampf gegen den IS. Der Nordosten Syriens war unter kurdischer Selbstverwaltung in den vergangenen Jahren eines der sichersten Gebiete, auch wenn die dort regierende Partei der demokratischen Union (PYD) nicht wirklich demokratisch herrscht. Zehntausende Syrer sind vor Assads Bomben dorthin geflüchtet. Sollte Erdogan seine Ankündigung wahr machen und die YPG bis an die irakische Grenze bekämpfen, wäre das eine weitere Katastrophe für Syrien.

Geht es bei dem Konflikt in Syrien auch um Rohstoffe? Dr. Daniele Ganser behauptete, es ginge um ein gigantisches Erdgasfeld außerhalb des syrischen Staatsgebietes im Persischen Golf.

Es gab in der Vergangenheit immer wieder westliche Interventionen, die wegen Rohstoffen geführt wurden. Die besten Beispiele sind der CIA-Coup im Iran 1953 oder der Einmarsch im Irak 2003, bei denen es jeweils um die Sicherung von Erdölquellen ging. Deswegen neigen wir dazu, alle aktuellen Konflikte durch die „Rohstoff-Brille“ zu betrachten. Weil aber Syrien selber über so wenige Rohstoffe verfügt, wurde eine Pipeline-Theorie erfunden, um auch den Syrienkonflikt als westlichen Regimewechsel darstellen zu können. Leider erfreut sich diese Theorie gerade unter linken, ökologisch denkenden und friedensbewegten Menschen einer großen Verbreitung. Dabei taugt sie nicht als monokausale Erklärung dieses Krieges. Denn wenn man sich die Fakten anschaut, was die KollegInnen von Adopt a Revolution getan haben, erweist sich die Pipeline-Theorie als falsch.
Ihr zufolge soll Präsident Assad eine Gas-Pipeline von Katar über Saudi-Arabien, Jordanien, Syrien und durch die Türkei nach Europa verhindert und damit den Westen verärgert haben. Fakt ist, dass Verhandlungen über eine solche Pipeline im Spätsommer 2009 geführt wurden und es keine Hinweise darauf gibt, dass Assad diese abgelehnt hatte. Im Gegenteil, im November 2009 berichtete die syrische Staatspresse mit großer Euphorie über das Projekt, der syrische Ölminister äußerte sich optimistisch, dass katarisches Gas bald durch Syrien strömen würde. 2010 berichtete eine emiratische Zeitung, das größte Hindernis für dieses Projekt sei Saudi-Arabien. Es gibt schlicht keinen Beweis dafür, dass Syrien vor Ausbruch der Revolution 2011 gegen diese Gas-Pipeline war.
Eine weitere These lautet, dass Assad statt der katarisch-saudischen lieber eine Pipeline aus dem Iran in Richtung Europa bauen wollte, über Irak, Syrien und den Libanon. Die Pläne für diese Pipeline stammen aus dem Sommer 2011, da war die Revolution in Syrien bereits seit Monaten im Gange. Ihr Verlauf macht rein wirtschaftlich betrachtet wenig Sinn, weil man Erdgas vom Iran direkt über die Türkei nach Europa bringen kann – ohne den unsicheren Umweg über Irak, Syrien und den Libanon, wo man das Erdgas außerdem aufwendig verflüssigen und mit Schiffen nach Europa transportieren müsste. Diese Pipeline wäre also viel teurer und gefahrvoller als der direkte Weg Iran – Türkei – Europa. Auch das ist deshalb kein Grund, Syrien anzugreifen.
Das wirklich Tragische an dieser Argumentation ist, dass Hunderttausende Syrer zu Marionetten degradiert werden, die angeblich im Auftrag der CIA oder von ihr angestachelt auf die Straße gegangen wären, um ihr Regime zu stürzen. Dahinter verbirgt sich eine extrem paternalistische Denkweise – ausgerechnet bei jenen, die sich gerne anti-imperialistisch geben. Denn sie sprechen den Menschen in Syrien damit ihre Fähigkeit und auch ihr Recht auf Widerstand ab. Nach dem Motto „ohne die CIA kämpft in Nahost niemand für seine Rechte“. Das ist ein Schlag ins Gesicht für jeden Syrer, der im Kampf gegen das Assad-Regime sein Leben riskiert hat.

War der Syrienkrieg Ihrer Meinung nach also nicht der Versuch eines „Regime-Change“ durch den Westen bzw. die Nato?

Die Pläne für einen Regime-Change stammen aus der Zeit von US-Präsident George W. Bush. Nach dem 11. September 2001 setzten die USA im Namen des „Antiterrorkriegs“ verschiedene Regime auf ihre „Achse des Bösen“ – darunter auch Syrien. Die Idee war, sie im Rahmen eines „Greater Middle East“-Planes mit US-freundlichen Regimen zu ersetzen. Diese Pläne waren spätestens 2009 Vergangenheit, denn Bushs Nachfolger Obama wollte sich nicht mehr militärisch einmischen. Nach der Libanonkrise wurde Assad wieder von der Persona non grata zum Partner, Europa wollte seine Kontakte zu Hamas und Hisbollah nutzen, um den Konflikt zwischen Israel und Palästina zu entschärfen. Im Sommer 2008 feierte Assad in Paris sein Comeback in der internationalen Staatengemeinschaft, Frankreichs Präsident Sarkozy fuhr im Mai 2010 nach Damaskus. Der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier war bereits Ende 2006 in Damaskus gewesen. Die EU und Syrien planten ein Assoziierungsabkommen, die USA schickten im Januar 2011 wieder einen Botschafter nach Damaskus. Mit Regime-Change hatte das alles nichts zu tun. Hätte jemand nach 2011 angesichts der Verbrechen Assads einen Regime-Change gewollt, hätte es genügend Gründe und Anlässe dafür gegeben. Deshalb behaupten viele Syrer das genaue Gegenteil: Der Westen habe Assad schon immer an der Macht halten wollen und deshalb nichts zu ihrer Rettung unternommen.

Warum gibt es eine solche Diskrepanz zwischen Ihren Aussagen und den Stellungnahmen anderer Experten? Sind wir Opfer staatlich gelenkter Propaganda?

Ich denke, das ist eine Frage der Sichtweise. Es gibt Kollegen, die alles aus der geostrategischen Vogelperspektive analysieren. Sie haben Erklärschablonen für die Konflikte dieser Welt entworfen: der Westen will Regime-Change, der Westen will den Iran schwächen, der Westen will Rohstoffe, es herrscht ein Kampf der Kulturen, Sunniten kämpfen gegen Schiiten usw. Wenn die Schablone nicht passt, wird sie mit entsprechenden Argumenten passend gemacht. Diese Vogelperspektive entspricht aber nicht der Realität, denn diese ist viel komplexer und vielschichtiger. Sie ist für mich eine unzulässige Vereinfachung, vor allem weil die Menschen vor Ort nur als Opfer oder Statisten vorkommen, als ob sie das Geschehen nicht maßgeblich beeinflussen würden.
Ich versuche im Gegensatz zu diesen Kollegen, syrische Perspektiven stärker zu gewichten. Denn um wen sollte es uns in diesem Krieg gehen wenn nicht die Syrer selbst? Ich bin fest überzeugt: Solange wir die Wahrnehmungen der Menschen vor Ort nicht in den Mittelpunkt unserer Analysen stellen, können wir den Konflikt nicht verstehen und auch nicht lösen. Deshalb erkläre ich seit Jahren, was westliche Interessenpolitik bei den Leuten in Syrien auslöst – Wut und Verzweiflung. Die Menschen wollen Schutz vor Bomben, nicht noch mehr Bomben. Der Himmel über Syrien ist voller Kampfjets, aber kein einziges Flugzeug fliegt dort, um die Bevölkerung vor Bomben zu schützen. Alle fliegen nur, um für die eigenen Interessen zu bombardieren. Welche Heuchelei! Jahrelang haben westliche Politiker argumentiert: keine Schutz- oder Flugverbotszonen, keine militärische Intervention ohne UN-Mandat. Als es aber darum ging, nach den Anschlägen von Paris im Herbst 2015 den IS zu bekämpfen, haben wir wenige Wochen später unsere Tornados nach Syrien geschickt – ohne UN-Mandat. Das bedeutet: Für den Schutz von Zivilisten bestehen wir auf ein UN-Mandat, für die Beihilfe zur Bombardierung von Städten im Kampf gegen den Terror brauchen wir keines. Aus syrischer Sicht ist das verlogen und zynisch. Um diese Perspektive geht es mir.

Gibt es überhaupt Wahrheit in der Kriegsberichterstattung und wieso sollten wir Ihren Quellen glauben?

In jedem Krieg gibt es verschiedene Sichtweisen. Es kommt immer darauf an, wen man fragt und wo dieser Mensch sich befindet. Jeder hat eine eigene Version dieses Krieges. Das bedeutet, wenn ich den Konflikt durchdringen will, brauche ich möglichst viele Quellen. Tatsächlich gibt es eine Fülle an Informationen aus und zu Syrien, die es einzuordnen gilt. Das erfordert aber eine große Sachkenntnis des Landes und der Gesellschaft.
Als durchreisender Beobachter werden Sie von Menschen in Regierungsgebieten nichts Kritisches hören, nicht einmal in ihrem eigenen Wohnzimmer, denn sie haben berechtigte Angst. Wer einen Posten innehat – als Schulleiter, Chef eines Klärwerkes oder Vorsitzender der Handelskammer –, bekennt sich zu Assad, weil er sonst am nächsten Tag diesen Posten nicht mehr hat. So einfach ist das. Die syrische Gesellschaft ist gleichgeschaltet. Die Menschen sind eingeschüchtert. In Syrien braucht es daher ein tiefes Verständnis der Gesellschaft und des Regimes. Einfach mal hinfahren und die Wahrheit suchen, wie Herr Todenhöfer das gerne macht, kann deshalb peinlich enden. Die Händler in Homs auf Englisch zu fragen, „Assad gut oder schlecht?“, und dann aus den vielen hochgehaltenen Daumen zu schließen, dass Assad sich großer Beliebtheit erfreue, ist im besten Fall naiv, im schlimmsten Fall böswillig-ignorant.
Was Verbrechen angeht, gibt es nur eine Wahrheit. Denn es gibt Täter und Opfer. Alle Kriegsparteien in Syrien begehen Verbrechen, aber die meisten Zivilisten sterben durch das Regime. Eine sehr effektive Strategie des Regimes ist es, Tatsachen so vehement zu verleugnen und zu verdrehen, dass die Wahrheit als eine von mehreren möglichen Versionen erscheint. Das sehen wir beim Thema der Giftgasangriffe, beim Abwurf von Fassbomben, bei der Bombardierung von Krankenhäusern. In Interviews bestreitet Präsident Assad das alles. Aber diese Verbrechen sind so gut dokumentiert und nachgewiesen, dass sie sich nicht leugnen lassen. Es gibt eine Fülle von Berichten internationaler Nichtregierungsorganisationen wie Amnesty International, Human Rights Watch, Ärzte ohne Grenzen, wir haben die Recherchen der Organisation für das Verbot chemischer Waffen, seit 2011 verfasst eine UN-Untersuchungskommission zu Syrien regelmäßig Berichte über Menschenrechtsverletzungen. Sie alle belegen die vielfältigen Angriffe auf Zivilisten umfangreich und glaubhaft. Internationale Strafverfolger sagen, sie hätten noch nie so viele gute Beweise für Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit gesehen wie in Syrien. Nicht in Ruanda, nicht in Nürnberg, nicht auf dem Balkan. Denn im Falle Syriens gibt es neben unzähligen Zeugenaussagen mehr als eine Million schriftlicher Dokumente und die Fotos des Militärfotografen Caesar, die beweisen, mit welcher Systematik das syrische Regime Menschenleben vernichtet. Es geht also nicht um „meine“ Quellen, sondern um Detailkenntnis von öffentlichen Informationen. Wer diese nicht sieht oder sie immer noch als westliche Propaganda zum Zwecke eines Regime-Change abtut, ist ideologisch verblendet.

Wie ist die Lage aktuell? Ist der Krieg bald beendet? Wie ist wahrer Frieden in Syrien und der Region möglich?

Foto: Kristin Helberg.

Der Krieg ist noch nicht vorbei. Das Regime arbeitet weiter an einer militärischen Lösung und möchte sämtliche Deeskalationszonen zurückerobern. Das sehen wir aktuell in Idlib und im östlichen Umland von Damaskus. Dort werden 400.000 Menschen seit viereinhalb Jahren ausgehungert und bombardiert. Kinder, Alte und chronisch Kranke sterben an Unterernährung oder mangelnder medizinischer Versorgung – zehn Kilometer von den gut gefüllten UN-Vorratslagern in Damaskus entfernt. Es ist eine Schande.
Assad wird bis auf Weiteres an der Macht bleiben, hat diese Macht aber bereits an seine Unterstützer verloren. Ohne Russland und Iran als ausländische Schutzmächte und ohne die syrischen Milizenführer, die für ihn vielerorts kämpfen, könnte Assad nicht überleben. Diese lokalen Kriegsherren haben kein Interesse an einem Ende des Konflikts, denn sie sind durch den Krieg reich und mächtig geworden. Sie führen sich auf wie Gangster, Assad muss sie mit Geld und Einfluss ruhigstellen. Auch syrische Geschäftsleute, die Assad die Treue gehalten und von der Kriegsökonomie profitiert haben, wollen jetzt beim Wiederaufbau richtig abkassieren. All diese Gruppen betrachten Assads Sieg als Chance, um sich weiter zu bereichern und die eigene Macht zu sichern. Mit diesen Leuten hat Syrien keine Zukunft.
Insofern haben sich die ursprünglichen Ursachen des Aufstandes durch den Krieg noch verstärkt – Willkür und Unterdrückung, Klientelismus und Korruption. Das, was die syrische Gesellschaft eigentlich bräuchte – Stabilität ohne Angst, Aussöhnung, Mitsprache, Gerechtigkeit und Chancengleichheit –, ist mit Assad und den Garanten seiner Macht nicht denkbar. Deswegen wird es keinen stabilen Frieden geben, solange Assad an der Macht ist. Wobei es nicht um seine Person geht, sondern um das System dahinter. Die Geheimdienste müssen entmachtet, die Foltergefängnisse abgeschafft und staatliche Institutionen vom Einfluss des Regimes befreit werden. Die Hauptverantwortlichen für die Verbrechen müssen zur Rechenschaft gezogen werden und die Menschen in Syrien sollten ohne Angst und in Würde leben können. Erst dann wird die Mehrheit der Syrer in ihre Heimat zurückkehren. Wenn wir in Europa also wollen, dass diese Leute nach Hause gehen, müssten wir uns für eine andere Syrienpolitik starkmachen.
Ich habe dazu fünf konkrete Vorschläge. Erstens sollte die Bundesregierung die deutsche Militärintervention beenden und das dadurch gesparte Geld – eine halbe Million Euro täglich – für die Versorgung der Syrer im Libanon und in Jordanien einsetzen. Zweitens sollte Berlin seine Beziehungen zum syrischen Regime nicht normalisieren. Drittens sollte sich Europa nicht an Assads Wiederaufbau beteiligen – er dient der Belohnung seiner Anhänger, der Bestrafung seiner Gegner (die zum Teil enteignet werden) und der Verfestigung demografischer Veränderungen. Jeder Euro, den wir in bester Absicht nach Damaskus schicken, landet beim Regime und stärkt Strukturen, die Frieden verhindern. Viertens sollte Deutschland eine Führungsrolle bei der juristischen Aufarbeitung von in Syrien begangenen Kriegsverbrechen übernehmen. Und fünftens sollten wir zivilgesellschaftliches Engagement noch mehr unterstützten – den zivilen Widerstand in Syrien und auch Aktivisten, die nach Deutschland geflohen sind. Sie sind die Zukunft Syriens.

Frau Helberg, herzlichen Dank für das interessante Gespräch.


Bücher

Bildergebnis für Brennpunkt Syrien Einblick in ein verschlossenes LandKristin Helberg
Brennpunkt Syrien Einblick in ein verschlossenes Land
Herder-Verlag, 2014,
2. Auflage
304 Seiten, 9.99 Euro
978-3-451-06544-6

 

Bildergebnis für Verzerrte Sichtweisen – Syrer bei uns

Kristin Helberg
Verzerrte Sichtweisen – Syrer bei uns
Herder-Verlag, 2016
272 Seiten, 24.99 Euro
978-3-451-80756-5

 

 

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