Geschäft auf Kosten der jungen Generation
14. Juli 2017
Die Mobilfunktechnologie wurde durchgesetzt ohne Rücksicht auf die mit ihr einhergehenden gesundheitlichen Gefahren. Und ohne Rücksicht auf die psychosozialen Gefahren. Aufklärung ist notwendig, wird aber von den Behörden bisher kaum betrieben. Denn der Staat ist am Milliardengeschäft beteiligt. Und nun will er es auch noch auf die Schulen ausweiten.
Auf Schritt und Tritt zu beobachten: gebückte Jugendliche, die auf ihr Smartphone starren. 1998 gab es in der „Jugendstudie zur Mediennutzung“ noch kein Kapitel über Handys, 2011 besaßen 26 % der Jugendlichen ein Smartphone, 2016 dann schon 92 %. Sie nutzen es fast ununterbrochen – vom Aufstehen bis zum Schlafengehen. Nun stehen wir vor einer neuen Entwicklungsstufe: Das Smartphone und der Tablet-PC sollen zentrale Erziehungsmedien werden. Bundeswissenschaftsministerin Johanna Wanka stellt 5 Mrd. Euro bereit, um Schulen mit digitalen Endgeräten und WLAN auszustatten. Bei Bitkom-Firmen dürften die Sektkorken geknallt haben, bei vielen Pädagogen, Neurobiologen, Psychiatern, Psychologen und Erziehern herrscht Entsetzen.
Nicht in mehr Lehrer, nicht in kleinere Klassen, nicht in Schulpsychologen und Schulsozialarbeiter, nicht in Theater- und Kunst-AGs, nicht in intakte Schulgebäude wird investiert, sondern in technische Geräte. Die Bundesländer sollen pädagogische Konzepte für den Einsatz der digitalen Lerntechniken entwickeln, gemeinsame Standards für den Umgang mit dieser Technik festlegen und für eine entsprechende Aus- und Fortbildung der Lehrer sorgen. Tatsache ist aber: Alle Schulversuche mit digitalen Medien sind bisher gescheitert. Die Evaluationsberichte werden ignoriert. Denn es handelt sich hier gar nicht um ein pädagogisch begründetes Bildungskonzept, sondern um ein Vermarktungskonzept von Anbietern und um eine Anpassungsstrategie für neoliberale Gesellschaftsziele.
Wie Bildung in 20 Jahren aussehen soll, verriet in der Wochenzeitung „Die Zeit“ Prof. Fritz Breithaupt: „2036 werden Eltern schon für ihre 5 Jahre alten Kinder einen virtuellen Lehrer abonnieren. Die Stimme des Computers wird uns durchs Leben begleiten. Vom Kindergarten über Schule und Universität bis zur beruflichen Weiterbildung. Der Computer erkennt, was ein Schüler schon kann, wo er Nachholbedarf hat, wie er zum Lernen gekitzelt wird. Wir werden uns als lernende Menschen neu erfinden. Dabei wird der zu bewältigende Stoff vollkommen auf den Einzelnen zugeschnitten sein.“
Rolle der Bertelsmann Stiftung
Das Heilsversprechen, die angebliche Bildungskrise mithilfe einer „Digitalen Bildung“ zu lösen, kommt aus PR-Agenturen der Industrie, insbesondere der Bertelsmann Stiftung. Deren Chefs Jörg Dräger und Ralph Müller-Eiselt preisen ihre Software begeistert an: „Knewton durchleuchtet jeden, der das Lernprogramm nutzt. Die Software beobachtet und speichert minutiös, was, wie und in welchem Tempo ein Schüler lernt. Jede Reaktion des Nutzers, jeder Mausklick und jeder Tastenanschlag, jede richtige und jede falsche Antwort, jeder Seitenaufruf und jeder Abbruch wird erfasst. Jeden Tag sammeln wir Tausende von Datenpunkten von jedem Schüler. Diese Daten werden analysiert und zur Optimierung der persönlichen Lernwege genutzt. Komplexe Algorithmen schnüren individuelle Lernpakete für jeden einzelnen Schüler, deren Inhalt und Tempo sich fortlaufend anpassen, bei Bedarf im Minutentakt. Schon heute berechnet Knewton zuverlässig die Wahrscheinlichkeit richtiger und falscher Antworten sowie die Note, die ein Schüler am Ende eines Kurses erreichen wird. Eines Tages braucht es wohl keine Prüfungen mehr – der Computer weiß bereits, welches Ergebnis herauskommen wird.“
Dass Bertelsmann als einer der größten Händler mit digitalen Profilen der Bundesbürger die Ausbreitung solcher Überwachungsprozesse forciert, wundert nicht. Die von seinem Unternehmen „AZ Direkt“ angebotenen 30 Mio. Datensätze „ermöglichen potenziell weitgehende Aussagen über die enthaltenen Personen und deren Interessen, Vorlieben, Konsumverhalten, Lebenssituation, Lebensstil und ökonomische Situation“. Jeder Person sind 600 Profilinformationen zugeordnet.
Ziele der „Digitalen Bildungsreform“
Bei der sogenannten „Digitalen Bildungsreform“ geht es nicht darum, Medien und Programme als Hilfsmittel einzusetzen, also z. B. Word, Excel oder PowerPoint zu nutzen, wissenschaftliche Versuche auszuwerten, statistische Berechnungen durchzuführen oder Filme zu drehen und zu schneiden. Es geht um sehr viel mehr: um eine Neuausrichtung des Erziehungswesens, um die Übernahme der Erziehung selbst durch digitale Medien ab der Kita, um eine „Schule ohne Lehrer“. So wie bei der Industrie 4.0 Maschinen die Produktion selbstständig steuern sollen, sollen Computer und Algorithmen das Erziehungsgeschehen steuern. Die Konzepte dafür liegen bereits ausgearbeitet vor.
Die angebliche Individualisierung des Lernens ist eine Entmündigung und nicht zuletzt ein Programm zur Einsparung von Lehrern und Erziehern. Die Schüler sitzen vereinzelt am Bildschirm und bekommen Verhaltensmuster antrainiert, die industriellen Verwertungs- und Konsuminteressen nützen. Lehrer werden zu Lernbegleitern degradiert. Kreativität, Querdenken und Haltung entfallen, stattdessen stehen nur noch verwertbare „Kompetenzen“ im Mittelpunkt. „Das, was Breithaupt als Zukunft des Lernens propagiert, sind im Kern totalitäre Systeme zur psychischen und psychologischen Manipulation und lebenslangen Steuerung von Menschen“, kritisiert der Medienwissenschaftler Prof. Ralf Lankau. „Beschrieben wird das systematische Heranziehen von Sozial-Autisten, die auf eine Computerstimme hören und tun, was die Maschine sagt.“
Banale Dressur anstelle von Bildung
Es gibt keine „Digitale Bildung“ – ebenso wenig wie es eine „Digitale Psychotherapie“ gibt. Bildung hat eine soziale und eine geistige Komponente. Sie findet ihren Niederschlag in der Entwicklung des Gehirns, des Denkens und des Sozialverhaltens – und dort gibt es nichts Digitales. Der Begriff „Digitale Bildung“ ist verräterisch. Er ist geprägt vom Glauben an die totale Messbarkeit der Welt, an die Steuerbarkeit kognitiver und sozialer Prozesse. Es ist die mechanistische Vorstellung, alles sei programmierbar. Descartes’ „Ich denke, also bin ich“ mutiert zu „Meine Daten definieren, wer ich bin“. Das Daten-Ich wird zum lebenslangen Über-Ich. „Algorithmen nehmen uns immer öfter das Suchen, Denken und Entscheiden ab“, schreibt das renommierte Gottlieb Duttweiler Institut. „Sie analysieren die Datenspuren, die wir erzeugen, entschlüsseln Verhaltensmuster, messen Stimmungen und leiten daraus ab, was gut für uns ist und was nicht. Algorithmen werden eine Art digitaler Schutzengel, der uns durch den Alltag leitet und aufpasst, dass wir nicht vom guten Weg abkommen.“
Richtig müsste es für die Schulen heute heißen: lernen mithilfe analoger und digitaler Medien. Bildung kann nur als lebendiges zwischenmenschliches Geschehen stattfinden, mit dem Ziel, die Persönlichkeit in sozialer Verantwortung zu entfalten. Bildung basiert auf Beziehung, entwickelt sich im personalen Bezug von Lehrenden und Lernenden. Die Ersetzung zwischenmenschlicher Beziehungen durch Smartphones, Tablet-PCs und Lernprogramme verhindert Bildung, ist letztlich nur eine Art Dressur.
Der Begriff „Digitale Bildung” verschleiert, dass dahinter vor allem wirtschaftliche Verwertungs- und Konsuminteressen stehen. Alle Studienergebnisse zeigen, dass Laptop-Klassen „in den vergangenen zehn Jahren keine nennenswerten Verbesserungen der Schülerleistungen in den Bereichen Lesekompetenz, Mathematik oder Naturwissenschaften erzielen konnten. Die verstärkte Nutzung digitaler Medien führt offensichtlich nicht per se zu besseren Schülerleistungen. Vielmehr kommt es auf die Lehrperson an“ – so eine Studie für die Telekom aus dem Jahr 2015. Die Bundesregierung ist immun gegen Kritik aus der Wissenschaft und stellt Weichen für industrielle Schulkonzepte, die eine gesunde kognitive Entwicklung unserer Kinder massiv gefährden.
Gehirnforscher warnen vor Gefahren
Wankas 5-Milliarden-Beschluss macht den Weg frei für die tsunamihafte Ausbreitung von Tablet-PCs und Smartphones – obwohl die Gehirnforschung schon lange auf die Risiken hinweist. In der medizinischen Fachzeitschrift „Nervenheilkunde“ legte Prof. Manfred Spitzer eine aktuelle Auswertung des Forschungsstandes zu den Auswirkungen digitaler Endgeräte auf die kindliche Entwicklung vor: „Smartphones beeinträchtigen die Gehirnentwicklung, die Aufmerksamkeit, das Lernen und damit die Bildungskarriere. Unter dieser Perspektive kommt den negativen Auswirkungen des Smartphones auf die Entwicklung sozialer Fähigkeiten – von Empathie über Autonomie bis zur Demokratie – eine ganz besondere Bedeutung zu, auf die gerade in jüngster Zeit mit zunehmender Dringlichkeit hingewiesen wird. Es ist schade, dass sich die vielen ‚Experten‘ bislang mehr oder weniger weigern, die Gefahren digitaler Medien mithilfe dessen, was wir aus der Gehirnforschung wissen, zu untermauern.“
Wie die gesamte Natur einen evolutionären Bauplan hat, so liegt auch der frühkindlichen Entwicklung des Gehirns ein Bau- und Entwicklungsplan zugrunde, der immer gleichen Regeln folgt und sich in der Regel auch nicht ändern oder beschleunigen lässt, betont die Neurobiologin Prof. Gertraud Teuchert-Noodt. Es sind vor allem die körperlichen Bewegungen eines Kleinkindes, die bestimmen, wie die ersten Funktionsmodule des Klein- und Großhirns reifen. Denn das Kleinhirn und die im Gehirn nachgeschaltete motorische Großhirnrinde regen über vielfältige Bewegungen die Denkleistungen an. Dazu müssen kleine Kinder differenzierte körperliche Aktivitäten ausüben, müssen ihre Hände verwenden, um Bilder zu malen, Knetfiguren zu formen und zu basteln, müssen purzeln, klettern und herumtollen. Fehlt diese räumliche Bewegung, so fehlt dem Gehirn quasi der Baustoff für seinen Weiterbau. Die Bautätigkeit erlahmt.
Die Reduzierung sinnlicher Erfahrungen auf das Wischen und Tippen auf Smartphones und Tablets unterminiert die Vernetzung im Gehirn und damit die Entwicklung geistiger Fähigkeiten bei immer mehr Kindern. Durch die Digitalisierung werde uns die für Denkprozesse absolut notwendige neuronale Grundlage streitig gemacht, das sei das Ergebnis ihrer Forschungen, schreibt Teuchert-Noodt. Und nicht nur das: Falsche Baustoffe wie die Reizüberflutung können Sucht, Angst und lebenslang geminderte Lern- und Denkfähigkeiten hervorrufen.
Digitalisierung des Natürlichen
Was verändert sich bei Kindern und Jugendlichen, wenn sie die „analoge“ natürliche Welt nur noch bedingt erleben? Es entsteht Chaos auf der Baustelle des kindlichen Gehirns. Bildschirm-Medien – egal ob Smartphones, Tablet-PCs oder Fernsehgeräte – schränken das Bewegungsverhalten der Kinder ein, denn sie halten sie vom Spielen im Freien ab. Der „Jugendreport Natur 2016“ brachte zutage, dass Natur nicht mehr spielerisch entdeckt und erlebt, sondern im Schulunterricht und im eigenen Zimmer „angelernt“ wird. Das Natürliche wird digitalisiert. Erschreckend ist vor allem das rasante Tempo, mit dem die Entfremdung von der Natur fortschreitet. Ein immer größerer Teil der Kinder wird von der virtuellen Welt gefesselt.
Das reale schöpferische Spiel unter Kindern als ein entscheidendes Erziehungsmittel wird ersetzt durch das Spielen in einer virtuellen Bildschirmrealität. „Welche Chance hat der Umweltschutz, die Artenvielfalt, die Achtung vor der Biosphäre“, fragt der Journalist Thomas Pany, „wenn die Jüngsten nur noch an Entertainment-Medien kleben und nicht mehr auf Bäume steigen, wenn ihr Bewegungsradius seit den 1970er-Jahren um 90 % abgenommen hat? Wenn nur mehr ein gutes Drittel der Kinder zwischen 8 und 12 Jahren einmal in der Woche außer Haus spielt, nur mehr jeder Fünfte weiß, wie das ist, auf einen Baum zu klettern, und jedes zehnte Kind davon überzeugt ist, dass Kühe Winterschlaf halten?“
Die permanente Reizüberflutung durch Bilder und Videos blockiert die dynamische Phase der Gehirnreifung, weil das Gehirn vor dem 12. Lebensjahr den Anforderungen der digitalen Medien noch nicht gewachsen ist. Teuchert-Noodt spricht von „Hirnrhythmusstörungen“, die sich in Kopfschmerzen, Konzentrationsschwäche und Schlafstörungen manifestieren. Wenn immer mehr mediale Reize auf das Kind einströmen, erzeugt das aber auch Glücksgefühle – und die verlangen nach immer mehr. Sucht entsteht.
Medienmündigkeit statt -abhängigkeit!
Die DAK-Studie 2016 ergab, dass Konzentrationsschwäche, Verhaltensauffälligkeiten, Bewegungsdefizite und damit einhergehende gesundheitliche Probleme bei Grundschülern in den letzten 10 Jahren stark zugenommen haben. Ohne pädagogische Konzepte, die Schüler, Eltern und Lehrer einbeziehen, führt der Weg in die Medienabhängigkeit. Die Auswirkungen der Digitalisierung sind inzwischen so offensichtlich, dass eigentlich bereits eine Politik der Gefahrenabwehr eingeleitet werden müsste. Lehrer und Erzieher werden bei deren Bewältigung im Stich gelassen – und wegrationalisiert. Die 5-Milliarden-Spritze der Bundesregierung wird die Entwicklung aller negativen Auswirkungen beschleunigen.
Im Zwischenbericht der Plattform „Digitalisierung in Bildung und Wissenschaft“ steht, wer das Bildungsministerium berät: Akteure der IT-Wirtschaft. Von Bitkom und der Gesellschaft für Informatik (GI) über Microsoft bis SAP und Telekom sind alle vertreten. Nicht vertreten sind Kinderärzte, Pädagogen, Lernpsychologen oder Neurowissenschaftler, die sich mit den Folgen der Nutzung von Bildschirmmedien bei Kindern und Jugendlichen beschäftigen.
Bildungspolitik darf nicht zum Türöffner für industrielle Verwertungsinteressen werden, sondern sollte dagegen immunisieren. Medienkompetenz ist nicht eine Frage der technischen Fertigkeiten, sondern die Fähigkeit zur Abstraktion, zur Reflexion und Selbstreflexion, auch zur Entwicklung eines politischen Bewusstseins. Medienkompetenz bedeutet vor allem: Medienmündigkeit.
Dieser Artikel ist die gekürzte Fassung eines Festvortrags, den der Autor am 16.10.2016 zum elfjährigen Bestehen der Bürgerinitiative „InfoMobilFunk Neckartenzlingen“ hielt.
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Wie das digitale Leben unsere Gesundheit ruiniert
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