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Subtile Techniken zur ideologischen Disziplinierung

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„Die Wurzel des Spießertums liegt nicht im Konservatismus, sondern im Konformismus“, schreibt die junge Journalistin Pauline Voss am Anfang ihres Buchs „Generation Krokodilstränen“. In ihm analysiert sie die Machttechniken der linksidentitären Bewegung, zeigt die vielen Ungereimtheiten in deren Ideologie – und die Gefahren für Bürgerlichkeit und Demokratie.

von Günther Hartmann

 

Begriffe wie „LGBTQI“ oder „2SLGBTQI+“ sind keine aus einem gewissen Übereifer erfolgten Sprachunfälle einer sich um politische Korrektheit bemühenden Generation. Solche Begriffe gehören zu den subtilen Machttechniken der linksidentitären Bewegung. Wer solche Begriffe benutzt, der signalisiert damit, dass er sich deren Regeln nicht widersetzt, sondern unterwirft. Und er signalisiert damit auch eine geistig-moralische Überlegenheit gegenüber den vielen Unwissenden, die mit solchen sperrigen Codes wenig anfangen können.

Pauline Voss hinterfragt in ihrem Buch „Generation Krokodilstränen“ die Praktiken und die Theorien der linksidentitären Bewegung kritisch. Sie nutzt dabei den „Werkzeugkasten“ des französischen Philosophen Michel Foucault, der sich wie kein anderer mit dem Thema „Macht“ beschäftigte und deren verborgene Strukturen und Wirkungsweisen aufdeckte und analysierte. Die linksidentitäre Bewegung beruft sich oft auf ihn – zu unrecht, findet Voss, dreht den Spieß um und entlarvt mithilfe von Foucault deren autoritären und anti-aufklärerischen Charakter.

„Obwohl die Denkschule der Wokeness sich auf diese Analysen stützt, blenden ihre Verfechter den repressiven Charakter der Normierung aus, sobald es um ihre eigenen woken Normen geht“, schreibt Voss. „Die woken Aktivisten machen sich die Werkzeuge Foucaults in einer Weise zunutze, die seine Theorien entstellt: Anstatt seine Untersuchung totalitärer Machtmechanismen als Analyse zu verstehen, verwenden sie sie als Anleitung zu totalitärem Denken.“ Foucault wollte nicht das, was die linksidentitäre Bewegung in ihn reininterpretiert, sondern das Gegenteil. Er hätte ihre Diskurse nur gründlich analysiert, sich aber niemals ihren Regeln unterworfen.

 

Geschlechtsidentitäten

Untersucht hat Voss die für die linksidentitäre Bewegung typischen Themenfelder – so z. B. die Geschlechtsidentität, die immer stärker ins Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit gerückt wird. Facebook bietet inzwischen 60 Geschlechtsidentitäten an, Microsoft 40. Die Süddeutsche Zeitung veröffentliche 2023 eine ganze Printseite mit einem „LGBTQI-Glossar“, das Begriffe wie „greysexuell“, „asexuell“, „allosexuell“, „abrosexuell“, „pansexuell“, „omnisexuell“ und „demigender“ erläutert. Angeblich, um aufzuklären und Diskriminierung zu verhindern. Doch erinnert das Voss auch stark an die Akribie von Insektensammlern.

„Die sexuellen Archivare erkennen in jeder Gefühlsregung, in jeder sexuellen Laune eine separate Identität, die identifiziert und klassifiziert werden muss, um sich frei und geschützt entfalten zu können“, bemerkt sie dazu. „Auch wenn das sexuelle Herbarium den Eindruck erwecken mag, als manifestiere sich hier eine Zunahme der sexuellen Vielfalt: Vor allem belegt es eine Vervielfältigung der Kategorien. Wo Grenzen einst fließend waren, werden jetzt Trennlinien gezogen. Jede einzelne Minderheit muss erfasst, sichtbar und auf diese Weise für den sexuellen Diskurs verwertbar gemacht werden.“

Der sexuelle Diskurs ist zum Selbstzweck geworden. Damit er nicht zum Erliegen kommt, müssen ständig neue Geschlechtsidentitäten entdeckt, erfunden und ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt werden. In seiner Geschlechtsidentität sichtbar gemacht zu werden, hat jedoch weniger mit Selbstbestimmung und mehr mit Fremdbestimmung zu tun. Foucault würde das heftig kritisieren, denn sich in Kategorien pressen zu lassen, war für ihn ein Akt der Unterwerfung. Die linksidentitäre Bewegung verkauft ihre penible Einteilung jedoch als eine Art Befreiung. Und Voss vermutet, dass es ihr in Wirklichkeit vor allem um eins geht: um die Diskurshoheit und das damit einhergehende Gefühl von Macht.

„Die Einführung neuer sexueller Kategorien ermöglicht es nicht bloß, den sexuellen Diskurs am Laufen zu halten, sie hilft auch dabei, ihn zu ordnen und eine Hierarchie der Sprecher zu etablieren“, erläutert Voss. „Während die sprachlichen Regeln und Kategorien angeblich alle sexuellen Subjekte davor schützen sollen, ausgeschlossen zu werden, schließen sie aufgrund ihrer Komplexität absichtlich den Großteil der Bevölkerung aus. Begriffe wie ‚greysexuell‘ oder ‚demiromatisch‘ dienen nicht der Verständigung. Am sexuellen Diskurs teilnehmen zu können, ist aufgrund des nötigen Vorwissens ein Zeichen von intellektuellem Prestige. Das Ziel ist die Errichtung eines Machtgefälles.“

Auf diese Spielchen sollten wir uns nicht einlassen, aber auch nicht ins Gegenteil verfallen, meint Voss: „Man kann sich freuen, dass die Pathologisierung sexueller Minderheiten weitgehend überwunden ist, ohne deshalb auf offener Straße zum Zuschauer von Fetischritualen werden zu wollen. Man kann die gesetzliche Gleichberechtigung von Homosexuellen begrüßen und trotzdem die Heteronormativität nicht als Grundübel unserer Zeit ansehen – schließlich sind es die heterosexuellen Beziehungen, aus denen Nachwuchs hervorgeht.“

 

Krokodilstränen

Als „Generation Krokodilstränen“ bezeichnet Voss ihre eigene, vom linksidentitären Gedankengut geprägte Generation. Denn Krokodilstränen gehören zu deren Machtkonzept. In den Diskursen spielt der Schmerz eine zentrale Rolle. Der ist aber oft nicht echt, sondern simuliert, vermutet Voss. In einem „Wettbewerb des Klagens“ über sogenannte Mikroaggressionen geht es meist um Dinge, die kein wirkliches Problem darstellen und auch ganz anders aufgefasst werden können. Es wird eine Diskriminierung behauptet, um sich dann mit großem Pathos als Verteidiger der angeblich Diskriminierten zu inszenieren. Aber warum? Um lustvoll Macht ausüben zu können, ohne dies sich und anderen eingestehen zu müssen?

 

Fortschrittswahn

Voss entdeckt im Denken und Tun der linksidentitären Bewegung sehr viel Seltsames: „Was die einflussreichen Strömungen der vergangenen Jahrhunderte vereinte, ist, dass sie die bleibenden Fragen anerkannten. Die Denkschule der Wokeness hingegen ringt nicht um Antworten, sondern verleugnet einfach die Fragen. Indem sie die natürlichen Bedingungen des menschlichen Lebens als soziale Konstrukte ausgibt, als ein Produkt der kollektiven Fantasie. Wenn über Jahrhunderte die falschen Fragen gestellt wurden, dann müssen auch alle bislang gegebenen Antworten falsch sein. Die Idee der sozialen Konstruktion führt zu einer unbegrenzten Deutungshoheit.“

In der linksidentitäre Bewegung sieht Voss ein radikal anti-konservatives Projekt: „Indem die conditio humana und die aus ihr resultierenden Fragen verleugnet werden, verlieren jegliche Traditionen ihre Legitimation. Galt einst das Altbewährte als Standard, an dem sich jede Neuerung messen lassen musste, so muss sich heute das Alte bewähren, während das Neue seine Legitimation allein aus seiner Neuartigkeit bezieht. Das Regime der bedingungslosen Progressivität ist, entgegen der eigenen Behauptung, keineswegs demokratischer als das Regime der Tradition. Es setzt vielmehr Relativismus und Anarchie an die Stelle vernunftbasierter gemeinsamer Lösungen.“

 

Realitätsverlust

Der Machtbegriff dieser Bewegung ist paradox – und darin liegt ein Problem: Während in einer Demokratie Menschen sich offen um Macht bewerben, wenn sie von einer Idee überzeugt sind und in der Lage sind, andere Menschen davon zu überzeugen, sehen die Linksidentitären in Macht grundsätzlich etwas Negatives und lehnen sie entschieden ab. Gleichzeitig üben sie aber selbst sehr viel Macht aus – ohne sich dies einzugestehen. Ihre Macht dient aber allein dazu, etwas zu verhindern, nicht aber dazu, etwas Positives zu erschaffen. Sie haben keine politische Vision für die gesamte Gesellschaft, sondern nur das Ziel, die Diskriminierung gesellschaftlicher Gruppierungen zu verhindern.

Da eine große politische Vision, die viele Menschen begeistern könnte, fehlt sowie die dahintersteckende Philosophie und Argumentation widersprüchlich und fragwürdig sind, wird umso aggressiver agiert – und gegen Andersdenkende vorgegangen. Maximale Vielfalt wird zwar bei den Geschlechtsidentitäten gefordert, beim Denken jedoch Einfalt. Wer sich nicht im vorgegebenen Meinungskorridor bewegt und unkonventionelle oder kritische Gedanken äußert, wird mit perfiden Mitteln zum Schweigen gebracht – was Voss an prominenten Beispielen zeigt. Bei Verstößen erfolgt ein Shitstorm und es wird öffentliche Selbstgeißelung eingefordert. Für die Betroffenen ist das äußerst unangenehm, weshalb eine freiwillige Selbstzensur immer mehr zu Regel wird.

Gegen diese Praxis gibt es bislang nur wenig Widerstand – dabei beschädigt sie unsere Demokratie massiv. Denn eine Demokratie lebt von Meinungsvielfalt und von einem offenen Wettstreit der Argumente. Da die linksidentitäre Bewegung kaum inhaltliche, sondern vornehmlich formale Ziele verfolgt und sich auf die Kontrolle des Diskurses und die Einhaltung der von ihr propagierten Diskursregeln fokussiert, werden im politischen Alltag viele reale Probleme erst gar nicht mehr angesprochen, geschweige denn angegangen und gelöst. Das aber nützt dann vor allem den Rechtsextremisten. Der rasante Absturz der Linken und Aufstieg der AfD zeigen dies deutlich.

 

Pauline Voss
Generation Krokodilstränen
Über die Machttechniken der Wokeness
Europa, März 2024
200 Seiten, 22.00 Euro
978-3-95890-613-6


Onlinetipps

Pauline Voss
Wokeness gilt als progressiv
Neue Züricher Zeitung, 17.04.2024
www.t1p.de/pemtx

Interview mit Pauline Voss
Viele Journalisten „zu wenig machtkritisch und sehr regierungsstützend“
Berliner Zeitung, 09.04.2024
www.t1p.de/2mnqa

Udo Brandes
Die Machttechniken der modernen Spießer
NachDenkSeiten, 31.03.2024
www.nachdenkseiten.de/?p=113124


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