„Deutschland hat sich verwählt: Zukunft … kein Anschluss unter dieser Nummer!“
19. Oktober 2017
Liebe Mitglieder,
Freundinnen und Freunde,
an den Anfang sei der Dank gestellt an alle, die mit Mut und Tatkraft unseren Bundestagswahlkampf begleitet haben: Kandidatinnen und Kandidaten, Mitglieder, Spender, Wählerinnen und Wähler.
Wie Worte finden, wenn das Ergebnis vom 24. September sprachlos macht? Nach 31 Jahren ÖDP-Zugehörigkeit bin ich einiges gewöhnt; ein Stehauf-Weibchen mit dem festen Willen: jetzt erst recht! Was ist diesmal anders?
Selten habe ich als Kandidatin so viel Ausgrenzung erfahren, ob durch Verbände oder Presseorgane. Noch nie habe ich erlebt, dass die wirklich wichtigen Zukunftsfragen so gut wie keine Rolle gespielt haben. Die vermeintlich wichtigste Frage lautete: Wer wird dritte Kraft und wie können Merkel und die AfD verhindert werden? Das gipfelte zwei Tage vor der Wahl in dem Aufruf von campact: „Wer Kleinstparteien wählt, nutzt im Kampf gegen Rechts seine Stimme nicht optimal. Wer die AfD maximal schwächen will, muss Union, SPD, Linke, Grüne oder FDP wählen!“
Taktisches Wählen hat beides nicht verhindert, aber alles untergehen lassen, was im Wahlkampf auf die Tagesordnung gehört hätte. Die großen, langfristigen Themen wurden schlicht ignoriert. Richard David Precht, Publizist und Honorarprofessor für Philosophie, äußerte sich bei Markus Lanz über die „Verweigerung eines Wahlkampfs“. Ich stimme ihm zu, wenn er beklagt, dass die gesamten gesellschaftlichen Umbrüche durch die Digitalisierung, die das Land nicht nur etwas moderner macht, sondern eine völlig neue Gesellschaft/Arbeitswelt erzeugen wird, weder politisch noch gesellschaftlich diskutiert werden. Wo beispielsweise beschäftigt sich eine Ethikkommission mit derlei Fragen, wenn schon die Entwicklung völlig undemokratisch an uns vorbeiläuft? Er benennt unmissverständlich, dass unsere Art zu wirtschaften auf Kosten unserer Enkel geht, und beschreibt genau, was passiert, wenn alle so wirtschaften wie wir. Wir werden in wenigen Jahrzehnten unseren Lebensraum unwiederbringlich zerstört haben.
Für Precht ist das ökologische Thema selbst bei den Grünen in den falschen Händen. Migration wird als das dritte große Thema benannt. Precht beklagt den völlig falschen Ansatz. Er will flüchtlingspräventiv mit den Ländern zusammenarbeiten, um die Not zu lindern und Chancen zu eröffnen, statt in die Rüstung zu investieren. Und so weiter und so fort.
Precht liest aus unserem ÖDP-Programm, er weiß es nur nicht!
Der Beitrag gipfelt in der Frage von Markus Lanz: „Warum traut sich keiner, das zu tun, was wirklich Sache ist?“ Precht spricht von der Angst der Politiker, den Wählern Angst zu machen, und fordert: „Wir müssen unser Lebensmodell umstellen. Das erzählen die Grünen ihren Wähler nicht und das erzählen uns alle anderen auch nicht.“
Alle anderen? Nein. Wir schon, allerdings um den Preis, von nur wenigen, viel zu wenigen gewählt zu werden. Und wieder scheint sich eine wahlanalytische Erkenntnis zu bewahrheiten: Gewählt wird man nur, wenn man den Menschen verspricht, dass möglichst alles so bleibt, wie es ist.
Liebe Freundinnen und Freunde, es darf nichts so bleiben, wie es ist. In der „großen“ Politik nicht und in der ÖDP auch nicht. Nach diesem Wahlsonntag können wir, dürfen wir nicht zur Tagesordnung übergehen. Wir müssen Fehler ebenso analysieren wie wir uns möglicherweise „neu erfinden“ müssen. Und ich wünsche mir, dass manch „alter Hase“ seine Enttäuschung überwinden kann, weil diejenigen, die uns neu entdeckt haben, uns Mut machen:
Ein Neu-Mitglied schreibt: „Insgesamt glaube ich, dass der Wandlungsprozess weg von der individualisierten Konsumgesellschaft hin zur gemeinwohlorientierten Nachhaltigkeit und Genügsamkeit eine Wandlung, ein Wandlungsprozess von kolossalem Ausmaß ist und wir hier viel Geduld brauchen werden …“
Und ein weiteres neues Mitglied schreibt: „Ich habe mich nach langem Überlegen heute dazu entschlossen, der ÖDP beizutreten. Ich möchte mich politisch engagieren und die ÖDP bildet hier für mich die einzige Möglichkeit. Denn diese Partei bietet ein Konzept, das es uns ermöglichen wird, ein nachhaltiges, gemeinsames und glückliches Leben auch in 50 Jahren zu führen.“
Lassen wir uns von dieser Hoffnung anstecken und mitreißen. Mein Lieblingsdichter Hermann Hesse will uns gleichsam anstiften: „Heute liegt die politische Vernunft nicht mehr dort, wo die politische Macht liegt. Es muss ein Zustrom von Intelligenz und Intuition aus nichtoffiziellen Kreisen stattfinden, wenn Katastrophen verhütet oder gemildert werden sollen.“ Und: „Es fehlt nicht an Autoren, deren Verzweiflung an unserer Zeit und deren Angst vor dem Chaos echt ist. Es fehlt aber an solchen, deren Glaube und Liebe ausreicht, sich selbst über dem Chaos zu halten.“
Ich hoffe und wünsche mir sehr, dass wir uns über dem Chaos halten können und Wege finden, wie wir als ehrliche und konstruktive politische Kraft Menschen erreichen können, um sie für die „ÖDP-Lösungen für die Zukunft“ zu begeistern. ÖDP, das ist nicht nur eine Partei oder ein Programm; ÖDP, das ist gleichermaßen Haltung und Lebensaufgabe, vielleicht auch ein Liebesdienst gegenüber allem, was wir uns vertraut gemacht haben und für das wir Verantwortung tragen.
Abschließend muss ich nochmals den Bundespräsidenten a. D. Horst Köhler aus seiner Rede „Die große Transformation in Zeiten des Unbehagens“ zitieren:
„Es gibt keine Veränderung ohne Widersprüche, ohne Konflikte. Aber ich bin fest davon überzeugt, wenn diese Konflikte auf den Tisch gebracht und kenntlich gemacht werden, die Komplexität nicht verschwiegen wird, dann verliert Politik nicht an Glaubwürdigkeit, sondern gewinnt sie.“
Lassen Sie uns gemeinsam weiter eine Hoffnungsgeschichte erzählen.
Ihnen allen eine besinnliche Adventszeit!
Ihre
Gabriela Schimmer-Göresz, Bundesvorsitzende