„Die Zeit-ist-Geld-Logik kennt kein Genug“
14. Juli 2017
Nahezu alle Lebensbereiche scheinen sich zu beschleunigen. Zeitdruck und Stress nehmen zu – auf Kosten von Wohlbefinden und Gesundheit. Doch was fehlt uns eigentlich, wenn wir über zu wenig Zeit klagen? Was vermissen wir? An was mangelt es? Es ist nicht die pure Zeit, die uns fehlt, behauptet ein Zeitforscher, sondern etwas anderes.
Interview mit Prof. Dr. Karlheinz A. Geißler
ÖkologiePolitik: Herr Prof. Geißler, woher kommt das Gefühl, dass die Zeit immer schneller vergeht?
Prof. Dr. Karlheinz A. Geißler: Die Zeit an sich vergeht nicht immer schneller, wir Menschen stopfen nur immer mehr in sie hinein. Früher gab es nur ein paar Fernseh- und Radioprogramme, heute erheblich mehr, dazu noch Internet, Smartphone, WhatsApp, Facebook und Twitter. Wir lassen uns permanent überschütten mit Nachrichten, nehmen immer mehr Ereignisse wahr. Die Informationsdichte wird immer größer – und das verdichtet unsere Zeit. Deshalb empfindet sich der heutige Mensch als gehetzt. Er wünscht sich, mehr Zeit zu haben, obwohl er eigentlich immer mehr davon hat. Die Lebenserwartung hat sich in Deutschland in den letzten 130 Jahren verdoppelt und liegt nun bei 80 Jahren. Zugleich hat sich die Arbeitszeit von rund 60 auf weniger als 40 Wochenstunden verringert. Aber wir überfrachten unseren Alltag – und das macht die Zeit eng. Wir haben nicht zu wenig Zeit, sondern in ihr zu viel zu tun. Zeit zu sparen ist der größte Volkssport des westlichen Menschen. Und die vermeintlich gewonnene Zeit wird dann umgehend wieder verplant – und zum Zeitsparen verwendet.
Warum beschäftigen Sie sich so intensiv mit der Zeit?
Seit ich im Alter von fünf Jahren an Kinderlähmung erkrankte, war ich mein ganzes Leben zur Langsamkeit gezwungen. Zunächst lag ich ein Jahr im Bett und musste anschließend aufgrund der Krankheitsfolgen viele Nachteile erleiden. Irgendwann habe ich mich gefragt, ob ich etwas kann, was andere nicht können. Nun, ich kann beispielsweise gut warten, was unsere Gesellschaft weitgehend verlernt hat. Und ich habe ein gutes Gespür für meinen eigenen Körper-Rhythmus.
Tragen Sie deshalb seit 30 Jahren keine Uhr?
Ja! Ich habe aber auch schon vorher Uhren eher selten getragen. Uhren sind moderne Diktatorinnen. Ich ertrage sie, aber ich trage sie nicht auch noch. Und ich lasse mich auch nie von einem Wecker wecken. Trotzdem wache ich jeden Morgen um 8 Uhr auf – allerdings nicht ganz exakt, sondern ein paar Minuten früher oder später. Unser Körper ist – wie alle Natur – rhythmisch organisiert. Die Uhr drängt ihm ein völlig anderes Muster der Zeitorganisation auf: den Takt. Und das ist nicht gut für ihn.
Wo liegt der Unterschied zwischen Rhythmus und Takt?
Der Rhythmus ist Wiederholung mit Abweichung. Der Takt ist Wiederholung ohne Abweichung. Bei einer Uhr dauert eine Minute exakt 60 Sekunden. Wäre sie rhythmisch, wäre ein Minute einmal 65 und einmal 55 Sekunden lang. Der Takt ist präzise – und läuft damit unserer Natur zuwider. Das menschliche Herz schlägt auch nicht im Takt, sondern rhythmisch. Wir ignorieren unsere Natur. In weniger „entwickelten“ Ländern legen sich die Menschen hin, wenn sie müde sind, und schlafen. Sie reagieren auf ihre Natur. In Deutschland ist das heute undenkbar. Dass wir unsere Natur, unsere Rhythmen nicht beachten, ist wohl ein Grund dafür, weshalb bei uns so viele Menschen Zeitprobleme haben und einen Herzinfarkt oder Burn-out erleiden.
Wie kam es zum Diktat des Takts?
Durch die Erfindung der mechanischen Uhr vor rund 600 Jahren – wahrscheinlich von einem Mönch in einem Kloster bei Mailand. Sie sollte eigentlich nur dazu dienen, die Gebetszeiten besser einzuhalten, entfaltete dann aber eine weit darüber hinausgehende Wirkung. Bis dahin hatten sich die Menschen an den Rhythmen der Natur orientiert: an der Sonne. Sonnenaufgang und -untergang bestimmten die Tageslänge. Die Zahl der Stunden war immer gleich und die Länge der Stunden entsprechend unterschiedlich. Das änderte sich mit der Einführung mechanischer Uhren. Wahrscheinlich hätte der Mönch seine Erfindung zurückgezogen, wenn er geahnt hätte, was er damit auslöst.
Was löste er denn aus?
Bis dahin war für die Menschen allein Gott der Herrscher über die Zeit. Durch die Uhr gehörte sie jetzt auch den Menschen. Sie begannen sich als selbstständiges, gestaltendes Individuum zu betrachten – vor allem die Kaufleute in den großen Handelsstädten wie Mailand, Florenz, Venedig, Genua und Pisa. Durch die Uhr konnten sie ihr Tun präziser organisieren. Sie entfernten Natur und Glauben aus der Zeit und füllten die Leere mit einem neuen Inhalt: mit Geld. Die ersten Banken wurden gegründet, das Zinsverbot aufgehoben, die doppelte Buchführung erfunden, auch die ersten Versicherungen – letztlich der moderne Kapitalismus. „Time is money“, lautet sein Motto – formuliert im Jahr 1748 von Benjamin Franklin, einem der Gründerväter der USA.
Wie war das in anderen Kulturen?
Als die Jesuiten im 17. Jahrhundert nach China reisten, brachten sie dem Kaiser schöne Schmuckuhren als Geschenk mit, doch der hatte dafür keine Verwendung und lagerte sie in der Spielzeugabteilung seines Palastes. Die Japaner hatten bis 1871 nicht einmal ein Wort für die Zeit und deshalb auch keine Zeitmessung.
Wie hat sich die Uhr auf unseren Alltag ausgewirkt?
Seit dem 19. Jahrhundert hat sich unsere durchschnittliche Schlafdauer um zwei Stunden reduziert, seit den 1970er-Jahren um eine halbe Stunde. Wenn Zeit Geld ist, dann ist der Schlaf ein Skandal. Heute sind wir immer online, können immer konsumieren, immer irgendetwas tun. Wir nehmen uns auch weniger Zeit für Mahlzeiten – und für viele andere Dinge. Das Abitur wird nach zwölf Schuljahren gemacht, ein Kurz-Studium mit dem Bachelor als Abschluss ist möglich. Früher mit der Schule fertig, früher mit dem Studium fertig – das alles, um früher dem Arbeitsmarkt zu dienen. Und dort geht der Wahnsinn dann weiter. In den 1970er-Jahren haben leitende Angestellte im Jahr ungefähr 1.000 Nachrichten bearbeitet, heute sind es 30.000. Das überfordert die Menschen irgendwann.
Ist das Profitstreben der Wirtschaft die Ursache?
Ja, aber nicht nur. Auch der Bedeutungsverlust der Religion spielt eine Rolle. „Du lebst nur einmal“, lautet das Motto des modernen Menschen. Und deshalb will er so viel wie möglich in seine begrenzte Lebenszeit pressen – egal was. „Beschleunigung wird zum Ewigkeitsersatz“, sagt der Soziologe Hartmut Rosa.
Was empfehlen Sie als „Heilmittel“?
Mehr Ruhe, mehr Gelassenheit, mehr Stabilität: vor allem durch Rituale. Das kann eine Kaffeepause sein, bevor man mit etwas Neuem beginnt, oder eine Pause, ein Spaziergang, ein Spiel mit den Kindern. Rituale entlasten von Zeitentscheidungen. Stress entsteht auch, wenn zu viel über Zeit entschieden werden muss. Wiederholungen reduzieren Stress. Wir sollten die Zeit wie einen Käse betrachten, wie einen Emmentaler, mit festen Teilen und mit Löchern. Das Feste sind die Rituale. Sie formen die Löcher, die dann mit verschiedenen Aktivitäten gefüllt werden können. Die Zeit braucht eine klare Struktur, braucht Anfänge, Abschlüsse und Übergänge. Ich mache beispielsweise nur wenige Termine – und keine direkt hintereinander, sondern mit vielen Spielräumen dazwischen. Ich leiste mir den Luxus, elastisch mit der Zeit umzugehen, das mir angenehme und angepasste Tempo zu bestimmen. Das ist eine andere Form von Wohlstand. Geld- und Güterwohlstandsgewinne tausche ich in Zeitwohlstandszuwächse.
Was machen Sie in der Zeit zwischen zwei Terminen?
Ich genieße sie. Wartezeiten bieten Gelegenheiten, mit Menschen zu reden, mit denen ich sonst nie rede, etwas zu betrachten, was ich sonst nie wahrgenommen hätte. Wartezeiten fördern die Fantasie und die Kreativität. Mir werden schlagartig Dinge klar, die mir vorher unklar waren. Mir fallen Dinge ein, die mir sonst nie eingefallen wären. Die Zeit des Wartens ist eine sehr produktive Zeit.
Welche Rituale pflegen Sie?
Vor allem Übergangsrituale von einem Tun zum anderen. Zwischen Frühstück und Arbeitsbeginn lese ich die Zeitung. Zwischen dem Schreiben mit der Hand und dem Übertrag in den Computer mache ich mir einen Espresso – selbstgemacht, ohne Automat. Ich mache eine etwa 80-minütige Mittagspause mit einem 10-minütigen Kurzschlaf, anschließend wieder ein Espresso und dann Fortsetzung der Arbeit.
Ist ein Sabbatical geeignet, dem Burn-out zu entkommen?
Wenn es auch als Zeit der Ruhe, des Zusichkommens und des Nachdenkens genutzt wird: ja. Aber meist wird es das nicht, häufig wird es zur Ablenkung und zur Flucht genutzt. Wir haben das Nichtstun verlernt. Nichtstun gilt als verlorene Zeit, als Skandal, als etwas Unerträgliches. Es ist heute doch auffällig: Sobald irgendwo eine Pause ist, in der nichts zu tun ist und nichts passiert, wird sofort mit dem Smartphone gespielt. Dieses ständige Aktivsein überfordert uns aber auf Dauer. Wir brauchen ein rhythmisches Wechselspiel von Aktivität und Passivität, von Schnelligkeit und Langsamkeit, Flüchtigkeit und Dauer. Das muss in den Alltag integriert werden. Wellness-Wochenenden werden meist gemacht, um in der Arbeit weiterhin zu funktionieren, besser zu funktionieren, und nicht um Distanz zum Alltagstrubel zu bekommen. Doch genau das wäre sinnvoll.
Liegt da die Hauptverantwortung beim Einzelnen?
Prinzipiell ja, aber das grenzenlose Wachstums- und Beschleunigungsstreben unserer Ökonomie widerspricht den Rhythmen des Lebens eklatant. Ihre Zeit-ist-Geld-Logik kennt kein Genug. Ihr Konkurrenzsystem führt zu permanenter Unruhe. Sich dem zu widersetzen, ist nicht einfach. Dazu braucht es Mut und Entschlossenheit – und vor allem: bewussten Verzicht. Gerade angesichts der ständigen Zunahme an Optionen, etwas zu tun, leiden viele Menschen heute nicht nur an dem, was sie machen, sondern auch an dem, was sie gerade nicht machen. Da braucht es einfach klare und konsequente Entscheidungen, was in einer Situation gerade dran ist und was nicht. Man muss lernen, in sich hineinzuhorchen, Prioritäten zu setzen und öfter Nein zu sagen. Um Zeit zu haben, muss man nichts tun, um keine Zeit zu haben, ganz viel!
Sollten wir neben dem Alltag auch unser Leben rhythmisieren, in Phasen verschiedener Zeitqualitäten gliedern?
Auf jeden Fall. Ich bin ja nun auch schon 72 Jahre alt und noch recht aktiv. Es ist sicher nicht gut, im Berufsleben unter Dauerstress zu stehen und sich dann im Ruhestand zu langweilen. Besser wäre, das „Rentenalter“ über das ganze Leben zu verteilen. Es sollte die Möglichkeiten geben, mal eine längere Phase „Zeit für sich“ zu haben oder Zeit, um einen Angehörigen zu pflegen – und dafür finanziell abgesichert zu sein.
Oder um seine Kinder zu erziehen?
Genau. Dafür sollte ein Elterngeld in angemessener Höhe gezahlt werden. Man sollte auch in der Mitte des Lebens mal über einen längeren Zeitraum langsam sein dürfen – und im Alter schnell. Was unserer Gesellschaft und ihren Mitgliedern gut täte, das ist mehr Zeitvielfalt.
Was ist Zeit eigentlich?
Eine allseits zufriedenstellende Definition gibt es nicht. Zeit ist eine Vorstellung vom Werden und Vergehen. Zeit ist für uns das, was für Fische das Wasser ist: das Element, in dem wir uns bewegen. Wenn wir die Zeit mit einem Fluss vergleichen, dann weist der Untiefen, Verwirbelungen, Stromschnellen, Verästelungen, Schleifen und Seitenarme auf. Das Zeitverständnis der Techniker und Ökonomen dagegen ähnelt einem begradigten und in ein Kanalbett gezwängten Fluss. Es herrscht hier keine Zeitvielfalt mehr, sondern nur noch Zeiteinfalt. Wir brauchen aber nicht nur Stunden, sondern auch Stündchen, nicht nur Termine, sondern auch Augenblicke, nicht nur Fortschritt, sondern auch Stillstand und Rückschau. Das, was unser Leben lebens- und liebenswert macht, sind vor allem die Zeiten, die wir nicht zählen und nicht verplanen. Zeit zu sparen spart keine Zeit, sondern Leben, Erfahrungen und Erlebnisse. Nur wenn ein Menschenrecht auf Zeit zugleich auch als Naturrecht auf eine eigene Zeitnatur verstanden und akzeptiert wird, lässt sich maßvoll, zufrieden, gesund und würdig leben.
Herr Prof. Geißler, herzlichen Dank für das interessante Gespräch.
Buchtipps
Karlheinz A. Geißler, Jonas Geißler
Time is honey
Vom klugen Umgang mit der Zeit
oekom, März 2015
256 Seiten, 17.95 Euro
978-3-86581-706-8
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Karlheinz A. Geißler
Alles hat seine Zeit, nur ich hab keine
Wege in eine neue Zeitkultur
oekom, Februar 2014
272 Seiten, 12.95 Euro
978-3-86581-465-4
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Karlheinz A. Geißler
Enthetzt Euch!
Weniger Tempo – mehr Zeit
Hirzel, August 2013
248 Seiten, 19.80 Euro
978-3-7776-2357-3
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Karlheinz A. Geißler
Lob der Pause
Von der Vielfalt der Zeiten
und der Poesie des Augenblicks
oekom, September 2012
152 Seiten, 14.95 Euro
978-3-86581-320-6